Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst. AristotelesЧитать онлайн книгу.
Wenn ferner jemand im Irrtum über die Einzelheiten des Falles ein Urteil fällt, so vergeht er sich nicht gegen das gesetzliche Recht und sein Urteil ist nicht unrechtlich, es sieht nur aus wie ein unrechtliches Urteil. Denn das eine ist das gesetzliche, das positive Recht, und das andere das natürliche, das materielle Recht. Hat einer dagegen einen ungerechten Spruch wissentlich gefällt, so ist es auch bei diesem ein selbstsüchtiges Streben was ihn leitet, Gunst bei der einen oder Rache an der anderen Partei; also hat derjenige, der aus solchen Gründen einen ungerechten Spruch fällt, ganz so als ob er vom ungerechten Gut einen Teil an sich gebracht hätte, ein Zuviel für sich genommen. Hat doch auch einer, der in solchem Sinne über das Eigentum an einem Acker entschieden hat, nicht den Acker bekommen, sondern Geld.
Die Menschen nun meinen, es stehe in ihrer Gewalt sich gegen das Recht zu vergehen; darum sei es auch leicht, rechtlich zu verfahren. Indessen, so liegt die Sache doch nicht. Allerdings, mit der Frau des Nachbarn Umgang zu haben, seinen Nächsten zu schlagen, jemandem Bestechung in die Hand zu drücken, ist leicht und steht in der Menschen Gewalt; aber dergleichen zu tun wenn man eine feste Charakterbeschaffenheit hat, ist weder leicht noch steht es in der Menschen Gewalt. Ebenso meint man, es sei keine besondere Wissenschaft, zu wissen was Recht und was Unrecht ist, weil es nicht schwierig sei zu verstehen, was die Gesetze bestimmen. Allein darin besteht nicht das Recht, oder es bestellt darin doch nicht hauptsächlich. Sondern wie man handeln und wie man sich beim Zuerteilen verhalten muß, damit eine dem Recht gemäße Handlung zustande komme, das ist die Aufgabe und noch schwieriger als zu wissen was der Gesundheit zuträglich ist. Auch hier ist es leicht zu wissen, was Honig, was Wein, was Nieswurz, was Brennen und Schneiden ist; aber wie man das zum Zwecke der Gesundheit anzuwenden hat, bei welcher Person, zu welcher Zeit, das ist eine so schwere Aufgabe, daß man dazu ein gelernter Arzt sein muß. Aus eben demselben Grunde meint man wohl, es stehe in eines rechtschaffenen Mannes Vermögen, eben sowohl auch widerrechtlich zu handeln; ein rechtschaffener Mann habe nicht desto weniger, sondern eher noch desto mehr, das Vermögen, alle derartigen Handlungen zu begehen, auch mit dem Weibe eines andern zu leben und einen anderen zu schlagen; ein tapferer Mann könne ebensogut den Schild wegwerfen, den Rücken kehren und beliebig wohin davon laufen. Indessen ein feiger Mensch sein, oder widerrechtlich leben, das bedeutet doch nicht solche Handlungen begehen, oder bedeutet es doch nur als beiläufige Folge; sondern es bedeutet so handeln auf Grund einer bestimmten Gesinnung, wie auch Arzt sein und gesund machen nicht heißt schneiden oder nicht schneiden, Arzenei verordnen oder nicht verordnen, sondern diese bestimmte Beschaffenheit haben.
f) Das Rechtssubjekt
Recht gibt es für solche Wesen, die an den Dingen teilhaben, die an und für sich Güter bedeuten, und die davon zuviel oder zuwenig haben können. Denn es gibt Wesen, bei denen ein Zuviel nicht denkbar ist, wie es doch sicherlich bei den Göttern der Fall ist, und andere, denen auch der kleinste Teil davon nicht zuträglich, sondern denen alles schädlich ist, wie den unheilbar Bösen, und wieder andere, denen es bis zu einem gewissen Maße frommt. Unter Menschen also gilt deshalb das Recht.
g) Billigkeit
Das Erörterte fordert seine Ergänzung in einer Ausführung über den Begriff der Billigkeit und des Billigen und über das Verhältnis der Billigkeit zur Gerechtigkeit und des Billigen zum Gerechten. Genauere Erwägung zeigt, daß das Billige weder schlechthin dasselbe ist wie das Gerechte, noch der Gattung nach davon verschieden ist. Zuweilen gewinnt das Billige und der billiggesinnte Mann unsere Zustimmung, so daß wir den Begriff mit unserem Beifall auch auf andere Gebiete übertragen und es als das Gute über haupt fassen und das in höherem Grade der Billigkeit Entsprechende als das Bessere anerkennen. Zuweilen aber erscheint es, indem man sich streng an das Wort hält, unstatthaft, daß das Billige Zustimmung verdienen soll, wenn es doch wider das Gerechte ist. Entweder sei das Gerechte nichts wert, oder das Billige sei nicht gerecht, wenn es ein anderes ist als das Gerechte; oder wenn beide wertvoll seien, so seien sie dasselbe. Das etwa sind die Erwägungen, aus denen sich die Bedenken, die das Billige erregt, ergeben. Indessen, wenngleich das alles in gewissem Sinne richtig ist, es ist doch kein eigentlicher Gegensatz zwischen beiden. Das Billige, indem es besser ist als eine gewisse Art des Gerechten, ist selbst ein Gerechtes; es ist nicht, als gehörte es einer anderen Gattung an, besser als das Gerechte. Es ist also Gerechtes und Billiges dasselbe, und während beide wertvoll sind, ist das Billige das Höherstehende von beiden.
