Warum musste Abel sterben?. Anselm GrünЧитать онлайн книгу.
des zweiten Kindes ihre Mutterliebe von dem erstgeborenen, schwierigen Sohn (Kain) auf den fröhlichen und zugewandten zweiten Sohn (Abel). Kain erleidet dann den Rückzug der Mutter als lebensbedrohend. Sie wird sich mit Kain auseinandersetzen und ihn dafür zurechtweisen, wenn er auf seinen Bruder Gefühle wie Zorn, Hass und Neid entwickelt. Doch wenn die Mutter ihn schon ablehnt, gibt es noch immer den Vater. Stellen wir uns ihn als einen verschlossenen, wortkargen Menschen vor, so wird auch dieser ihm nicht die Angst nehmen können, nun abgeschoben und ungeliebt zu sein. In seinem Roman »Jenseits von Eden« hat John Steinbeck die Geschichte von Kain und Abel romanhaft verarbeitet. Er beschreibt zwei Brüder namens Caleb und Aaron, die beide um die Liebe des Vaters ringen. Der Vater hat aber Aaron lieber als Caleb. Caleb versucht auf unterschiedliche Weise, sich die Anerkennung seines Vaters zu erwerben, zum Beispiel, indem er Bohnen zieht und diese gut verkaufen kann, um damit die Schulden seines Vaters zu begleichen. Der Vater nimmt aber das Geld nicht an. Aaron hingegen wird von seinem Vater immer gelobt und bevorzugt. Caleb ist so verzweifelt, dass er seinem Bruder Aaron erzählt, seine Mutter sei eine Hure geworden. Die Scham über die Mutter führt dazu, dass sich Aaron freiwillig zum Kriegsdienst meldet – in dem er möglicherweise umkommen wird.
Es ist die bekannteste Geschichte der Welt, schreibt Steinbeck, denn sie ist jedermanns Geschichte. Es ist die sinnbildliche Geschichte der menschlichen Seele. Die größte Angst, die ein Kind befallen kann, ist die, nicht geliebt zu werden. Jeder Mensch hat wohl in größerem oder kleinerem Ausmaß solche Gefühle verspürt, die in der Folge in Zorn und Hass münden und zu Taten führen, die uns schuldig werden lassen. Das ist ein Mechanismus, der in die Geschichte der Menschheit eingegraben ist. Darin liegt vieles begründet: Ein Kind, dem die Liebe verweigert wird, nach der es sich sehnt, lebt seine Aggressivität manchmal dadurch aus, dass es Spielsachen zerstört oder Tiere quält. Andere stehlen, um sich mithilfe von Geld oder Dingen Liebe zu sichern. Immer wieder resultiert daraus Schuld und Rache und weitere Schuld. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Schuldbewusstsein kennt, auch wenn es nur kurz aufscheint. Darum ist diese alte biblische Geschichte so bedeutsam, weil sie ein Spiegel der verborgenen, verworfenen, schuldbewussten Seele ist. Äußerst verzweifelt sieht Kain sich ungesehen und abgelehnt – mit einer einzigen Erklärung: Es gibt neben ihm Abel, seinen Bruder. Er ist der Bessere, der Bevorzugte. Könnte er ihn ausschalten, wäre alles gut. Er wäre dann endlich allein mit seinem Gott und kein anderer könnte sich mehr dazwischenschieben.
In vielen Familien stellt es sich genauso dar: Da kommt eine jüngere Schwester oder ein Bruder zur Welt. Schon das genügt, um ein labiles Gleichgewicht zwischen Mutter und Kind, Vater und Kind zu erzeugen. Dieses neue Kind ist »überzählig«, es ist zu viel auf der Welt, zumindest in den Augen dessen, der sich einfach durch die Anwesenheit des anderen aus seinem Paradies vertrieben fühlt. In anderen Familien erscheint dem Jüngeren der Ältere über alle Maßen bevorzugt. Er darf Dinge, die es selbst nicht darf. Mit ihm tauschen die Eltern Gedanken aus, die sie ihm selbst vorenthalten. Allein der Altersunterschied kann so viel an Neid heraufbeschwören, dass das Zusammenleben unter den Geschwistern umso schmerzlicher werden muss, je weniger sie der Liebe ihrer Eltern gewiss sind.
Dies, generalisiert betrachtet als Verhältnis unter all den menschlichen Schwestern und Brüdern, ist die Geschichte von Kain und Abel. Wäre der andere erkennbar schlechter, so könnte man gut mit ihm leben. Aber gerade die Eigenschaften, die gut an ihm sind, die man loben müsste, die eine Auszeichnung verdienen, werden zur Gefahr. Um Gefühle jedoch grundsätzlich zu ändern, müsste der eine dem anderen sagen: »Als mein Bruder bist du nicht mein Feind, nicht meine Konkurrenz, du nimmst mir nicht das weg, was ich brauche, sondern ich erkenne dich an in deinen Vorteilen und Vorzügen.« Eine solche Aussage kann nur treffen, wer selbst das Gefühl hat, anerkannt und akzeptiert zu sein. Wie schwer das ist, zeigt uns die vorliegende Geschichte. Kain wird sein ganzes Leben lang umgetrieben, er wird seine Heimat finden in der Heimatlosigkeit, Grund finden in der Grundlosigkeit und zu Hause sein im Unbehausten.
