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Der letzte Mensch. Mary ShelleyЧитать онлайн книгу.

Der letzte Mensch - Mary Shelley


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stand vor mir. Die Strahlen der Morgensonne tönten sein seidiges Haar mit einem goldenen Schimmer und verbreiteten Licht und Herrlichkeit über sein leuchtendes Antlitz. »Was geht hier vor?«, rief er. Die Männer hoben sogleich zu ihrer Verteidigung an; er unterbrach sie und sagte: »Zwei von euch auf einmal gegen einen bloßen Knaben – was für eine Schande!« Er kam auf mich zu: »Verney«, rief er, »Lionel Verney, begegnen wir uns so zum ersten Mal? Wir wurden geboren, um miteinander befreundet zu sein. Willst du nicht, wenngleich uns das Schicksal getrennt hat, die ererbten Freundschaftsbande anerkennen, die uns, wie ich überzeugt bin, zukünftig vereinigen werden?«

      Während er sprach, schienen seine ernsten Augen, die auf mich gerichtet waren, direkt in meiner Seele zu lesen: mein Herz, mein wildes rachsüchtiges Herz, fühlte den Einfluss des süßen Wohlwollens in sich sinken, während seine wohlklingende Stimme wie die süßeste Melodie ein stummes Echo in mir weckte, welches das Lebensblut in meinem Körper bis ins Innerste anrührte. Ich wollte antworten, seine Güte anerkennen, seine angebotene Freundschaft annehmen – aber Worte, passende Worte, wurden dem rauen Bergbewohner nicht gewährt. Ich wollte meine Hand ausstrecken, doch ihre Schmutzigkeit hielt mich zurück. Adrian hatte Mitleid mit meiner unsicheren Miene:

      »Komm mit mir«, sagte er, »ich habe dir viel zu sagen. Komm mit mir nach Hause – du weißt, wer ich bin?«

      »Ja«, rief ich aus, »ich glaube, dass ich dich jetzt kenne und dass du mir meine Fehler verzeihst – mein Verbrechen.«

      Adrian lächelte sanft, und nachdem er den Wildhütern seine Befehle gegeben hatte, ging er auf mich zu; er nahm meinen Arm, und wir gingen zusammen zum Herrenhaus.

      Es war nicht sein Rang – nach allem, was ich gesagt habe, wird man sicherlich nicht vermuten, dass es Adrians Rang war, der von Anfang an mein Herz unterwarf und mich meine ganze Seele vor ihm niederlegen ließ. Ich war es auch nicht allein, der seine Vollkommenheit so sehr empfand. Seine Empfindsamkeit und Höflichkeit faszinierten jeden. Seine Lebendigkeit, Intelligenz und seine tätige Güte nahmen alle Welt gänzlich für ihn ein. Schon in diesem jungen Alter war er sehr belesen und durchdrungen vom Geist der hohen Philosophie. Dieser Geist verlieh ihm in seinem Umgang mit anderen einen unwiderstehlichen Ton, so dass er wie ein begabter Musiker wirkte, der mit unfehlbarer Geschicklichkeit die »Leier der Seele« schlug und darauf göttliche Harmonie erzeugte. Körperlich schien er kaum von dieser Welt zu sein; sein schmaler Bau wurde von der Seele, die in ihm wohnte, überlagert; er war ganz Geist. »Man zücke nur ein Schilfrohr« gegen seine Brust, und es hätte seine Stärke bezwungen; aber die Macht seines Lächelns hätte einen hungrigen Löwen gezähmt oder eine Legion bewaffneter Männer dazu gebracht, ihre Waffen zu seinen Füßen zu legen.

      Ich verbrachte den Tag mit ihm. Anfangs kam er nicht auf die Vergangenheit oder gar auf irgendwelche persönlichen Vorfälle zurück. Er wollte mich wahrscheinlich Fassung gewinnen lassen und mir Zeit geben, meine zerstreuten Gedanken zu sammeln. Er sprach von allgemeinen Gegenständen und brachte mich auf Gedanken, die ich nie zuvor gedacht hatte. Wir saßen in seiner Bibliothek, und er sprach von den alten griechischen Weisen und von der Macht, die sie über den Geist des Menschen erlangt hätten, und dies nur durch Weisheit und die Kraft der Liebe. Der Raum war mit den Büsten vieler von ihnen geschmückt, und er beschrieb mir ihre Charaktere. Während er sprach, fühlte ich mich ihm ergeben; und all mein vielgerühmter Stolz und meine Kraft wurden durch die honigsüßen Reden dieses blauäugigen Jünglings unterdrückt. Das schmucke und vergitterte Reich der Zivilisation, das ich zuvor aus meinem wilden Dschungel als unerreichbar angesehen hatte, hatte sein Tor von ihm öffnen lassen; ich trat ein, und dabei fühlte ich, dass ich auf heimischem Boden stand.

