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Denken und schöpferisches Werden. Henri BergsonЧитать онлайн книгу.

Denken und schöpferisches Werden - Henri Bergson


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die amüsante Zeichnung existierte, die ein Künstler darin wahrnimmt, indem er die amorphe Masse nach dem Belieben seiner Fantasie organisiert. Die Romantik hat also retroaktiv auf den Klassizismus gewirkt, so wie die Zeichnung des Künstlers auf jene Wolke. Retroaktiv hat sie ihre eigene Gestaltung der Vergangenheit eingebildet und eine Erklärung ihrer selbst durch die vorausgehenden Umstände erst geschaffen.

      Es bedarf eines glücklichen Zufalls, wenn wir in unserer jetzigen Gegenwart gerade das bemerken, was für den zukünftigen Historiker von besonderem Interesse ist. Wenn dieser Historiker unsere Gegenwart betrachten will, dann sucht er darin besonders die Erklärung seiner Gegenwart und vor allem die Erklärung dessen, was diese Gegenwart an Neuem enthält. Von diesem Neuen können wir heute noch keine Vorstellung haben, wenn es eine wirkliche Neuschöpfung ist. Wie könnten wir also heute schon uns nach ihr ausrichten, um unter den Tatsachen gerade die auszuwählen, die man hervorheben, oder vielmehr erst fabrizieren muß, indem man die gegenwärtige Wirklichkeit im Hinblick auf jene Zukunft zurechtschneiden würde? Die grundlegende Tatsache der modernen Zeit ist die fortschreitende Entwicklung der Demokratie. Daß wir in der Vergangenheit, wie sie von den Zeitgenossen beschrieben wurde, auf diese Entwicklung hinweisende Anzeichen finden, ist unbestreitbar, aber die vielleicht interessantesten Hinweise würden von ihnen nur dann hervorgehoben worden sein, wenn sie gewußt hätten, daß die Menschheit in dieser Richtung marschiere; nun trat aber diese Entwicklungsrichtung damals nicht deutlicher hervor, als irgend eine andere, oder vielmehr, sie existierte noch gar nicht, da sie erst durch die Entwicklung selber geschaffen wurde, ich möchte sagen durch das Fortschreiten der Männer, die nacheinander den Begriff Demokratie erfaßt und verwirklicht haben. Die vorausdeutenden Hinweise sind also in unseren Augen nur deswegen Anzeichen, weil wir heute die Entwicklungsbahn kennen, weil diese Entwicklung inzwischen vollzogen worden ist. Weder diese Bahn, noch ihre Richtung, noch auch infolgedessen ihr Zielpunkt waren also gegeben, als diese Geschehnisse sich vollzogen: also waren jene Tatsachen noch keine Anzeichen. Gehen wir noch weiter. Wir sagten, daß die wichtigsten diesbezüglichen Tatsachen von den Zeitgenossen vernachlässigt werden könnten. Aber in Wahrheit existierten eben die meisten Tatsachen als Tatsachen zu jener Zeit noch gar nicht, sie würden retrospektiv für uns existieren, wenn wir jetzt jene Zeit in ihrer Ganzheit wieder aufleben lassen könnten, um auf das ungeteilte Ganze der Wirklichkeit von damals den besonderen Lichtschein fallen zu lassen, den wir die demokratische Idee nennen; die so beleuchteten Teile, die in dem Ganzen nach den ebenso originellen wie unvorhersehbaren Umrissen der Zeichnung eines großen Meisters herausgeschnitten wären, würden die vorbereitenden geschichtlichen Tatsachen der Demokratie sein. Kurz, um unseren Nachkommen die Erklärung der für sie wesentlichen Ereignisse aus der Vergangenheit her zu überliefern, müßten wir uns dieses zukünftige Ereignis schon jetzt vorstellen können, und es dürfte infolgedessen keine wahre Dauer geben. Wir überliefern den nachfolgenden Generationen, was uns interessiert, was unsere Aufmerksamkeit im Lichte unserer vergangenen Entwicklung betrachtet und formt, aber nicht das, was die Zukunft für jene interessant machen wird durch die Entstehung eines neuen Interesses, durch eine neue Richtung, der ihre Aufmerksamkeit sich zuwendet. Mit andern Worten, die historischen Ursprünge der Gegenwart können in ihrer eigentlichen Bedeutung nicht vollständig aufgehellt werden, denn man könnte sie in ihrer Ganzheit nur wieder überschauen, wenn die Vergangenheit von den Zeitgenossen als eine Funktion einer noch unbestimmten Zukunft ausgedrückt werden könnte, einer Zukunft, die aber gerade deshalb unvorhersehbar wäre.

      Das war vorzüglich die Richtung, die wir einschlugen. Viele andere eröffneten sich vor uns und um uns herum von dem Zentrum aus, in dem wir unseren Standpunkt genommen hatten, um die reine Dauer wieder zu erfassen. Aber wir schlugen diese Richtung vorzugsweise ein, weil wir, um unsere Methode zu erproben, als erstes das Problem der Freiheit gewählt hatten. Gerade dadurch versetzten wir uns ganz in den Fluß des inneren Lebens, von dem die Philosophie uns zu oft bloß die erstarrte Oberfläche festzuhalten schien. Waren der Romanschreiber und der Moralist in dieser Richtung nicht viel weiter vorgedrungen als der Philosoph? Vielleicht — aber nur gelegentlich unter dem Druck der Not hatten jene das Hindernis genommen. Keinem war es noch eingefallen, methodisch „auf die Suche nach der verlorenen Zeit“ zu gehen. Wie dem auch sei, wir gaben in dieser Hinsicht in unserem ersten Buch nur Andeutungen, und wir beschränkten uns im zweiten noch auf Anspielungen, als wir den Plan de l’action — in dem die Vergangenheit sich in der Gegenwart zusammenzieht — verglichen mit dem Plan du rêve, in dem sich die Totalität der Vergangenheit unteilbar und unzerstörbar entfaltet. Aber wenn auch das Studium der Seele in concreto an individuellen Beispielen Sache der Literatur ist, so schien uns doch die Aufgabe der Philosophie zu sein, hier die allgemeinen Bedingungen der direkten unmittelbaren Selbstbeobachtung festzustellen. Diese innere Beobachtung wird durch die Denkgewohnheiten, die wir angenommen haben, verfälscht. Die hauptsächlichste Entstellung ist ohne Zweifel diejenige, die das Problem der Freiheit geschaffen hat, ein Pseudoproblem, das aus einer Verwechslung der wahren Dauer mit dem Raum entstanden ist. Aber es gibt noch andere, die denselben Ursprung zu haben scheinen: unsere Seelenzustände scheinen uns zählbar, diese oder jene unter ihnen sollen, in dieser Weise dissoziiert, eine meßbare Intensität haben, jedem von ihnen glauben wir die Worte substituieren zu können, die sie bezeichnen, und die sie dann überdecken, wir schreiben ihnen dann die Festigkeit, die Diskontinuität, die Allgemeinheit der Worte selber zu. Diese


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