Minarett. Leila AboulelaЧитать онлайн книгу.
stand nicht auf. Es interessierte mich nicht genug. Ich hörte Babas Stimme am Telefon, aber was er sagte, verstand ich nicht. Ich hörte bloss seine Stimme, und etwas stimmte nicht mit ihr. Es war nicht das Erschrecken, der Schock, die mit einem Todesfall verbunden waren. Ich setzte mich auf im Bett und sah den Raum allmählich feste Umrisse annehmen, während meine Augen sich ans Dunkel gewöhnten. Die Nächte waren noch kühl, wir brauchten die Klimaanlage noch nicht. Wäre sie gelaufen, hätte ich das Telefon gar nicht gehört.
Die Tür zu Omars Zimmer war zu. Ich lief den Flur hinunter zum Elternzimmer. Das Licht war an und die Tür angelehnt. Ich sah den Koffer auf dem Bett. Ich sah, wie Mama Socken von Baba in den Koffer stopfte, der fast schon voll war. Er war dabei, sich anzukleiden, und knöpfte gerade sein Hemd zu. Er drehte sich um und sah mich an, als sähe er mich gar nicht; als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass er mitten in der Nacht verreiste.
»Gehst du weg?«, fragte ich, aber keiner von beiden antwortete. Mama ging weiter im Zimmer auf und ab und packte fieberhaft, als lausche sie einer Stimme im Kopf, die ihr eins nach dem anderen auftrug, was sie zu tun hatte. »Geh wieder schlafen«, forderte sie mich auf.
Hellwach ging ich ins Bad. Ich starrte mein Spiegelbild an, glättete meine Brauen und bewunderte, wie das Gelb des Pyjamas zu meiner Haut passte; Baba war vergessen.
Als ich das Bad verliess, hörte ich ihn den Wagen starten. Es musste er sein, der den Wagen startete, denn Mûssa schlief nicht im Haus. Mûssa ging jeden Abend nach Hause. Ich rätselte, wohin Baba wohl fuhr und was sein Reiseziel war. Warum hatten sie mir nicht gesagt, dass ein wichtiger ausländischer Staatsmann gestorben war? Ich ging in Omars Zimmer und begann ihn zu wecken. Er wachte auf, kam aber nicht mit mir ans Fenster. Ich spähte durch die Vorhänge. Ich sah, wie Baba das Auto aus der Garage manövrierte und über den Kies zum Tor fuhr. Ich sah den Nachtwächter das Tor für ihn aufstossen. Dann erblickte ich die Scheinwerfer eines Autos, das unsere Strasse herunterraste. Es blieb quietschend vor unserem Tor stehen und versperrte Babas Wagen den Weg. Zwei Männer sprangen heraus. Einer blieb beim Tor, und der andere öffnete Babas Autotür, wie Mûssa sie jeden Tag für ihn aufmachte, bloss nicht genau so, nicht ganz genau so. Baba stellte den Motor ab und stieg aus. Er sprach mit dem Mann und wies auf den Kofferraum. Der Mann sagte etwas zu seinem Begleiter, und dieser öffnete den Kofferraum und nahm Babas Koffer heraus. Sie gingen auf ihr eigenes Auto zu und liessen Babas Wagen in der Zufahrt gestrandet zurück: weder drinnen noch draussen. Baba nahm etwas aus der Hosentasche, vermutlich Geld oder den Autoschlüssel, und gab es dem Nachtwächter. Dann stieg er mit den beiden Männern ins Auto. Er sass auf dem Rücksitz, und das war verkehrt, so viel wusste ich. Er sollte nicht auf dem Rücksitz sein. Ich hatte ihn nie auf dem Rücksitz gesehen, ausser in Taxis oder wenn Mûssa ihn fuhr. Und jetzt war Mama neben mir, sie erschreckte mich. Wie sie mit den Zähnen knirschte, um das Weinen zurückzuhalten, und mit der Faust leicht gegen das Fenster schlug, machte mir Angst. Omar trat zu uns, legte den Arm um sie und führte sie vom Fenster weg.
»Was ist los?«, fragte er. »Was ist los, Mama?«
Seine Stimme klang ruhig und wie sonst. Ich blickte auf die dunkle, leere Strasse hinaus, auf Babas verlassenen Wagen und auf den Wächter, der vergeblich versuchte, das Tor zu schliessen. Er konnte das Auto nicht umparken, weil er gar nicht fahren konnte. Es musste auf den Morgen warten, bis Mûssa kommen würde.
»Was ist los, Mama?« Omars Stimme war geduldig. Sie sassen beide auf seinem Bett.
»Es hat einen Putsch gegeben«, sagte sie.
