Hagakure. Jocho YamamotoЧитать онлайн книгу.
dem Ryūzōji-Problem und Jōchōs Philosophie des unbedingten Gehorsams auszuschalten, fast schon elegant nennen.67
Der berühmte, oft zitierte Satz im zweiten Paragraphen des ersten Bandes: »Ich habe entdeckt, dass der bushidō, der Weg des Kriegers, seine Erfüllung im Sterben findet«, konnte deshalb seinen jetzigen Platz in der Vorstellung der modernen Gesellschaft erobern, weil man darin die heldenhafte Todesverachtung prototypischer Krieger zu erkennen vermeint, wie sie in der heutigen Welt kaum noch zu finden ist. Tatsächlich geht es jedoch nicht vorrangig um die Akzeptanz des Todes als eines unvermeidlichen Bestandteils des menschlichen Lebens, sondern um das soziale Dilemma eines Kriegeradels in einer friedlichen, von gesetzlichen Statuten geregelten Gesellschaftsordnung. Aufgrund des im Buke Shohatto verankerten Gesetzes des kenka ryōseibai, durch das beide Seiten in einem Streit oder nicht autorisierten Duell gleichermaßen zur Verantwortung gezogen wurden, gab es für einen bushi der Edo-Zeit im Falle eines Konflikts nur zwei Möglichkeiten: Er konnte sich entweder auf einen Kampf einlassen und sich der großen Wahrscheinlichkeit aussetzen, zu sterben oder lebensgefährlich verletzt zu werden, oder er konnte versuchen, sich mit Hinweisen auf die Gesetzeslage herauszureden und zu fliehen. Das hätte allerdings den Verlust der Ehre bedeutet, weil man, als »Feigling« abgestempelt, einen sozialen Tod gestorben wäre. Und dies führte in vielen Fällen zum Verlust von Stellung, Lehen und sogar zu einer offiziellen Verurteilung zum Tode.
Entsprechend dem Hagakure galt es also unbedingt zu vermeiden, »Schande auf sein Haupt zu laden« und seine Ehre zu verlieren. Wenn man letztendlich sowieso sterben würde, war es dem Hagakure zufolge besser, einen ehrenhaften, eines Kriegers würdigen Tod zu sterben, als sich aus einem Streit herauszureden und seinen Rückzug dann im Nachhinein mit Hinweisen auf die Gesetzeslage zu begründen. Darum lautet der Schlüsselsatz im berühmten zweiten Paragraphen: »Wenn man die falsche Entscheidung trifft und überlebt, wird man zum Feigling!« Und dies galt es um jeden Preis zu vermeiden.68
Was konnte ein bushi, der mit diesem Dilemma konfrontiert war, also tun, um keine Schande auf sich zu laden? Schande ließ sich laut Hagakure nur vermeiden, indem man aufhörte, am Leben zu hängen, sich ans Leben zu klammern. Daher legt Jōchō auch einerseits so hohen Wert auf die Entschlossenheit, ohne Zögern zu sterben, und shinigurui, also wie ein »Berserker« im Todeswahn um sich zu schlagen. Andererseits kritisiert er chie, d. h. Wissen, Weisheit und Rationalität, sowie technisches Vermögen in den Künsten. In diesem Zusammenhang darf man allerdings nicht vergessen, dass auch in der bushi-Gesellschaft Wissen und Findigkeit immer hochgeschätzt waren und gerade in der Edo-Zeit immer mehr Wert auf das Gleichgewicht zwischen Gelehrsamkeit und militärischen Fähigkeiten (bunbu ryōdō) gelegt wurde.
Man vergleiche Jōchōs Postulierung des unabdingbaren Todes z. B. auch mit Miyamoto Musashis Buch der fünf Ringe, wo in der »Rolle der Erde« die Wichtigkeit der Akzeptanz des Todes betont wird.69 Insofern stimmt dieser mit Yamamoto Jōchō überein. Aber im Anschluss differenziert Musashi:
»Aber was den Weg des Sterbens angeht, ist das nicht allein auf Krieger begrenzt. In Anbetracht der Lage, dass von Mönchen bis zu Frauen, von Bauern sogar bis zum niederen Volk Menschen in der Lage sind, sich aus Ehrgefühl oder aus Schande dafür zu entscheiden, in den Tod zu gehen, gibt es hier keinen Unterschied zu den Kriegern. Der Unterschied liegt darin, dass das Militärhandwerk eines Kriegers auszuführen darauf basiert, anderen Männern in welcher Angelegenheit auch immer überlegen zu sein, beziehungsweise in einem Duell zu siegen, beziehungsweise in einer Schlacht mit vielen zu triumphieren, und so danach zu trachten, für seinen Lehnsherrn oder für sich selbst, seinen Ruhm zu erhöhen und seine Ehre zu vertreten. Das macht die Tugend des Kriegerhandwerks aus.«70
Deutlich wird hier der große Unterschied zwischen einem kriegs- und duellerfahrenen Veteranen, wie er im Hagakure eigentlich als Idealbild des draufgängerischen Haudegens beschrieben wird, und einem bürokratischen Schreibtischhelden im Ruhestand, der vom aktuellen Geschehen weit entfernt und vor ihm sicher war und auf gar keinen Fall dem von ihm beschriebenen Ideal des todesverachtenden Kriegers entsprach.
