Die Löwenskölds. Selma LagerlöfЧитать онлайн книгу.
berichtete ihr, er müsse immerfort an Jesu Wort zu dem reichen Jüngling denken, und er sei überzeugt, der Grund zu den vielen Leiden der Menschen liege vor allem darin, dass sie das Geschaffene mehr liebten als den Schöpfer.
Obwohl sie nichts sagte, lauschte sie doch offenbar seinen Worten auf eine Weise, die sein Zutrauen immer mehr hervorlockte. Er vertraute ihr an, dass er weder Propst noch Bischof werden wolle. Er wolle keine große Gemeinde, keinen großen Wohnsitz mit weiten Äckern und dicken Kirchenbüchern und vieler Arbeit. Nein, er wünsche sich ein kleines Dorf, in dem er sich ganz der Seelsorge widmen könne. Sein Pfarrhaus solle nur eine kleine graue Hütte sein, aber diese solle an einem Birkenwäldchen am Ufer des Sees liegen. Und sein Gehalt solle nur gerade zum Leben ausreichen.
Und sie verstand ihn. Er wollte damit den Menschen den rechten Weg zum wahren Glück zeigen. Eine tiefe Andacht erfüllte ihre Seele. Noch niemals war ihr etwas so Junges und Reines vorgekommen. Ach, wie würden alle Menschen ihn lieben!
Aber dann fiel ihr ein, wie sehr seine Worte im Widerspruch standen zu dem, was sie kürzlich hatte sagen hören, und darüber wollte sie sich Klarheit verschaffen.
Sie fragte, ob sie falsch gehört habe, aber als sie neulich in der Propstei war, habe seine Braut gesagt, er sei im Begriff, sich um ein Lektorat an einem Gymnasium zu bewerben.
Da sprang Karl Artur vom Stuhle auf und begann in der kleinen Stube hin und her zu gehen.
Sollte Charlotte das gesagt haben? Sei sie ganz sicher, dass Charlotte das gesagt hatte? Bei dieser Frage, die er in ganz ungestümer Weise hervorsprudelte, wurde ihr angst; aber in aller Demut entgegnete sie, soweit sie sich erinnern könne, habe Charlotte tatsächlich so gesagt.
Das Blut stieg ihm in den Kopf. Er sah immer ärgerlicher aus. Sie war ganz entsetzt. Fast wäre sie vor ihm niedergefallen und hätte ihn um Verzeihung gebeten. Nie hätte sie gedacht, dass das, was sie von Charlotte berichtet hatte, ihn so verletzen würde. Was sollte sie sagen, das ihn wieder gut stimmen könnte? Was konnte sie tun, um ihn zu beruhigen?
Während dieser Aufregung hörte sie Wagengerassel, und aus alter Gewohnheit sah sie aus dem Fenster. Schagerström fuhr vorbei; da sie aber so sehr mit Karl Artur beschäftigt war, fragte sie sich nicht einmal, wohin er wohl fahre. Karl Artur hatte den Vorbeifahrenden nicht bemerkt. Er schritt noch immer mit grimmiger Miene in dem Stübchen auf und ab.
Dann trat er auf sie zu und streckte ihr die Hand zum Abschied entgegen. Welch eine schreckliche Enttäuschung, dass er so bald wieder ging! Sie hätte sich die Zunge abbeißen mögen, weil sie die paar Worte gesagt hatte, die schuld an seiner Verstimmung waren.
Aber da war nichts mehr zu machen. Sie musste auch ihre Hand ausstrecken und die seinige ergreifen. Sie musste schweigen und ihn gehen lassen.
Doch in ihrem tiefen Elend und ihrer Verzweiflung neigte sie sich über seine Hand und küsste sie.
Hastig zog er seine Hand zurück. Dann blieb er stehen und schaute sie an.
»Ich wollte nur um Verzeihung bitten«, stammelte sie.
Er sah Tränen in ihren Augen, was ihn bewog, ihr eine Art Erklärung zu geben.
»Nehmen Sie an, Frau Sundler, Sie hätten sich aus irgendeinem Anlass eine Binde um die Augen gelegt, sodass Sie nichts mehr sehen könnten, und Sie hätten sich ganz in die Hände eines anderen Menschen gegeben, der Ihr Führer sein sollte – was würden Sie sagen, wenn die Binde plötzlich abfiele und Sie erkennen müssten, dass dieser andere, Ihr Freund, Ihr Führer, auf den Sie sich mehr als auf sich selbst verlassen hatten, Sie an den Rand eines Abgrunds geführt hatte, wo Sie beim nächsten Schritt in die Tiefe gestürzt wären? Würde Ihnen solches keine Höllenqualen bereiten?«
Er sprach hastig und leidenschaftlich und eilte, ohne auf Antwort zu warten, durch die Tür in den Flur hinaus. Thea Sundler glaubte zu hören, dass Karl Artur in dem kleinen Vorgarten stehen blieb. Sie konnte nicht wissen, warum. Vielleicht überdachte er, wie fröhlich und sorglos er vor einer kleinen Weile in ihr Haus eingetreten war, das er jetzt wütend und verzweifelt verließ. Jedenfalls eilte sie hinaus, und da stand er wirklich noch.
