Philosophie des Todes. Héctor WittwerЧитать онлайн книгу.
möglich sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Tod [19]entweder als Übergang vom irdischen Leben in eine anders geartete Existenz oder als vollständiges Ende des Lebens begriffen werden kann. In der Philosophie wurden beide Auffassungen vertreten.
Die Debatte über den Hirntod
Bis in die 1960er Jahre galt es als unvorstellbar, dass ein Mensch für tot erklärt werden könnte, solange sein warmes Blut durch seine Adern fließt. Seit der Einführung des Hirntodkriteriums hat sich die Lage grundlegend verändert. Auf die sogenannten Hirntoten trifft genau das zu, was lange undenkbar war: Sie gelten als tot, obwohl zumindest einige ihrer Lebensfunktionen mit technischen Mitteln aufrechterhalten werden. Innerhalb kurzer Zeit hat sich also ein radikaler Wandel des Todesbegriffs vollzogen. Wodurch wurde er ermöglicht?
Die Einführung des Hirntodkriteriums stellte eine Reaktion auf zwei sich in etwa zeitgleich vollziehende Entwicklungen in der Medizin dar. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Tod eines Menschen anhand des Herztodkriteriums festgestellt. Ein Mensch galt als tot, wenn seine Atmung und sein Kreislauf zum Erliegen gekommen waren. Der Herztod konnte in der Praxis mit dem Hirntod gleichgesetzt werden, denn erstens bewirkte ein entsprechend langer Ausfall der Atmung und des Kreislaufs, dass das Gehirn nicht mehr in ausreichendem Maß mit Sauerstoff versorgt und daher irreversibel geschädigt wurde. Und zweitens führte eine schwere Schädigung des ganzen Gehirns stets dazu, dass der Organismus nicht [20]mehr imstande war, eigentätig seine Atmung und seinen Blutkreislauf aufrechtzuerhalten. Dieser enge Zusammenhang wurde durch den technischen Fortschritt aufgelöst. Die Herzdruckmassage, die künstliche Beatmung und vor allem die Einführung der Herz-Lungen-Maschine ermöglichten es, Menschen am Leben zu erhalten, die bis dahin binnen kurzer Zeit gestorben wären. In der Folgezeit häufte sich die Zahl der Patienten, deren Gehirntätigkeit endgültig ausgefallen war, bei denen aber mittels der Herz-Lungen-Maschine der Blutkreislauf und die Versorgung mit Sauerstoff aufrechterhalten wurden. Der Zustand, in dem sich diese Menschen befanden, wurde 1959 von den französischen Ärzten Pierre Mollaret und Maurice Goulon erstmals als »endgültiges Koma« (coma dépassé) beschrieben.
Zweitens entstand in den 1950er Jahren die Transplantationsmedizin, die innerhalb weniger Jahrzehnte rasante Fortschritte machte. Bereits im Jahr 1967 führte der südafrikanische Arzt Christiaan Barnard die erste Herztransplantation durch. Transplantationen von Nieren und anderen Organen gehören heute zu den Routineoperationen. Mit den technischen Möglichkeiten wuchs auch der Bedarf an Transplantaten; und so war es ein naheliegender Gedanke, Menschen, die sich im endgültigen Koma befanden, als Organspender in Betracht zu ziehen.
Diese beiden Tendenzen, der Fortschritt der Medizintechnik und die Entwicklung der Transplantationsmedizin, riefen in ihrem Zusammenspiel das Bedürfnis nach einer Revision des Todeskriteriums hervor. Zu diesem Zweck wurde 1968 an der Harvard Medical School eine aus Medizinern, Theologen und Juristen bestehende [21]Ad-hoc-Kommission einberufen. Diese Kommission schlug vor, den Hirntod als neues Todeskriterium einzuführen. Für diesen Vorschlag nannte sie in ihrem Bericht zwei Gründe. Erstens stelle der Zustand des endgültigen Komas für die Patienten, deren Angehörige und die Krankenhäuser eine schwere Belastung dar, zweitens könne das Festhalten an überholten Kriterien des Todes zu Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Organen für die Transplantation führen. Bereits kurz zuvor hatte die von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie eingesetzte Kommission für Reanimation und Organtransplantation in ihrer Stellungnahme für die Einführung des Hirntodkriteriums plädiert. Diese Erklärung fand jedoch in der Öffentlichkeit nicht so große Aufmerksamkeit wie der Bericht der Ad-hoc-Kommission in Harvard.
Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte wurde das Hirntodkriterium von zahlreichen Staaten und ärztlichen Organisationen anerkannt. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wurde es in das geltende Recht übernommen. Die Kompetenz für die Festlegung der Verfahren, die für die Feststellung des Hirntods nötig sind, übertrug der Gesetzgeber der Bundesärztekammer. Eingang fand das Hirntodkriterium unter anderem in das 1997 nach einer langen und kontroversen Diskussion verabschiedete sogenannte Transplantationsgesetz.5
Da die Einführung des Hirntodkriteriums einen Bruch mit der überkommenen Auffassung des Todes darstellte, ist es nicht verwunderlich, dass die Feststellung des Todes anhand des Hirntods von Beginn an von heftigem Widerstand begleitet wurde. Zu den ersten Kritikern des Hirntods zählte der Philosoph Hans Jonas. Er warf den [22]Verfechtern des Hirntodkriteriums vor, dass sie den Tod aus einem bestimmten Interesse, nämlich demjenigen, leichter Organe für die Transplantation gewinnen zu können, »umdefiniert« hätten.6 Den Verdacht, dass die Änderung des Kriteriums nicht nur auf naturwissenschaftlich-medizinischen Erwägungen beruhte, sondern von bestimmten Interessen geleitet war, hegte nicht nur Hans Jonas. Diese Vermutung spielt bis heute eine wichtige Rolle in der Diskussion.
Bevor wir uns den Argumenten zuwenden, die für und gegen die Angemessenheit der Rede vom Hirntod vorgebracht werden, muss eine Unterscheidung eingeführt werden, die unerlässlich ist, wenn man die Stichhaltigkeit dieser Argumente beurteilen will. Zu unterscheiden sind die Definition des Todes, die Kriterien des Todes und die Testverfahren, welche die Feststellung des Todes erlauben. Die Definition des Todes kann – wie jede andere Definition – weder wahr noch falsch sein, weil durch sie festgelegt wird, was der Begriff »Tod« bedeuten soll. Allerdings sollte sie, damit Mehrdeutigkeiten und Missverständnisse vermieden werden, dem umgangssprachlichen Vorverständnis des Begriffs nicht widersprechen und so weit wie möglich mit ihm übereinstimmen. Erst wenn man sich darüber geeinigt hat, was »Tod« bedeuten soll, kann sinnvoll danach gefragt werden, welche Kriterien die Feststellung des Todes erlauben, welche Bedingungen also erfüllt sein müssen, damit ein Organismus als tot bezeichnet werden darf. Ob sie erfüllt sind, muss mittels geeigneter Testverfahren geprüft werden. Da es sich bei der Frage, welche Verfahren in Bezug auf ein bestimmtes Kriterium geeignet sind, um ein rein technisches Problem handelt, dürfte es kaum grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über die [23]Testverfahren zur Todesfeststellung geben. Deshalb beschränkt sich die Kontroverse weitgehend auf die Definition und die Kriterien des Todes. Die Unterscheidung der begrifflichen Ebenen erlaubt es, jeweils präzise festzustellen, ob sich ein Argument grundsätzlich gegen ein bestimmtes Todesverständnis wendet oder ob es nur dazu dient, die Angemessenheit eines Todeskriteriums in Zweifel zu ziehen, ohne dass der zugrunde liegende Begriff des Todes infrage gestellt wird.
Die Befürworter des Hirntodkriteriums haben im Wesentlichen drei Gründe für dessen Angemessenheit angeführt. Erstens verweisen sie darauf, dass es sich beim Hirntod nur um neues Kriterium, nicht aber um eine neue Definition des Todes handle. Wie das früher gebräuchliche Herztodkriterium setze auch das Hirntodkriterium die Definition des Todes als Ganztod voraus. Gemäß diesem bereits vorgestellten Begriff des Todes ist ein Organismus dann tot, wenn er die Fähigkeit, mittels der Lebensfunktionen seine Bestandteile zu integrieren und sich als ein funktionelles Ganzes zu erhalten, ein für alle Mal verloren hat. An dieser Definition ändere sich durch die Einführung des Hirntodkriteriums nichts. Deshalb sei der Vorwurf, dass die Akzeptanz des Hirntods zu einer Verdopplung des Todesbegriffs führe – dem Tod des Menschen stehe nun der Tod des Gehirns gegenüber –, verfehlt. Der entsprechende Verdacht könne nur entstehen, wenn man nicht zwischen Ganztod und Partialtod unterscheide. Sobald man diesen grundsätzlichen Unterschied berücksichtige, werde jedoch deutlich, dass der Partialtod eines Organs, der des Gehirns, als Kriterium des Ganztodes des Organismus fungiere.
[24]Zweitens sei das Bewusstsein, zumindest in potenzieller Form, ein wesentliches Merkmal eines lebendigen Menschen. Die Hirntoten hätten aber aufgrund der schwer wiegenden und irreparablen Schädigung ihres Gehirns die Fähigkeit, etwas bewusst zu erleben und bewusst zu handeln, endgültig verloren. Das unterscheide sie von schlafenden und vorübergehend bewusstlosen Menschen ebenso wie von Embryonen, bei denen das Gehirn zwar noch nicht ausgebildet ist, die aber gewöhnlich zu Menschen mit einem intakten Gehirn und der Fähigkeit zum bewussten Erleben und Handeln heranreifen werden.
Drittens sei der Organismus der Hirntoten nicht mehr imstande, die Lebensfunktionen selbstständig zu vollziehen und seine Bestandteile und deren Funktionen in ein funktionelles Ganzes zu integrieren. Eben diese Fähigkeit sei aber gemäß der funktionalen Definition des Lebens ausschlaggebend für die Lebendigkeit eines Menschen.