An unsere Freunde. Unsichtbares KomiteeЧитать онлайн книгу.
Art sein, ihn auf die Erde zurückzuholen, wenn er sich nicht wie immer taub stellte.
3. Nicht weniger als 300 aus 18 Ländern herbeigeströmte Journalisten fielen am 21. Dezember 2012 in das kleine Dorf Bugarach in der Aude ein. Keiner der bislang bekannten Maya-Kalender hatte je für dieses Datum ein Ende der Zeiten angekündigt. Das Gerücht, dieses Dorf stünde irgendwie im Zusammenhang mit dieser Prophezeiung, die es gar nicht gibt, war ein offenkundiger Hoax. Dennoch schickten TV-Sender aus aller Welt eine Armada an Reportern dorthin. Man war neugierig, ob es wirklich Leute gibt, die an das Ende der Welt glauben – wir, denen es nicht einmal mehr gelingt, an die Welt zu glauben, und die wir größte Mühe haben, an unsere eigenen Lieben zu glauben. In Bugarach war an diesem Tag niemand, niemand anders als die große Schar Offizianten des Spektakels. Die Journalisten waren da, um sich selbst zum Thema zu machen, ihr gegenstandsloses Warten, ihre Langeweile und die Tatsache, dass sich nichts ereignete. In die eigene Falle getappt, boten sie ein Bild vom wirklichen Ende der Welt: Journalisten, Warten, Ausstand der Ereignisse.
Der Wahn der Apokalypse, der Hunger nach Armageddon, der die Epoche durchzieht, ist nicht zu unterschätzen. Ihre existenzielle Pornografie besteht darin, Dokumentarsendungen zu glotzen mit computergenerierten Bildern von Heuschreckenschwärmen, die im Jahr 2075 über die Weinberge von Bordeaux hereinfallen, oder Horden von »Klimaflüchtlingen«, die die südlichen Strände Europas stürmen werden – und deren Dezimierung sich Frontex schon heute zum Ziel gemacht hat. Nichts ist älter als das Ende der Welt. Die apokalyptische Leidenschaft erfreute sich bei den Machtlosen schon seit der frühsten Antike großer Beliebtheit. Neu ist, dass wir in einer Epoche leben, in der die Apokalypse vom Kapital vollständig vereinnahmt und in seinen Dienst gestellt wurde. Es ist der Ausblick auf die Katastrophe, von dem aus wir gegenwärtig regiert werden. Wenn nun aber etwas zwangsläufig unvollendet bleiben muss, dann die Vorhersage der Apokalypse, ob in Bezug auf Umwelt, Klima, Terrorismus oder Kernenergie. Sie wird nur angesprochen, um nach den Mitteln zu rufen, um sie abzuwenden, das heißt meist nach der Notwendigkeit der Regierung. Keine Organisation, ob politisch oder religiös, hat je ihr Scheitern eingeräumt, weil ihre Prophezeiungen nicht eingetreten sind. Das Ziel der Prophezeiungen ist nämlich nie, in Zukunft recht zu haben, sondern auf die Gegenwart einzuwirken: um im Hier und Jetzt Warten, Passivität, Unterwerfung durchzusetzen.
Nicht nur steht keine andere Katastrophe bevor als die, die bereits da ist, es ist auch offenkundig, dass die meisten tatsächlichen Desaster einen Ausweg aus unserem täglichen Desaster weisen. Unzählige Beispiele zeugen davon, welche Erleichterung die existenzielle Apokalypse durch die reale Katastrophe erfährt: das Erdbeben, das 1906 San Francisco erschütterte, der Wirbelsturm Sandy, der 2012 Teile New Yorks verwüstete. Normalerweise geht man davon aus, dass im Ernstfall die tiefsitzende, ewige Rohheit zwischenmenschlicher Beziehungen zutage kommt. Man hofft, mit jedem verheerenden Erdbeben, mit jedem ökonomischen Crash und jedem »Terrorangriff« bestätige sich das alte Hirngespinst vom natürlichen Zustand der Dinge und den daraus abgeleiteten unkontrollierbaren Ausschreitungen. Man möchte, dass, sollte das dünne Bollwerk der Zivilisation nachgeben, der »verächtliche Bodensatz des Menschen«, der Pascal keine Ruhe ließ, zum Vorschein kommt, die schlimmen Leidenschaften, die »menschliche Natur«, missgünstig, brutal, blind und hassenswert, die den Machthabenden mindestens seit Thukydides als Argument dienen – ein Trugbild, das durch die meisten bekannten Katastrophen der Geschichte bedauerlicherweise widerlegt wurde.