Sobald er sie zu Gesicht bekam, fing er an zu reden. Die Gemütsbewegung hatte seinen Gedanken eine neue Richtung gegeben. Es war ihm lieb, einen Zuhörer zu haben.
»Ich bin noch hier und sehe mir die Rosen an, mit denen Sie den Weg zu Ihrem Hause eingefasst haben, liebe Frau Sundler, und ich überlege eben, ob dieser Sommer nicht der schönste ist, den ich je erlebt habe. Wir haben nun Ende Juli, die ganze nun vergangene Sommerszeit ist geradezu vollkommen gewesen, finden Sie das nicht auch? Sind nicht alle Tage lang und hell gewesen, länger und heller als je zuvor? Gewiss war es sehr heiß, aber niemals wirklich drückend, weil doch meistens ein frischer Luftzug wehte. Auch die Erde hat nicht unter Trockenheit zu leiden gehabt wie in andern schönen Sommern, weil fast jede Nacht etwas Regen gefallen ist. So war das Wachstum auch ganz unerhört. Haben Sie schon jemals die Bäume so üppig belaubt oder die Blumenrabatten im Garten in solcher Pracht leuchten sehen? Ach, ich möchte behaupten, die Erdbeeren seien nie so süß, der Vogelgesang nie so wohllautend und die Menschen nie so fröhlich und genussfähig gewesen wie in diesem Jahre!«
Er schwieg einen Augenblick, um Atem zu schöpfen, doch Frau Sundler hütete sich wohl, ihn durch ein Wort zu stören. Sie dachte an ihre Mutter.
Jetzt begriff sie, was diese gefühlt haben mochte, wenn der junge Baron sie in der Küche oder in der Milchkammer aufgesucht und ihr allerlei anvertraut hatte.
Der junge Geistliche fuhr fort: »Wenn ich morgens gegen fünf Uhr meinen Vorhang zurückziehe, sehe ich kaum etwas anderes als Düsternis und Gewölk. Das klatscht gegen die Fensterscheiben, das gießt aus der Dachtraufe, Gras und Blumen beugen sich nieder unter dem Platzregen. Die ganze Luft ist voller regenschwerer Wolken, die sich über den Wiesengrund hinzuschleppen scheinen. Heut ist’s aus mit dem schönen Wetter, sage ich zu mir selbst, und vielleicht ist es auch so am besten.
Und obgleich ich weiß, dass es den ganzen Tag fortregnen wird, bleibe ich doch noch eine ganze Weile am Fenster stehen und sehe zu, was noch werden wird. Und siehe, fünf Minuten nach fünf Uhr klatschen die Tropfen nicht mehr an meine Scheiben. Die Dachtraufe rieselt noch eine Weile, dann hört auch das auf. Gerade an der Stelle am Himmel, wo die Sonne stehen sollte, öffnet sich ein Wolkenspalt, und ein breiter Lichtstreifen fällt herab in die irdischen Nebel. Gleich darauf verwandeln sich diese, am Horizont aufwallend, in lichtblauen Dunst. Die Tropfen rinnen die Grashalme entlang auf die Erde, und die Blumen richten ihre ängstlich gesenkten Kelche wieder empor. Unser kleiner See, von dem ich einen schwachen Schimmer von meinem Fenster aus sehen kann und der bis jetzt ganz mürrisch dreingeschaut hat, beginnt zu glitzern, wie wenn große Scharen von Goldfischen sich unter dem Wasserspiegel angesammelt hätten. Und hingerissen von so viel Schönheit, öffne ich mein Fenster weit, atme die Luft voll schwellender Wohlgerüche von einer nie geahnten Fülle ein, und ich breche in den Ruf aus: Ach, mein Gott, du hast deine Welt viel zu schön geschaffen!«
Der junge Geistliche hielt inne, lächelte und zuckte die Schultern. Er schien anzunehmen, Thea Sundler verwundere sich über seine letzte Äußerung, und so beeilte er sich, diese zu erläutern.
»Ja«, fuhr er fort, »es ist mir ernst mit dem, was ich sagte. Ich war bange, dieser schöne Sommer könne mich verleiten, etwas Irdisches zu lieben. Wie oft habe ich das Ende dieses herrlichen Wetters herbeigewünscht, gewünscht, der Sommer möge uns Blitz und Donner, Dürre und Schwüle, Landregen und kalte Nächte bringen, wie das schon so oft in andern Jahren geschehen ist.«
Thea Sundler sog alle seine Worte in sich hinein. – Wo wollte er hin? Was wollte er damit sagen? Sie wusste es nicht, wünschte es aber fast krampfhaft, er möchte fortfahren, damit sie noch lange den Wohllaut seiner Stimme, die schönen Worte und das ausdrucksvolle Mienenspiel genießen könnte.
»Verstehen Sie mich?«, rief er aus. »Aber über Sie hat die Natur vielleicht keine Macht. Sie spricht nicht zu Ihnen mit starken, geheimnisvollen Worten. Sie fragt Sie nie, warum Sie nicht dankbar alle ihre guten Gaben genießen, warum Sie das Glück nicht ergreifen, das so erreichbar