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Seine Schriften zur Wissenschaftslehre. Max WeberЧитать онлайн книгу.

Seine Schriften zur Wissenschaftslehre - Max Weber


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Fall54 und zeigt sich in der Tatsache des Aufsteigens, Alterns und Untergangs der Kulturnationen –, nach Roscher ein Prozeß, der trotz scheinbar verschiedener Formen so ausnahmslos bei allen Nationen sich einstellt, wie bei den physischen Individuen. Als ein Teil dieses Lebensprozesses der Völker sind die wirtschaftlichen Erscheinungen »physiologisch« zu begreifen. Die Völker sind für Roscher – wie Hintze55 es ganz zutreffend ausdrückt – »biologische Gattungswesen«. Vor dem Forum der Wissenschaft ist mithin – Roscher hat das auch ausdrücklich ausgesprochen – die Lebensentwickelung der Völker prinzipiell immer die gleiche, und trotz des Anscheins des Gegenteils ereignet sich in Wahrheit »nichts Neues« unter der Sonne56, sondern immer nur das Alte mit »zufälligen« und deshalb wissenschaftlich gleichgültigen Zutaten: eine offenbar spezifisch naturwissenschaftliche 57 Betrachtungsweise.

      Dieser typische Lebensgang aller Kulturvölker muß natürlich in typischen Kulturstufen zum Ausdruck kommen. Diese Konsequenz wird von Roscher in der Tat schon im »Thukydides« (Kap. IV) durchgeführt. Nach dem »Hauptgrundsatz aller historischen Kunst, daß man in jedem Werke die ganze Menschheit wiederfinden müsse«, ist es die Aufgabe des Historikers – Roscher denkt an der betreffenden Stelle zunächst an den Literarhistoriker –, die Gesamtliteratur des Altertums mit derjenigen der romanischen und germanischen Völker zum Zwecke der Ermittelung der Entwickelungsgesetze aller Literaturen überhaupt zu vergleichen. Diese Vergleichung ergibt aber, wenn sie weiterhin auf die Entwickelung der Kunst und Wissenschaft, der Weltanschauung und des gesellschaftlichen Lebens ausgedehnt wird, die Aufeinanderfolge von in sich wesensgleichen Stufen auf allen Kulturgebieten. Roscher erinnert gelegentlich daran, daß man selbst in den Weinen der verschiedenen Länder den Volkscharakter habe schmecken wollen. Die metaphysische Volksseele, welche sich darin äußert, wird einerseits als etwas Konstantes, sich selbst Gleichbleibendes vorgestellt, aus welchem die sämtlichen »Charaktereigenschaften« des konkreten Volkes emanieren58, weil sie eben ganz so wie die Seele des Individuums direkte Schöpfung Gottes ist. Andererseits gilt sie als nach Analogie der menschlichen Lebensalter einem in allen wesentlichen Punkten bei allen Völkern und auf allen einzelnen Gebieten gleichen Entwickelungsprozeß unterstehend. Typische, konventionelle und individualistische Epochen lösen sich in Poesie, Philosophie und Geschichtsschreibung, ja in Kunst und Wissenschaft überhaupt in festbestimmtem Kreislauf ab, der stets in dem unvermeidlichen »Verfall« endet. Roscher führt dies an Beispielen aus der antiken, mittelalterlichen und modernen Literatur bis in das 18. Jahrhundert hinein durch59 und interpretiert seine Theorie, daß die Geschichte deshalb Lehrmeisterin sein könne, weil die Zukunft »nach menschlicher Weise der Vergangenheit ähnlich wiederzukehren« pflege, in recht charakteristischer Weise in die bekannte Aeußerung des Thukydides über den Zweck seines Werkes (I, 22) hinein. Seine eigene Ansicht vom Wert der geschichtlichen Erkenntnis60: – Befreiung von Menschenvergötterung und Menschenhaß durch Erkenntnis des »Dauerhaften« in der Flucht des Ephemeren – zeigt eine leicht spinozistische Färbung, und einzelne Aeußerungen klingen beinahe fatalistisch61.

      Auf das Gebiet, welches uns hier interessiert, übertrug Roscher diese Theorie62 in dem Aufsatz über die Nationalökonomie und das klassische Altertum (1849). Die Wirtschaft kann sich der allgemeinen Erscheinung der typischen Stufenfolge natürlich nicht entziehen. Roscher unterscheidet als typische Wirtschaftsstufen drei, je nachdem in der Güterproduktion von den drei typischen Faktoren derselben die »Natur« oder die »Arbeit« oder das »Kapital« vorherrscht, und glaubt, daß »bei jedem vollständig entwickelten Volke« drei dementsprechende Perioden sich nachweisen lassen müssen.

