Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de MaupassantЧитать онлайн книгу.
ein Päckchen mit der Aufschrift »Vater« heraus, machten es auf und lasen.
Es waren alte Episteln, wie man sie in alten Familien-Schreibtischen vorfindet, Episteln, die nach dem letzten Jahrhundert schmeckten. Die erste begann: »Mein Herzchen«, eine andere »Mein liebes kleines Mädchen«, wieder andere: »Liebes Kind« und schließlich auch »Meine liebe Tochter.« Und plötzlich begann die Nonne laut zu lesen – der Toten ihre eigene Lebensgeschichte vorzulesen, all ihre holden Erinnerungen, und der Beamte hörte aufmerksam zu, während er einen Ellenbogen auf das Bett stützte und seine Mutter anblickte. Die Leiche lag unbeweglich; ihr schien wohl zu sein.
Schwester Eulalia hielt plötzlich inne und sagte: »Wir sollten sie ihr alle ins Grab legen, ihr ein Leichentuch daraus machen und sie darin begraben.« Dann nahm sie ein andres Päckchen zur Hand, das keine Aufschrift trug, und begann mit lauter Stimme: »Angebetetes Weib! ich liebe dich bis zur Besessenheit. Seit gestern schmachte ich wie ein Verdammter im Fegefeuer; die Erinnerung an dich verzehrt mich. Ich fühle deine Lippen noch auf meinen Lippen, deine Augen noch in meinen Augen, deine Brust an meiner Brust. Ich liebe dich! Ich liebe dich! Rasend hast du mich gemacht. Meine Arme strecken sich dir entgegen. Ich atme beklommen und sehne mich unendlich, dich noch einmal mein zu nennen! Mein ganzes Wesen schreit nach dir! Auf meiner Zunge liegt mir noch der Geschmack deiner Küsse«…
Der Beamte hatte sich hoch aufgerichtet, die Nonne hielt inne. Er riss ihr das Blatt aus der Hand und suchte nach der Unterschrift. Es stand nichts darunter, als diese Worte: »Dein dich anbetender« und darunter »Henry.« Ihr Vater hatte René geheißen. Er konnte es also nicht sein. Da wühlte der Sohn mit zitternder Hand in den Päckchen herum, riss ein anderes Schreiben heraus und las: »Ich kann es ohne deine Liebe nicht mehr ertragen«… Er war aufgestanden, streng, als ob er von seinem Richterstuhl aufstünde, und sah die Tote unverwandt an.
Die Nonne stand hoch aufgerichtet, wie ein Marmorbild, und blickte, während Tränen ihr in die Augenwinkel traten, ihren Bruder erwartungsvoll an. Der aber schritt langsam durchs Zimmer bis an’s Fenster und starrte träumend in die Nacht hinaus.
Als er sich umdrehte, stand Schwester Eulalia, jetzt trockenen Auges, noch immer am Bette der Toten und senkte das Haupt.
Er trat wieder näher, hob die Briefe hastig auf und warf sie durcheinander in die Schublade, dann zog er den Bettvorhang schweigend zu.
Und als die Kerzen, die auf dem Tische brannten, im Tagesschein verblichen, erhob sich der Sohn langsam aus seinem Lehnstuhl, ohne die Mutter, die er so von ihren Kindern getrennt und verdammt hatte, noch eines Blickes zu würdigen, und sagte in langsamem Tone: »So, Schwester, nun können wir zur Ruhe gehen!«
*
Träume
Es war nach einem Essen unter guten, alten Freunden. Es waren ihrer fünf, ein Schriftsteller, ein Arzt und drei reiche Junggesellen ohne Beruf.
Sie hatten von allem Möglichen gesprochen und waren nun jener Abspannung verfallen, wie sie dem Aufbruch voranzugehen und ihn zu bestimmen pflegt. Endlich unterbrach einer der Gäste das Schweigen. Er hatte seit fünf Minuten dem lärmenden Treiben auf dem lichterdurchfluteten Boulevard unverwandt zugesehen.
– Ja, seufzte er, wenn man so vom Morgen bis in die Nacht nichts zu tun hat, sind die Tage lang!
– Und die Nächte gleichfalls, bemerkte sein Nachbar! Ich schlafe schon lange nicht mehr, die Vergnügungen langweilen mich, und die Unterhaltung ist immer dieselbe. Nicht einem neuen Gedanken begegnet man, und ehe ich mit irgendjemand spreche, packt mich schon ein heißes Verlangen, nichts zu sagen und nichts zu hören. Ich weiß nicht, wie ich meine Abende unterbringen soll.
– Und ich, erklärte der dritte Müßiggänger, ich würde eine Prämie dafür aussetzen, wenn einer ein Mittel erfände, das einem wenigstens zwei Stunden am Tage erträglich macht!
– Der Mensch, sagte der Schriftsteller, der soeben seinen Paletot über den Arm geworfen hatte, der Mensch, der ein neues Laster entdeckte, täte der Menschheit einen größeren Dienst, – auch wenn er ihre Lebenszeit um die Hälfte verringerte – als jemand, der ein Mittel ausfindig machte, das ihr ewige Gesundheit und Jugend sichert.
Der Arzt musste lachen.
– Jawohl, sagte er, indem er an seiner Zigarre kaute, aber solch ein Mittel entdeckt sich nicht so leicht, trotzdem man die Sache nach allen Richtungen hin versucht hat, seitdem die Welt steht. Die ersten Menschen sind da mit einem Schlage zur Vollendung gekommen und wir können uns kaum mit ihnen messen.
– Leider! brummte der eine Nichtstuer. Dann ließ er eine Minute verstreichen und fuhr fort: Wenn man nur wenigstens schlafen könnte, ohne irgendetwas zu empfinden; so schön schlafen, wie nach großen Anstrengungen, ganz fort sein, ohne Träume…
– Warum ohne Träume? fragte sein Nachbar.
– Weil Träume nie angenehm sind, erwiderte jener. Außerdem sind sie stets verdreht und unmöglich, ja ganz ungereimt, und im Schlafe können wir die besten nicht mal nach unserm Wunsche auskosten. Man muss im Wachen träumen!
– Wer hindert Sie denn daran? fragte der Schriftsteller.
– Mein Freund, sagte der Arzt, indem er seine Zigarre wegwarf, um im Wachen zu träumen, bedarf es einer großen Kraft- und Willensanstrengung, und darauf folgt dann eine große Schwäche. Gewiss gehört der wirkliche Traum, dieses Schweifen unserer Gedanken durch die Gefilde der Einbildung, zum Schönsten auf Erden, aber er muss von selbst kommen und nicht mühsam hervorgerufen werden. Auch muss er bei völligem leiblichen Wohlbefinden kommen und gehen. – Und diesen Traum, setzte er hinzu, kann ich Ihnen verschreiben, vorausgesetzt, dass Sie mir versprechen, keinen Missbrauch damit zu treiben.
Der Schriftsteller zuckte die Achseln.
– Jawohl, weiß schon, Haschisch, Opium, grünes Konfekt und künstliche Paradiese. Ich habe Baudelaire gelesen und selbst das berüchtigte Zeug genommen; und tüchtig krank bin ich davon geworden.
Der Arzt hatte sich wieder gesetzt.
– Nein, sagte er, Äther, nichts als Äther. Und zwar sollten gerade Sie, die Schriftsteller, zuweilen Gebrauch davon machen.
Die drei wohlhabenden Herren drängten sich wissbegierig heran.
– Erzählen Sie uns doch, welche Wirkungen das hat, bat der eine.
Und der Arzt begann.
– Zunächst wollen wir die großen Worte lassen, nicht