Darüber hinaus propagiert Jōchō, »eines toten Leibes zu sein«, also so zu leben, als ob man bereits gestorben sei, weil man dann sein Leben lang ohne Fehler seine Dienstpflicht erfüllen und seinen Amtsposten und sein Lehen an die eigenen Kinder vererben könne. Sein Insistieren auf absoluter Todesentschlossenheit einerseits und der Erfüllung seiner Dienstpflicht und dem Erhalt seiner Familie und seiner Ehre andererseits klingt nach modernen Maßstäben paradox. Aber an dieser Stelle erkennt man, dass es Jōchō in erster Linie darum ging, darzulegen, wie man es als Samurai einrichten kann, ohne Probleme bis zu seinem Lebensabend seine Dienstpflicht angemessen zu verrichten. Dementsprechend ist das Hagakure voll mit Empfehlungen und guten Ratschlägen nicht nur zur besseren Verrichtung der Dienstpflicht, sondern eben auch zur Vermeidung von Streit und Zwietracht, durch die man in einen Kampf verwickelt werden könnte. Darum propagiert das Werk weder eine »Philosophie des Todes« noch eine »Philosophie des Lebens«, sondern ein »Rezept zum geschickten (Über-)Leben« in einer von Kriegeridealen beherrschten Gesellschaft von Bürokraten.71 Tatsächlich lässt sich vermuten, dass Jōchō keine politischen Ideale verfolgte. Ihm zufolge konnte man dem Fürsten alle Entscheidungen überlassen, während ein Krieger ausschließlich seinem Lehnsherrn zur Seite zu stehen hatte. Diese Art der Unterwürfigkeitsmentalität, die den eigenen Verstand ausschaltet und alle Entscheidungen der Obrigkeit überlässt, ist in der modernen Gesellschaft weder geeignet, dem politischen Fanatismus totalitärer Regierungen entgegenzuwirken, noch verantwortungsvolle Staatsbürger zu erziehen.
Besonders interessant ist die Enge der Beziehung zwischen Feudalherr und Vasall, die im Hagakure mit einer (homosexuellen) Liebesbeziehung gleichgesetzt wird. In Paragraph 2 des zweiten Bandes zitiert Jōchō das folgende Gedicht, um das »tiefste Mysterium wahrer Liebe« zu verdeutlichen:
Erkenne meine Liebe
Nach meinem Tod im Rauch,
Wenn schließlich ich meine innersten Gefühle
Nicht mehr zu unterdrücken vermag.
Er erläutert im Anschluss, dass es sich nur bei einer bis in den Tod hinein geheimgehaltenen Liebe, die sich erst im Rauch der Feuerbestattung offenbart, um eine Liebe von wahrer Reinheit handelt. So wie an dieser Stelle findet der Leser Hinweise über den Text verteilt, die den Eindruck vermitteln, dass der Autor bis in den Ruhestand hinein genau einer solchen geheimen Liebe nachhing, während seine Gleichstellung einer idealen Liebesbeziehung mit dem idealen Feudalverhältnis anscheinend offenbart, wem diese Gefühle tatsächlich galten. Yamamoto Hirofumi bemerkt entsprechend, es handele sich bei der Bezeichnung nagusamikata, die Mitsushige in seinem Brief gegenüber Jōchō gebrauchte, als er ihm sein gebrauchtes Bettzeug schenkte (Paragraph II-64), um eine Anrede, die man in der literarischen Welt jener Zeit als Anrede für einen Partner in einer homosexuellen Beziehung gebrauchte.72 Überhaupt erscheint diese Episode überraschend, könnte man die Natur des Geschenks doch durchaus als symbolisch interpretieren.
In diesem Zusammenhang ist auch die weite Verbreitung homosexueller Beziehungen unter dem japanischen Kriegeradel zu nennen, die allgemein toleriert und akzeptiert wurden, solange sie nicht die sozialen Strukturen, das politische Gleichgewicht oder besondere Familieninteressen bedrohten.73 So werden auch in Paragraph I-181 des Hagakure die »weisen Worte« des berühmten Edo-zeitlichen Schriftstellers Ihara Saikaku zitiert: »Junge Knaben ohne einen Herzensfreund74 sind genau wie Frauen, die keinen Mann haben.« Und sobald sich eine solche Beziehung zwischen einem »älteren« und einem »jüngeren Bruder« mit der zwischen Lehnsherr und Vasall überlagerte, also typischerweise als Beziehung zwischen einem daimyō und seinem Pagen, war die Entwicklung zur bedingungslosen Loyalität und zum selbstaufopfernden Dienst bis hin zum Folgetod laut Koike Yoshiaki nur natürlich.75
Obwohl von der Existenz einer solchen Beziehung zwischen Jōchō und Mitsushige nichts bekannt ist, lassen sich im Hagakure doch genug Andeutungen finden, um dies zumindest nahezulegen. Zumindest stellte sie für Jōchō eine Idealvorstellung des Lehnsverhältnisses dar. Dieser besondere Schwerpunkt gibt daher durchaus Anlass zu Spekulationen über die tatsächliche Beziehung zwischen Fürst Mitsushige und Jōchō, der ja bekanntlich