Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund FreudЧитать онлайн книгу.
bahnen sich Reaktionsweisen gegen die Außenwelt an, die durch kein späteres Erleben mehr ihrer Bedeutung beraubt werden können.
Wenn es richtig ist, daß die unverständlichen Kindheitserinnerungen und die auf sie gebauten Phantasien eines Menschen stets das Wichtigste aus seiner seelischen Entwicklung herausheben, so muß die durch die Geierphantasie erhärtete Tatsache, daß Leonardo seine ersten Lebensjahre allein mit der Mutter verbracht hat, von entscheidendstem Einfluß auf die Gestaltung seines inneren Lebens gewesen sein. Unter den Wirkungen dieser Konstellation kann es nicht gefehlt haben, daß das Kind, welches in seinem jungen Leben ein Problem mehr vorfand als andere Kinder, mit besonderer Leidenschaft über diese Rätsel zu grübeln begann und so frühzeitig ein Forscher wurde, den die großen Fragen quälten, woher die Kinder kommen und was der Vater mit ihrer Entstehung zu tun habe. Die Ahnung dieses Zusammenhanges zwischen seiner Forschung und seiner Kindheitsgeschichte hat ihm dann später den Ausruf entlockt, ihm sei es wohl von jeher bestimmt gewesen, sich in das Problem des Vogelfluges zu vertiefen, da er schon in der Wiege von einem Geier heimgesucht worden war. Die Wißbegierde, die sich auf den Vogelflug richtete, von der infantilen Sexualforschung abzuleiten, wird eine spätere, unschwer zu erledigende Aufgabe sein.
III. KAPITEL
In der Kindheitsphantasie Leonardos repräsentierte uns das Element des Geiers den realen Erinnerungsinhalt; der Zusammenhang, in den Leonardo selbst seine Phantasie gestellt hatte, warf ein helles Licht auf die Bedeutung dieses Inhalts für sein späteres Leben. Bei fortschreitender Deutungsarbeit stoßen wir nun auf das befremdliche Problem, warum dieser Erinnerungsinhalt in eine homosexuelle Situation umgearbeitet worden ist. Die Mutter, die das Kind säugt – besser: an der das Kind saugt –, ist in einen Geiervogel verwandelt, der dem Kinde seinen Schwanz in den Mund steckt. Wir behaupten, daß die »coda« des Geiers nach gemeinem substituierenden Sprachgebrauch gar nichts anderes als ein männliches Genitale, einen Penis, bedeuten kann. Aber wir verstehen nicht, wie die Phantasietätigkeit dazu gelangen kann, gerade den mütterlichen Vogel mit dem Abzeichen der Männlichkeit auszustatten, und werden angesichts dieser Absurdität an der Möglichkeit irre, dieses Phantasiegebilde auf einen vernünftigen Sinn zu reduzieren.
Indes wir dürfen nicht verzagen. Wieviel scheinbar absurde Träume haben wir nicht schon genötigt, ihren Sinn einzugestehen! Warum sollte es bei einer Kindheitsphantasie schwieriger werden als bei einem Traum!
Erinnern wir uns daran, daß es nicht gut ist, wenn sich eine Sonderbarkeit vereinzelt findet, und beeilen wir uns, ihr eine zweite, noch auffälligere, zur Seite zu stellen.
Die geierköpfig gebildete Göttin Mut der Ägypter, eine Gestalt von ganz unpersönlichem Charakter, wie Drexler in Roschers Lexikon urteilt, wurde häufig mit anderen mütterlichen Gottheiten von lebendigerer Individualität wie Isis und Hathor verschmolzen, behielt aber daneben ihre gesonderte Existenz und Verehrung. Es war eine besondere Eigentümlichkeit des ägyptischen Pantheons, daß die einzelnen Götter nicht im Synkretismus untergingen. Neben der Götterkomposition blieb die einfache Göttergestalt in ihrer Selbständigkeit bestehen. Diese geierköpfige mütterliche Gottheit wurde nun von den Ägyptern in den meisten Darstellungen phallisch gebildet; ihr durch die Brüste als weiblich gekennzeichneter Körper trug auch ein männliches Glied im Zustande der Erektion.
Bei der Göttin Mut also dieselbe Vereinigung mütterlicher und männlicher Charaktere wie in der Geierphantasie Leonardos! Sollen wir dies Zusammentreffen durch die Annahme aufklären, Leonardo habe aus seinen Bücherstudien auch die androgyne Natur des mütterlichen Geiers gekannt? Solche Möglichkeit ist mehr als fraglich; es scheint, daß die ihm zugänglichen Quellen von dieser merkwürdigen Bestimmung nichts enthielten. Es liegt wohl näher, die Übereinstimmung auf ein gemeinsames, hier wie dort wirksames und noch unbekanntes Motiv zurückzuführen.