Die Auslöschung der Zivilisation erfolgt normalerweise nicht in Form eines chaotischen Krieges jeder gegen jeden. Dieser feindselige Diskurs dient in Situationen schwerer Katastrophen nur dazu, zu rechtfertigen, dass der Verteidigung des Eigentums gegen Plünderer durch Polizei, Armee oder notfalls Bürgerwehren, die sich bei dieser Gelegenheit bilden, Vorrang eingeräumt wird. Er kann auch dazu dienen, Veruntreuungen durch die Behörden selbst zu decken, etwa im Fall des italienischen Zivilschutzes nach dem Erdbeben von L’Aquila. Stattdessen eröffnet der als solcher akzeptierte Zerfall dieser Welt selbst inmitten des »Notstands« Wege für eine andere Art zu leben. So am Beispiel der Einwohner Mexikos 1985, die inmitten der Trümmer ihrer von einem verheerenden Erdbeben heimgesuchten Stadt in einem Zug den revolutionären Karneval und die Figur des Superhelden im Dienste des Volkes in Form des legendären Catchers Superbarrio neu erfanden. In der Folge der euphorischen Wiederaneignung ihrer städtischen Existenz in deren banalster Alltäglichkeit, stellten sie einen Zusammenhang her zwischen dem Zusammenbruch der Gebäude und dem Zusammenbruch des politischen Systems, entzogen die Stadt so gut wie möglich dem Einfluss der Regierung und bauten ihre zerstörten Häuser wieder auf. Nichts anderes meinte ein begeisterter Bewohner von Halifax, als er 2003 nach dem Wirbelsturm erklärte: »Eines Morgens wachten wir auf, und alles war anders. Es gab keinen Strom mehr, und die Läden waren geschlossen, niemand hatte Zugang zu den Medien. Deshalb fanden sich alle auf der Straße ein, um sich auszutauschen und zu berichten. Nicht wirklich ein Straßenfest, aber alle gleichzeitig draußen – eine Art von Glücksgefühl, all die Menschen zu sehen, obwohl wir uns nicht kannten.« Nicht anders die Minigemeinschaften, die in New Orleans in den Tagen nach Katrina spontan entstanden, nachdem sie die Geringschätzung durch die öffentlichen Behörden und die Paranoia der Sicherheitsdienste erlebt hatten; sie organisierten sich täglich, um für Nahrung, Pflege, Bekleidung zu sorgen, auch wenn dabei einige Läden geplündert wurden.
Die Idee der Revolution neu als etwas zu denken, das in der Lage ist, den Lauf der Katastrophe zu durchbrechen, bedeutet also zuallererst, sie von all dem zu reinigen, was sie bislang an Apokalyptischem beinhaltete. Es bedeutet zu sehen, dass sich die marxistische Eschatologie nur in diesem vom imperialen Gründungsanspruch der Vereinigten Staaten von Amerika unterscheidet, den man immer noch auf jeder Dollarnote aufgedruckt findet: »Annuit coeptis. Novus ordo seclorum.« Sozialisten, Liberale, Saint-Simonisten, Russen und Amerikaner des Kalten Kriegs, alle haben stets denselben nervösen Anspruch auf Errichtung einer sterilen Ära des Friedens und des Überflusses geäußert, in der nichts mehr zu befürchten sei, die Widersprüche endlich aufgelöst und das Negative überwunden wären. Durch Wissenschaft und Industrie eine prosperierende Gesellschaft zu errichten, die vollständig automatisiert und befriedet sei. So etwas wie ein Paradies auf Erden, organisiert nach dem Modell eines psychiatrischen Krankenhauses oder Sanatoriums. Ein Ideal, das nur von zutiefst kranken Wesen herrühren kann, die nicht einmal mehr nach Vergebung streben. »Heaven is a place where nothing ever happens«, heißt es in einem Lied.
Die ganze Originalität und der ganze Skandal des Marxismus war zu behaupten, es müsse zuerst die wirtschaftliche Apokalypse kommen, um das Millennium zu erreichen, während die anderen dies für überflüssig hielten. Wir werden weder auf das Millennium noch auf die Apokalypse warten. Es wird nie Frieden auf Erden geben. Der einzig wahre Frieden besteht darin, die Idee des Friedens aufzugeben. Angesichts der Katastrophe des Westens verfällt die Linke im Allgemeinen in eine klagende, anprangernde und folglich machtlose Haltung, die sie gerade in den Augen derer, die zu verteidigen sie vorgibt, hassenswert macht. Der Ausnahmezustand, in dem wir leben, ist nicht anzuprangern, sondern gegen die Macht selbst zu kehren. Wir sind nun unsererseits von jeder Rücksichtnahme auf das Gesetz befreit – proportional zur Straflosigkeit, die wir uns selbst zugestehen, zu den Kräfteverhältnissen, die wir schaffen. Wir sind absolut frei für jede Entscheidung, jede Machenschaft, sofern sie auf einem klugen Verständnis der Lage beruht. Für uns gibt es nur noch einen historischen Kampfschauplatz und die Kräfte, die sich darauf bewegen. Unser Handlungsspielraum ist unendlich. Das historische Leben streckt die Hände nach uns aus. Unzählige Gründe sprechen dafür, sich ihm zu verweigern, aber alle sind neurotisch bedingt. Ein ehemaliger Beamter der Vereinten Nationen kommt zur hellsichtigen Schlussfolgerung: »It’s not the end, not even close. If you can fight, fight. Help each other. The war has just begun.« »Es ist nicht das Ende, weit gefehlt. Wenn du kämpfen kannst, dann kämpfe. Helft euch gegenseitig. Der Krieg hat gerade erst begonnen.«
Oaxaca, 2006
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