Acht
Unsere ersten Wochen in London waren okay. Wir bemerkten nicht einmal, dass wir uns im freien Fall befanden. Als wir den Schock, am Tag nach Babas Verhaftung überstürzt ausreisen zu müssen, verwunden hatten, genossen Omar und ich London trotz allem. Wir waren noch nie im April dort gewesen und gingen als Erstes in der Oxford Street Kleider kaufen. Es war lustig, all das zu tun, was wir zu Hause nie taten: Lebensmittel einkaufen, staubsaugen und Tiefkühlgerichte zubereiten. Es machte Spass, all das zu tun, was wir sonst im Sommer taten: Omar ging ins Kino am Leicester Square und kaufte weiss Gott wie viele Kassetten bei HMV. Ich probierte bei Selfridges Parfums aus und liess mir in der Elizabeth-Arden-Ecke das Gesicht schminken.
Aber Mama war ganz und gar nicht wie sonst: Sie war wie betäubt, weinte manchmal ohne Grund und führte mitten in der Nacht Selbstgespräche. Für die Verlockungen Londons war sie immun. Sie wollte nicht einkaufen gehen und verfolgte andauernd die neusten Entwicklungen nach dem Putsch. Sie hielt sich alle arabischen Zeitungen, dazu die Times und den Guardian, telefonierte herum und liess den Fernseher die ganze Zeit laufen. In unserem Apartment am Lancaster Gate gaben sich die Sudanesen die Klinke in die Hand: Geschäftsleute auf der Durchreise, besorgte Botschaftsmitarbeiter, die auf die unvermeidlichen Veränderungen warteten, die mit der neuen Regierung kommen würden. Alle beruhigten sie Mama wegen Baba. »Sie werden ihn bald rauslassen, und dann kann er hierher zur Familie kommen«, sagten sie. »Es wird alles versanden«, sagten sie, »nur Geduld, sie üben anfänglich ihr Muskelspiel und lassen dann wieder nach.« Sie hörte ihnen still zu, und ich half ihr beim Servieren von Kaffee und Tee. Ihr Gesicht war streng ohne Make-up, ihr Haar zum Knoten gebunden, weil sie nicht mehr zum Friseur ging; die Pullover, die sie unter dem Tob trug, waren in düsteren Farben gehalten.
Randa rief mich von ihrem College in Wales an. »Ich glaub’s ja nicht, du bist wirklich hier!«, kreischte sie.
»Ich glaub’s ja selbst noch nicht – ich habe dir doch erst vor einer Weile tschüs gesagt …«
»Was habt ihr jetzt vor?«
»Warten, bis Baba zu uns kommt – wir machen uns Sorgen um ihn.« Ich schluckte, und meine Stirn war glühend heiss.
»Und dann? Wie lange wirst du hierbleiben, und was ist mit deiner Uni?«
»Ich weiss nicht, Randa. Ich hab all meine Notizen und Bücher mitgebracht …«
»Aber diese neue Regierung scheint durchzuhalten, der Putsch ist gelungen. Und ihr werdet hier wohl politisches Asyl bekommen …«
»Vielleicht lassen sie uns nach Hause. Ich weiss nicht.« So weit hatte ich noch nicht gedacht.
»Du kannst doch hierherkommen.«
»Hierher?«
»Hierher ans Atlantic College, zu mir.«
Irgendwie entsetzte mich diese Vorstellung. »Omar würde das gefallen – aber jetzt sag, Randa, wie geht’s? Erzähl mir, wie es für dich ist. Gefällt es dir in Wales? Musst du hart arbeiten? Hast du mit dem Klettern begonnen?«
»Ich schreib dir alles in einem Brief. Ich kann nicht lange telefonieren.«
»Okay, gib Samîr den Brief, er kommt uns am Wochenende besuchen.«
»Ja, okay, mach ich. Wir laufen uns ziemlich oft über den Weg.«
»Und, Randa, was ich dir noch sagen wollte: Sundari ist schwanger …«
»Waaas!«, zischte sie.
»Es ist ein grosser Skandal; sogar die amerikanische Botschaft wurde hineingezogen. Dafür stationiert man keine Marines im Sudan.« Ich versuchte, über meinen eigenen Witz zu lachen, aber das Geräusch glich mehr einem hartnäckigen Husten.
Samîr kam am Wochenende, er trug verwaschene Jeans und Lederjacke und hatte eine neue Brille auf. Er drückte Omar fest, und ich spürte wieder dieses Brennen in meiner Stirn, das mich in letzter Zeit manchmal überfiel. Er küsste Mama, und sie fing an zu weinen, was uns allen peinlich war.
»Gibt es Neuigkeiten?« Samîr nahm im einen und Omar im anderen Sessel Platz. Ich sass auf dem Sofa neben Mama. Der Fernseher war an, so wie wir ihn jetzt manchmal laufen liessen: mit Bildern ohne Ton.
»Sie machen ihm den Prozess«, sagte Omar. Mama tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen ab, und ihr Mund stand offen.
»Inschallah wird alles gut.« Samîr rutschte in seinem Sessel herum. Er schien in den tiefen, weichen Kissen zu ertrinken.
Aber