So erleben wir, dass die Bibel an dieser Stelle eine bittere, fast bösartige Kulturgeschichte der Menschen nacherzählt. Es endet damit, dass der Mörder Kain auf einem verfluchten Boden als Flüchtling sesshaft wird und später sein Sohn Henoch zum Gründer der ersten Stadt heranwächst. Das gibt uns Hoffnung, dass Gott trotz der furchtbaren Tat ihn und seine Nachkommen nicht verlässt.
Die altjüdische Konflikt- und Mordgeschichte von Kain und Abel ist noch nicht zu ihrem Ende gekommen. Nach mehr als zwei Jahrtausenden erscheint sie immer noch als schmerzliche Zeitgeschichte der Menschheit. Das Lebensmuster aus Aggressivität und Lebenswillen, Mord und Erkennen, aus Verweigerung, Frust und Flucht zeigt sich hier exemplarisch. Die Aktualität des Konfliktes in dieser Geschichte kann unserem sozialen Blick auf die biblische Geschichte und unserer eigenen Gegenwart helfen. Das Schwierigste zwischen den Menschen ist bis heute das Zusammenleben in Frieden. Eine geschwisterliche Gesellschaft – wer wollte das nicht? Dann müsste auch der andersartige und sogar der konkurrierende Kain Bruder bleiben oder werden dürfen. Dies wäre der biblische Auftrag seit den Tagen nach dem Entstehen dieser Geschichte.
Möglich ist dies, wenn wir spüren, dass wir Vertrauen in Gott haben dürfen: geliebt zu werden, nur weil wir sind. Dies wäre das Fundament, um Hass, Feindschaft, Mord und Krieg untereinander zu überwinden.
Bernd Deininger
Bedingungsloses Vertrauen auf Gott · Genesis 22,1–19
Nur wenige Geschichten in der Bibel sind so gut erzählt, aber auch so bedrückend wie die Szene, als Abraham mit seinem Sohn Isaak am Berg Morija steht. Die Geschichte mit dem zentralen Thema der Opferbringung wird auch in der Malerei stark rezipiert. Erstaunlich ist, dass die Verteilung der Rollen im Wesentlichen klar zu sein scheint: Abraham ist das Subjekt der Handlung, Isaak das Objekt. Unschlüssigkeit gibt es lediglich hinsichtlich des Alters des Sohnes. Einmal wird von ihm als Kind, dann als Jüngling, später als erwachsenem Mann berichtet.
Die rabbinische Literatur, die vom ersten nachchristlichen Jahrhundert bis zum achten Jahrhundert datiert, eröffnet verschiedene Lesarten dieses Kapitels. Insbesondere darauf bezogen, wer eigentlich das Opfer ist, gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen. Einmal ist Abraham das Opfer, dann Sara, die Ehefrau Abrahams und Mutter Isaaks, in anderen Schriften ist es Isaak im Sinne einer Selbstopferung. Im Judentum lautet der traditionelle Titel der Erzählung: »Die Bindung Isaaks«. Versucht man aber nun eine Gesamtschau auf das Geschehen, so beherrscht Abraham als Zentralfigur die Szene, wohingegen Isaak eher benutzt wird und dem Vater ausgeliefert ist. Die Bereitwilligkeit, mit der Isaak den Anordnungen seines Vaters folgt, scheint im Alter Isaaks begründet zu liegen. Das Lebensalter Isaaks wird daraus abgeleitet, dass Sara ihn in ihrem 90. Jahr empfangen hat und im Alter von 127 Jahren starb. Nachdem Sara unmittelbar nach der Nachricht, dass Isaak nicht geopfert wurde, stirbt, wäre er also bei seiner Bindung am Berg Morija 37 Jahre alt gewesen. Dies würde dafür sprechen, was die rabbinische Tradition immer wieder betont, dass Isaak durchaus freiwillig gehandelt hat und als erwachsener Mann auch Möglichkeiten gehabt hätte, die Bindung zu verweigern. Die rabbinische Überlieferung betont zudem, dass beide, Abraham und Isaak, einmütig gehandelt haben. Vater und Sohn gehen gemeinsam entschlossen den Weg – Abraham, um zu binden, und Isaak, um gebunden zu werden.
1843 erschien unter dem Titel »Furcht und Zittern« eine Schrift von Sören Kierkegaard, die die Szene auf dem Berg Morija zu beschreiben versucht. Dabei geht es Kierkegaard wesentlich darum, durchzuspielen, welche Reaktionen im inneren Erleben von Menschen möglich sind, wenn sie sich ganz auf diese Geschichte einlassen. Der Auftrag Gottes, der völlig außerhalb jedes Denkhorizonts zu liegen scheint, lautet: »Geh und opfere deinen Sohn.«
Wäre es nicht denkbar, so konstruiert Kierkegaard, dass Abraham vermutet, Gott könne so etwas gar nicht von ihm fordern, also sei es eine Versuchung, der es zu widerstehen gilt. Wenn dies so wäre, dann wäre Abraham nicht so mächtig in die Geschichte des Alten Testaments eingegangen und nicht der Stammvater des Glaubens geworden. Für Kierkegaard erscheint es wesentlich, die Bibel so zu lesen, dass sich jeder Mensch, der sich mit diesen Texten befasst, existenziell betroffen fühlt. Er versucht sie in das innere Erleben der Menschen hineinzuziehen, weshalb die wichtigste Frage für ihn ist: Was bedeutet das, was da steht, wenn es dir persönlich gesagt würde und was spielt sich in deinen Gefühlen und Gedanken ab, wenn du die Worte so hörst, als ob sie direkt zu dir gesprochen würden? Kann