Dezemberkids. Kaouther AdimiЧитать онлайн книгу.
weiter hinten und noch viel weniger auf die Jugendlichen, die rauchend unter dem Vordach eines Hauses sassen, nur ein paar Meter von ihnen entfernt, doch die sie kaum wahrnahmen.
»In Wahrheit« – nüchtern gab Saïd es zu – »waren wir leichtsinnig. Wir haben uns reinlegen lassen wie blutige Anfänger.«
»Das kommt aber selten vor, dass du so wenig wachsam bist«, wunderte sich die Ehefrau.
»Ja, das soll mir eine Lehre sein, Pack versteckt sich überall, selbst bei den Kindern hoher Offiziere.«
Wenn die Generäle sich so in Sicherheit gewiegt hatten, dann auch, weil die meisten Häuser rings um die Freifläche ja im Besitz von Armeeangehörigen sind. Hier leben sie, zusammen mit ihren Kindern und Kindeskindern. Und hat einer mal sein Haus verkauft, dann an Ärzte, Architekten, Firmenchefs.
»Wir dachten, dass wir hier ganz unter unseresgleichen sind«, erklärte Athman seinen Kindern, »das soll uns eine Lehre sein. Traut niemandem, selbst dem nicht, der euch ähnlich ist. Saïd und ich hatten gedacht, dass wir dort in einem absolut sicheren Viertel sind.«
Beide Generäle waren ehrlich überrascht von dieser Attacke, gegen die sie so gar nicht gewappnet gewesen waren. Vielleicht hatte genau das sie am meisten schockiert. Was für ein Glück, dass der Chauffeur gleich den Sicherheitschef erreicht hatte und die Gendarmen so schnell vor Ort waren, aber den Jugendlichen blieb trotzdem noch genug Zeit, über sie herzufallen. Der Griff nach der Waffe war purer Selbstschutzreflex, aber rückblickend hat das die Jungs natürlich nur noch mehr aufgebracht.
In den rund fünfzig Jahren, die sie im Dienst ihres Landes verbracht hatten, hatten beide Generäle Zeit genug gehabt, sich eine grosse Zahl von Feinden zu machen, die sämtlich polizeilich erfasst sind, sämtlich abgehört, überwacht, beschattet werden. Unter ihnen politische Gegner, ganz klar, dazu ein paar Militärs, Minister, Kleinkriminelle, Journalisten, Nachbarn und sogar Mitglieder der eigenen Familie oder jener ihrer Frau.
Saïd und Athman empfangen regelmässig Berichte über ihre Feinde und die Lage im Land. Überzeugt, in Gefahr zu schweben, verwenden sie nur selten ihr verschlüsseltes Telefon, lassen Ermittlungen anstellen über jede Person, die Kontakt zu ihren Kindern hat, und kontrollieren regelmässig, ob ein Freund, ein Familienmitglied oder ein Hausangestellter ihnen nicht vielleicht eine Wanze ins Haus geschmuggelt hat. Müssen sie miteinander oder mit ihrer Frau über Geld, Transaktionen, Geschäfte oder ihre Auslandskonten reden, dann gehen sie in den Garten und verständigen sich im Flüsterton.
Nur die wenigsten wissen, wer General Saïd wirklich ist. Geburtstag, Geburtsort, Studium Fehlanzeige, man weiss einfach gar nichts über ihn. Selbst die engsten Kollegen wissen so gut wie nichts über diesen kleinen Mann, der ein Meister der Geheimhaltung ist. Und so weiss auch kein Mensch, dessen ist er sich sicher, dass er als Kind davon träumte, Tänzer zu werden, dass er null religiöse Prinzipien besitzt und ein Liebhaber der russischen Literatur ist, die er während seiner von der algerischen Armee finanzierten Ausbildung an der Seekriegsakademie in Leningrad kennenlernte, wo man ihm übrigens den Spitznamen »Knirps« verpasste.
General Saïd war einer der Drahtzieher der Säuberungen in den Neunzigern. Er hat verbissen jede Form von Islamismus bekämpft und darüber gewacht, dass alle Studenten mit Bart beschattet, belauscht, vorgeladen und durch die Mangel knallharter Verhöre gedreht wurden. Nie kamen ihm Zweifel an Sinn und Zweck der ihm von weiter oben anvertrauten Mission: den islamistischen Bewegungen im Land den Garaus zu machen.
Er ist ein überaus eleganter, immer gutgekleideter Mann. Seine Massanzüge lässt er in Italien schneidern, seine drei Kinder leben dank staatlicher Stipendien in Frankreich.
Es wird gemunkelt, dass General Saïd Anteile an mehreren Unternehmen des Landes hält. Dass in puncto Business in Algerien kein Weg an ihm vorbeiführt und dass jeder in der Entourage der Minister und des Präsidenten ihm auf die eine oder andere Art verbunden ist. Doch das am besten gehütete Geheimnis betrifft seinen Gesundheitszustand: Seit fast einem Jahr nagt der Krebs an ihm, und er erwägt den baldigen Wechsel in den Ruhestand. Dann wird er seine grosse Dienstvilla für den Nachfolger räumen müssen.