      Unserer heutigen am Marxismus orientierten Betrachtungsweise würde es nun ganz selbstverständlich sein, die Lebensentwickelung des Volkes als durch diese typischen Wirtschaftsstufen bedingt anzusehen und die Tödlichkeit der Kulturentwickelung für die Völker – diese These Roschers einmal als bewiesen vorausgesetzt – etwa als Folge gewisser mit der Herrschaft des »Kapitals« unvermeidlich verknüpfter Folgen für das staatliche und persönliche Leben aufzuzeigen. Roscher hat an diese Möglichkeit so wenig gedacht, daß er jene Theorie von den typischen Wirtschaftsstufen63 in seinem »System« bei den grundlegenden Erörterungen lediglich als ein mögliches Klassifikationsprinzip erwähnt (§28), ohne sie weiterhin der Betrachtung zugrunde zu legen. Vielmehr ist er der Meinung, daß das Problem des zugrundeliegenden Lebensprozesses selbst, also die Frage nach dem Grunde des Alterns und Sterbens der Völker ebensowenig lösbar sei, wie sich ein naturgesetzlicher Grund für die – trotzdem nicht bezweifelte – ausnahmslose Notwendigkeit des Todes beim Menschen angeben lasse. Der Tod folgt für Roscher aus dem »Wesen« des Endlichen64, sein empirisch ausnahmsloser Eintritt ist eine Tatsache, welche wohl einer metaphysischen Deutung, aber keiner exakten kausalen Erklärung zugänglich ist65 – mit Du Bois-Reymond zu sprechen: ein »Welträtsel«.

      Das logische Problem, wie nun zwischen diesem zugrundegelegten biologischen Entwickelungsschema und der in Parallelismenbildung sich bewegenden, vom Einzelnen ausgehenden empirischen Forschung eine feste Beziehung herzustellen sei, hätte nun Roscher naturgemäß, auch wenn sein geschichtsphilosophischer Standpunkt ein anderer gewesen wäre, schwerlich lösen können. Die logische Natur des Satzes vom notwendigen Altern und Sterben der Völker ist eben eine andere als die eines auf Abstraktion ruhenden Bewegungsgesetzes oder eines anschaulich evidenten mathematischen Axioms. Abstrakt vollzogen – soweit dies überhaupt möglich66 wäre –, würde jener Satz ja gänzlich inhaltsleer sein und könnte Roscher eben die Dienste nicht leisten, welche er von ihm erwartet. Denn die Zurückführung auf die Altersstufen der Völker soll ja doch offenbar nach seiner Absicht nicht eine Subsumtion der wirtschaftlichen Vorgänge unter einen generellen Begriff als Spezialfall , sondern ein kausales Eingliedern ihres Ablaufs in einen universellen Zusammenhang von Geschehnissen67 als deren Bestandteil bedeuten. Der Begriff des »Alterns« und »Sterbens« der Völker müßte mithin und selbstverständlich als der inhaltlich umfassendere Begriff gedacht werden, das »Altern« und »Sterben« als ein Vorgang von unendlicher Komplexität, dessen nicht nur empirische Regelmäßigkeit, sondern gesetzliche Notwendigkeit (wie Roscher sie annimmt) sich axiomatisch nur einem intuitiven Erkennen enthüllen würde. Für die Beziehungen des Gesamtvorgangs zu den wirtschaftlichen Teilvorgängen wären für die wissenschaftliche Betrachtung zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder man behandelt die Erklärung des (nach Roschers Ansicht) stets sich wiederholenden komplexen Vorgangs aus gewissen, stets sich wiederholenden Einzelvorgängen als Zweck, dem man sich auf dem Wege des Nachweises der gesetzlichen Notwendigkeit in der Aufeinanderfolge und dem Zusammenhang der Teilvorgänge zu nähern sucht: – der Gesamtvorgang, den der umfassendere Begriff bezeichnet, wird alsdann zur Resultante aus den einzelnen Teilvorgängen; – das hat Roscher nicht versucht, da er vielmehr den Gesamtvorgang (Altern und Sterben) als den Grund ansah68. Wir werden noch sehen, daß er entsprechend seiner Stellung zum diskursiven Erkennen69 die umgekehrte Betrachtungsweise auch in der Nationalökonomie für nicht nur faktisch, sondern prinzipiell unmöglich hielt. Oder man stellt sich auf den Standpunkt des Emanatismus und konstruiert die empirische Wirklichkeit als Ausfluß von »Ideen«, aus denen die Einzelvorgänge begrifflich als notwendig ableitbar sein und deren oberste sich in dem komplexen Gesamtvorgang anschaulich erkennbar manifestieren müßte. Das aber hat Roscher ebenfalls (wie wir sahen) nicht getan, einmal weil er den Inhalt einer solchen »Idee«, die ihm göttliche Idee hätte sein müssen, als jenseits der Grenzen unseres Erkennens liegend ansah, und dann, weil ihn die Gewissenhaftigkeit des historischen Forschers vor dem Glauben an die Deduzierbarkeit der Wirklichkeit aus Begriffen bewahrte.

      Aber freilich bleibt so sein methodischer Standpunkt gegenüber dem von ihm vertretenen Grundgedanken der geschichtlichen Entwicklungsgesetze widerspruchsvoll70. Seine umfassende historische Bildung äußert sich zwar in der Herbeischaffung und geistvollen Deutung eines gewaltigen Materials geschichtlicher Tatsachen, aber – das hat schon Knies scharf hervorgehoben – von einer konsequent durchgeführten Methode kann selbst für die von Roscher so stark in ihrer Bedeutung betonte Betrachtung des historischen Nacheinander der volkswirtschaftlichen Institutionen nicht gesprochen werden.


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