      Als es Abend wurde, kam er auf die Vergangenheit zu sprechen. »Ich habe eine Geschichte zu erzählen«, sagte er, »und muss, die Vergangenheit betreffend, viel erklären. Vielleicht kannst du mir helfen, sie zu verkürzen. Erinnerst du dich an deinen Vater? Ich hatte nie das Glück, ihn kennenzulernen, doch sein Name ist eine meiner frühesten Erinnerungen: Er steht geschrieben in den Tafeln meines Geistes als ein Beispiel für alles, was galant, liebenswürdig und faszinierend im Menschen war. Sein Witz war ebenso berühmt wie die überfließende Güte seines Herzens, welche er in so vollem Maße seinen Freunden einschenkte, dass ach! nur wenig für ihn selbst übrig blieb.«

      Ermutigt durch diese Lobrede begann ich, als Antwort auf seine Nachfragen, zu berichten, was ich von meinen Eltern in Erinnerung hatte; und er erklärte jene Umstände, die die Vernachlässigung des testamentarischen Briefes meines Vaters verursacht hatten. Als Adrians Vater, der damalige König von England, in späteren Zeiten spürte, dass seine Lage ernster wurde, beschämte ihn sein Betragen mehr und mehr, immer wieder wünschte er sich seinen früheren Freund, der ihm als Bollwerk gegen den ungestümen Zorn seiner Königin beistehen könnte, als einen Vermittler zwischen ihm und dem Parlament. Seit der Zeit, in der er London in der verhängnisvollen Nacht seiner Niederlage am Spieltisch verlassen hatte, hatte der König keine Nachrichten über ihn erhalten; und als er sich nach Jahren bemühte, ihn aufzuspüren, war jede Spur verwischt. Mit mehr Bedauern als je zuvor klammerte er sich an seine Erinnerung und überantwortete es seinem Sohn, wenn er jemals diesen geschätzten Freund treffen sollte, ihm in seinem Namen jeden Beistand zu leisten und ihm zu versichern, dass seine Zuneigung bis zuletzt Trennung und Schweigen überdauert habe.

      Kurze Zeit vor Adrians Besuch in Cumberland legte der Erbe des Edelmannes, dem mein Vater seinen letzten Appell an seinen königlichen Herrn anvertraut hatte, diesen Brief, mit ungebrochenem Siegel, in die Hände des jungen Grafen. Man hatte festgestellt, dass er mit einer Masse alter Papiere beiseitegeschoben worden war, und der Zufall brachte ihn ans Licht. Adrian las ihn mit tiefem Interesse; und fand dort den lebendigen Geist des Genies und des Witzes, über den er so oft reden gehört hatte. Er entdeckte den Namen des Ortes, an den mein Vater sich zurückgezogen hatte, und an dem er starb; er erfuhr von der Existenz von dessen Waisenkindern; und während der kurzen Zeit zwischen seiner Ankunft in Ullswater und unserem Zusammentreffen im Park war er damit beschäftigt gewesen, Nachforschungen über uns anzustellen und eine Reihe von Plänen zu unserem Vorteil zu arrangieren, bevor er sich uns bemerkbar machen wollte.

      Die Art, wie er von meinem Vater sprach, schmeichelte meiner Eitelkeit sehr. Der Schleier, den er zart über seine Güte warf, indem er sich auf eine pflichtbewusste Erfüllung des letzten Willens des Königs berief, beruhigte meinen Stolz. Andere, weniger zweideutige Gefühle wurden durch seine versöhnliche Art und die großzügige Wärme seines Ausdrucks ausgelöst. Respekt, wie ich ihn zuvor selten empfunden hatte, Bewunderung und Liebe – er hatte mein versteinertes Herz mit seiner magischen Kraft berührt, und ein Strom der Zuneigung brach unvergänglich und rein daraus hervor. Am Abend trennten wir uns, er drückte meine Hand: »Wir werden uns wiedersehen, komm morgen zu mir.« Ich umklammerte diese gütige Hand; ich versuchte zu antworten; ein eifriges »Gott segne dich!«, war alles, was ich in meinem Unvermögen aussprechen konnte, ehe ich, aufgewühlt von meinen neuen Emotionen, davonstob.

      Ich fand keine Ruhe. Es trieb mich in die Hügel; ein Westwind umbrauste sie, und über mir funkelten die Sterne. Ich lief weiter, sorgte mich nicht um äußerliche Gegenstände, sondern versuchte, meinen ringenden Geist durch körperliche Erschöpfung zu ermüden. »Dies«, dachte ich, »ist Macht! Nicht stark in den Gliedern, nicht hart im Herzen und wagemutig sein, sondern gütig und mitfühlend.« – Ich blieb stehen, faltete meine Hände und rief mit der Inbrunst eines Neubekehrten: »Zweifle nicht an mir, Adrian, auch ich werde weise und gut werden!«, und dann, von meinen Empfindungen überwältigt, weinte ich laut.

      Als dieser leidenschaftliche Ausbruch vorüber war, fühlte ich mich gelassener. Ich legte mich auf die Erde und begann, indem ich meinen Gedanken freien Lauf ließ, Schicht um Schicht die vielen Fehler meines Herzens aufzudecken, und ich erkannte, wie viehisch, wild und wertlos ich bisher gewesen war. Ich konnte damals jedoch keine Reue empfinden, denn ich dünkte mich neu geboren; meine Seele warf die Bürde vergangener Sünde ab, um ein neues Leben in Unschuld und Liebe zu beginnen. Nichts Schroffes oder Grobes blieb übrig, das es vermocht hätte, die sanften Gefühle, welche die Erlebnisse des Tages ausgelöst hatten, zu erschüttern. Ich war wie ein Kind, das seiner Mutter die Gebete nachlispelte, und meine nachgiebige Seele wurde von einer Meisterhand neu geformt, nach der ich weder verlangte noch ihr widerstehen konnte.

      Dies war


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