Und General Athman hat früher mal in England Jura studiert, finanziert von der algerischen Armee. Er ist eine stattliche Erscheinung, jemand, der seinen Charme mit Erfolg einzusetzen weiss, das genaue Gegenteil von seinem Freund, General Saïd.
Was keinem klar ist: Athman hat nie ein Diplom gemacht. Er hat seine Universitätsjahre in den Londoner Pubs verbracht und damit, Mary, einer jungen Engländerin, nachzustellen, die ihn von heute auf morgen sitzenliess. Mitte der siebziger Jahre kam er nach Algerien zurück, und die Armee nahm ihn mit offenen Armen auf. Er zeigte ein gefälschtes Diplom vor und bekam einen Posten im juristischen Dienst. Er heiratete ein Mädchen aus seinem Dorf und hatte Mary und London im Nu vergessen. Seinem Bruder gab er den Rat, ein Tiefbauunternehmen zu gründen, und schanzte ihm dank seiner Kontakte die grössten Baustellen des Landes zu.
Heute nennt er eine Wohnung in Genf sein Eigen und ein Hotel in Spanien, das auf den Namen seiner Frau eingetragen ist, dazu Gemälde grosser Meister, die er in seiner Pariser Wohnung versteckt, die auf den Namen eines seiner Kinder eingetragen ist, und zwei gepanzerte Limousinen. Dank seinem Schwager, dem Zolldirektor, kann er problemlos alles, was er will, über die Grenzen bringen und kassiert regelmässig die beschlagnahmte Ware ein.
Seine fünf Kinder wohnen bei ihm, selbst wenn die Ältesten, seine drei Söhne, schon verheiratet sind und jeder ein eigenes Kind hat. Athman legt Wert darauf, dass die ganze Sippe zusammenbleibt. Und niemand beklagt sich darüber.
Einmal im Monat erhält der General Besuch von einer Seherin, die den Faden der Zeit vor ihm entrollt. Sie nennt ihm die Daten, an denen er aufpassen muss, die Tage, an denen er sorglos aus dem Haus gehen kann. Auch kontrolliert sie, ob sein Haus nicht etwa verhext worden ist, ob auch niemand hinter einem Möbelstück eine Kleinigkeit, wie ein Amulett oder einen Fetzen Papier mit einer magischen Formel, hat fallen lassen, die Unglück über den General und seine Familie bringen könnte.
Bei ihrem letzten Besuch hatte sie ihn gewarnt: »Ich sehe Schatten, eine wachsende Menschenmenge, eine Bedrohung, die zwar klein ist, aber sich ausweitet … Ich sehe Feinde, viele Feinde, deren Existenz Sie noch nicht einmal ahnen. Ich sehe auch etwas Rotes, ein sehr intensives Rot, das ich nicht identifizieren kann, aber es ist kein schönes Rot, also nehmen Sie sich in Acht, Herr General!« Er hat ihr gedankt, sie zur Tür begleitet und ihr einen fetten Schein in die Hand gedrückt. In jener Nacht hat er sehr schlecht geschlafen, aber am Morgen befand er, er sei ja bestens geschützt und müsse jetzt nicht in Panik verfallen.
Saïd und Athman lernten sich in den achtziger Jahren kennen, und es bahnte sich eine unglaublich enge Freundschaft an, gründend auf dem an Verfolgungswahn grenzenden Argwohn gegenüber ausnahmslos jedem, einschliesslich der eigenen Ehefrauen und Kinder, und dem von beiden geteilten Gefühl, dass ihre Mission, nämlich Algerien gegen innere und äussere Angriffe zu schützen, ihr Lebenssinn sei. Sie waren einander näher als ihren leiblichen Brüdern.
Und so kam es, dass General Saïd, als er von der Existenz dieses anderthalb Hektar grossen Brachlands erfuhr, das keinem wirklich gehörte, oder genau genommen dem Verteidigungsministerium, seinem Freund davon erzählte und sie gemeinsam beschlossen, es in Besitz zu nehmen, um dort Seite an Seite ihre Villen zu erbauen. Dort würden sie sich geborgen fühlen. Einer würde über den anderen wachen und über dessen Familie.
Es war einfach perfekt.
6
Am Mittwoch, dem 3. Februar, kurz nach 11 Uhr, läuten die Glocken der Grundschulen von Dely Brahim, und Hunderte von Kindern stürmen ins Freie, ergiessen sich auf die Strasse in einem einzigen Rutsch. Eine Masse hellblauer, rosa, weisser, gelber, langer, kurzer, karierter, gestreifter oder dezent gemusterter Schulkittel. Die Schüler rennen nach Hause, springen mit beiden Füssen in Pfützen, lachen und spielen Fangen. Sie tun dasselbe wie alle Kinder dieser Welt: sich über die Mittagspause freuen, die sie von der Schule befreit, hinter streunenden Hunden herlaufen, Fangen spielen, alles mit dem Ranzen auf dem Rücken. Manche trotten solo nach Hause, andere sind grüppchenweise unterwegs, wieder andere