Die Mythologie kann uns berichten, daß die androgyne Bildung, die Vereinigung männlicher und weiblicher Geschlechtscharaktere, nicht nur der Mut zukam, sondern auch anderen Gottheiten wie der Isis und Hathor, aber diesen vielleicht nur, insofern sie auch mütterliche Natur hatten und mit der Mut verschmolzen wurden. Sie lehrt uns ferner, daß andere Gottheiten der Ägypter, wie die Neith von Sais, aus der später die griechische Athene wurde, ursprünglich androgyn, d. i. hermaphroditisch aufgefaßt wurden und daß das gleiche für viele der griechischen Götter besonders aus dem Kreise des Dionysos, aber auch für die später zur weiblichen Liebesgöttin eingeschränkte Aphrodite galt. Sie mag dann die Erklärung versuchen, daß der dem weiblichen Körper angefügte Phallus die schöpferische Urkraft der Natur bedeuten solle und daß alle diese hermaphroditischen Götterbildungen die Idee ausdrücken, erst die Vereinigung von Männlichem und Weiblichem könne eine würdige Darstellung der göttlichen Vollkommenheit ergeben. Aber keine dieser Bemerkungen klärt uns das psychologische Rätsel, daß die Phantasie der Menschen keinen Anstoß daran nimmt, eine Gestalt, die ihr das Wesen der Mutter verkörpern soll, mit dem zur Mütterlichkeit gegensätzlichen Zeichen der männlichen Kraft zu versehen.
Die Aufklärung kommt von Seiten der infantilen Sexualtheorien. Es hatte allerdings eine Zeit gegeben, in der das männliche Genitale mit der Darstellung der Mutter vereinbar gefunden wurde. Wenn das männliche Kind seine Wißbegierde zuerst auf die Rätsel des Geschlechtslebens richtet, wird es von dem Interesse für sein eigenes Genitale beherrscht. Es findet diesen Teil seines Körpers zu wertvoll und zu wichtig, als daß es glauben könnte, er würde anderen Personen fehlen, denen es sich so ähnlich fühlt. Da es nicht erraten kann, daß es noch einen anderen, gleichwertigen Typus von Genitalbildung gibt, muß es zur Annahme greifen, daß alle Menschen, auch die Frauen, ein solches Glied wie er besitzen. Dieses Vorurteil setzt sich bei dem jugendlichen Forscher so fest, daß es auch durch die ersten Beobachtungen an den Genitalien kleiner Mädchen nicht zerstört wird. Die Wahrnehmung sagt ihm allerdings, daß da etwas anders ist als bei ihm, aber er ist nicht imstande, sich als Inhalt dieser Wahrnehmung einzugestehen, daß er beim Mädchen das Glied nicht finden könne. Daß das Glied fehlen könne, ist ihm eine unheimliche, unerträgliche Vorstellung, er versucht darum eine vermittelnde Entscheidung: das Glied sei auch beim Mädchen vorhanden, aber es sei noch sehr klein; es werde später wachsen. Scheint sich diese Erwartung bei späteren Beobachtungen nicht zu erfüllen, so bietet sich ihm ein anderer Ausweg. Das Glied war auch beim kleinen Mädchen da, aber es ist abgeschnitten worden, an seiner Stelle ist eine Wunde geblieben. Dieser Fortschritt der Theorie verwertet bereits eigene Erfahrungen von peinlichem Charakter; er hat unterdes die Drohung gehört, daß man ihm das teure Organ wegnehmen wird, wenn er sein Interesse dafür allzu deutlich betätigt. Unter dem Einfluß dieser Kastrationsandrohung deutet er jetzt seine Auffassung des weiblichen Genitales um; er wird von nun an für seine Männlichkeit zittern, dabei aber die unglücklichen Geschöpfe verachten, an denen nach seiner Meinung die grausame Bestrafung bereits vollzogen worden ist.
Ehe das Kind unter die Herrschaft des Kastrationskomplexes geriet, zur Zeit, als ihm das Weib noch als vollwertig galt, begann eine intensive Schaulust als erotische Triebbetätigung sich bei ihm zu äußern. Es wollte die Genitalien anderer Personen sehen, ursprünglich wahrscheinlich, um sie mit den eigenen zu vergleichen. Die erotische Anziehung, die von der Person der Mutter ausging, gipfelte bald in der Sehnsucht nach ihrem für einen Penis gehaltenen Genitale. Mit der erst spät erworbenen Erkenntnis, daß das Weib keinen Penis besitzt, schlägt diese Sehnsucht oft in ihr Gegenteil um, macht einem Abscheu Platz, der in den Jahren der Pubertät zur Ursache der psychischen Impotenz, der Misogynie, der dauernden Homosexualität werden kann. Aber die Fixierung an das einst heißbegehrte Objekt, den Penis des Weibes, hinterläßt unauslöschliche Spuren im Seelenleben des Kindes, welches jenes Stück infantiler Sexualforschung mit besonderer Vertiefung durchgemacht hat. Die fetischartige Verehrung des weiblichen Fußes und Schuhes scheint den Fuß nur als Ersatzsymbol für das einst verehrte, seither vermißte Glied des Weibes zu nehmen; die »Zopfabschneider« spielen, ohne es zu wissen, die Rolle von Personen, die am weiblichen Genitale den Akt der Kastration ausführen.
Man wird zu den Betätigungen der kindlichen Sexualität kein richtiges Verhältnis gewinnen und wahrscheinlich zur Auskunft greifen, diese Mitteilungen für unglaubwürdig