Was die Schwierigkeit dabei ausmacht, ist dies, daß das Billige wohl ein Gerechtes ist, aber nicht das Gerechte im Sinne des positiven Gesetzes, sondern im Sinne einer Verbesserung des nach dem Gesetze Gerechten. Der Grund liegt darin, daß jedes Gesetz eine allgemeine Bestimmung ist, manche Fälle aber nicht nach einer solchen allgemeinen Bestimmung richtig behandelt werden können. In solchen Fällen nun, wo man eine allgemeine Bestimmung festsetzen muß und eine solche doch nicht zutreffend abzugeben vermag, erfaßt das Gesetz den Durchschnitt der Fälle, wohl wissend, was darin für ein Fehler begangen wird. Und doch verfährt es deshalb nicht weniger richtig. Denn der Fehler liegt nicht am Gesetz, auch nicht am Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache. Das Material für alles praktische Verhalten ist nun einmal von dieser Beschaffenheit. Wenn also das Gesetz eine allgemeine Bestimmung trifft, ein einzelner Fall aber vorkommt, auf den die allgemeine Bestimmung nicht paßt, dann ist es ganz angemessen, da wo der Gesetzgeber versagt und mit der allgemeinen Bestimmung dieser Art den besonderen Fall nicht getroffen hat, das von ihm Übersehene zu ergänzen durch einen Spruch, wie ihn der Gesetzgeber selbst fallen würde, wenn er zugegen wäre, und wie er die Bestimmung getroffen haben würde, wenn er den Fall vorausgesehen hätte. Daher ist das Billige ein Gerechtes und besser als eine gewisse Art des Gerechten, nicht als das Gerechte schlechthin, sondern als das die Sache nicht Treffende, was in der Allgemeinheit der Bestimmung seinen Grund hat.
Das also ist das Wesen des Billigen, eine Ergänzung des Gesetzes zu bilden, wo es wegen seines Charakters als allgemeiner Bestimmung unzulänglich ist. Darin liegt der Grund auch dafür, daß nicht alles durch Gesetz festgelegt ist. Es gibt manches, was durch ein Gesetz zu treffen unmöglich ist, so daß es einer Spezialbestimmung bedarf. Denn für die Behandlung des Unbestimmten ist auch der Maßstab unbestimmt, wie bei der auf Lesbos üblichen Bauweise auch das Richtscheit, das von Blei ist. Wie dieses sich der Form des Steines anschmiegt und nicht starr verharrt, ebenso macht es ein Spezialgesetz mit den realen Verhältnissen.
Man sieht also, was das Wesen des Billigen ist, und daß es ein Gerechtes und besser ist als ein Gerechtes von gewisser Art. Daraus geht denn auch hervor, wer ein billig gesinnter Mann ist. Billigkeit liebt, wer jenes Billige mit Vorsatz anstrebt und ausübt, wer nicht in pedantischer Strenge den Rechtssatz zum Schlimmeren auslegt, sondern ihn zu mildern geneigt ist auch da wo er das Gesetz auf seiner Seite hätte. Diese Gesinnung nennt man Billigkeit. Sie ist eine Art der Gerechtigkeit, und nicht eine von dieser verschiedene Denkungsart.
h) Unrecht der Person wider sich selbst
Aus unseren Erörterungen ergibt sich nun auch die Antwort auf die Frage, ob es möglich ist sich selbst Unrecht zu tun oder nicht. Was dem Gebiete des Gerechten angehört, wird bezeichnet durch das was das Gesetz in bezug auf jeden Zweig sittlicher Lebensführung anordnet, z.B. das Gesetz gebietet nicht, sich selbst zu töten, und was es nicht zu töten gebietet, das zu töten verbietet es. Ferner, wenn jemand widerrechtlich einen anderen mit freiem Willen schädigt und damit nicht bloß erlittene Verletzung vergilt, so tut er Unrecht; mit freiem Willen aber tut es, wer die Person, die er trifft, und das Werkzeug kennt. Wer nun in leidenschaftlicher Aufregung sich tötet, der tut wollend wider die gesunde Einsicht, was das Gesetz nicht zuläßt; also fügt er Unrecht zu. Aber wem? doch wohl dem Staate, nicht sich selber. Denn er erleidet es mit seinem Willen; niemand aber erleidet mit seinem Willen Unrecht. Darum setzt auch der