Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist. Jan SkudlarekЧитать онлайн книгу.
ist sogar zu riechen (Kunstleder riecht oft chemisch).
Was lernen wir vom Leder?
Es kommt auf die Umstände an. Den Gesamtkontext. Wie nah sind wir dran? Was können wir überhaupt erkennen? Was wissen wir? Echtheit und Unechtheit erfassen wir mit den Sinnen. Wir sehen, fühlen, riechen. Ziehen Schlüsse auf Grundlage dieser Eindrücke. Das Erkennen der Wirklichkeit ist ein körperliches und ein gedankliches Erkennen.
Stoffliche und soziale Echtheit
Es geht um Schein und um Sein. Und es geht nicht nur um Leder. Das Prinzip, das sich beim Unterschied zwischen Leder und Kunstleder zeigt, ist das Prinzip der stofflichen Echtheit. Ein Ding X ist das, was es ist, weil es stofflich so beschaffen ist, die Definition von X zu erfüllen. Nur weiterverarbeitete Tierhaut ist Leder, so will es unsere Definition. Der echte Stoff eben.
Genug geledert.
Stoffliche Echtheit gilt für allerlei Dinge. Ein Diamantring mag auf dich und mich wie ein Diamantring wirken – ein echter Diamant ist es nur dann, wenn der Stein ein natürlich entstandenes Mineral ist, eine bestimmte Dichte und Härte aufweist, seltene optische Eigenschaften verkörpert und so weiter. Strass, also kunstvoll geschliffenes Glas, kann für Laien aussehen wie Diamant.
Oder denken wir an Gold. Gold ist nur dann Gold, wenn es die von uns anerkannten Gold-Eigenschaften besitzt – also nicht nur die typische Farbe, sondern einen Schmelzpunkt bei 1064 °C usw. Es ist bekanntlich nicht alles Gold, was glänzt (es gibt eine eigene Debatte in der Philosophie, ob das, was wir auf fremden Planeten für Wasser halten, tatsächlich Wasser ist und warum).
Als ersten Punkt können wir festhalten: Zwischen »echt« und »unecht« besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung. Wenn wir ein Ding X (fälschlicherweise) für ein Ding Y halten, dann deswegen, weil zwischen Ding X und Ding Y eine augenscheinliche Ähnlichkeit besteht. Diese Ähnlichkeitsbeziehung bedingt die Verwechslungsgefahr. Wir verwechseln z. B. Plastikpflanzen mit echten Pflanzen. Weil sie sich ähnlich sehen und weil sie sich ähnlich sehen sollen. Dinge, die sich nicht ähnlich sehen, verwechseln wir nicht (z. B. verwechselt niemand einen Schlüsselbund mit einem Stuhl oder eine Waschmaschine mit einem Zeppelin). Doch: Schein und Sein liegen bisweilen nah beieinander.
Auf der Suche nach dem Wesen der Echtheit stellen wir fest: Optische Ähnlichkeit reicht allein nicht aus. Was echt aussieht, ist es nicht unbedingt auch.
Diese Einsicht ist weniger trivial, als man vielleicht meint. Immerhin beurteilen wir sehr vieles im Leben erst mal nach dem Aussehen. Man soll aber ein Buch nie nur nach seinem Umschlag bewerten – das kann bitteres Erwachen bedeuten, wenn der Schein trügt.
Jenseits stofflicher Echtheit gibt es weitere wichtige Fälle von Echtheit und Unechtheit. Fälle, in denen die rein physische Beschaffenheit nicht ausschlaggebend ist wie etwa bei Gold.
Ich spreche von sozialer Echtheit.
Einen echten Juristen z. B. erkennt man nicht daran, dass er besonders groß oder klein ist oder einen Schmelzpunkt von 1064 °C hat. Du bist ein echter Jurist, wenn du die in deinem Land übliche juristische Ausbildung erfolgreich absolviert hast. Die verantwortlichen Institutionen verleihen dir den Status »Jurist«.
Ganz ähnlich ist es mit anderen sozialen Rollen. Vor allem Berufe haben Echtheitskriterien. Für viele von ihnen gelten klare Regeln, wer sich wann wie nennen darf. Polizist, Arzt, Ingenieur, Richter, Psychologe, KFZ-Mechaniker – alles Berufe, bei denen die Gesellschaft regelt, wer unter welchen Umständen so auftreten und sich so nennen darf.
Der Zusammenhang von Sein und Schein ist bei sozialer Echtheit mehrdeutiger als bei stofflicher. Einerseits gibt es Merkmale, die uns darauf hinweisen, mit wem wir es zu tun haben. Nicht immer, aber durchaus häufig. Polizisten tragen Uniform, Richter eine Robe, Ärzte oft Weiß. Andererseits ist der Status (also das echte Sein) nicht an den Schein gebunden. Ein Polizist ist immer noch ein Polizist, wenn er seine Uniform auszieht, der Arzt ein Arzt, wenn er im Schwimmbad ist, der Richter ein Richter, wenn er keine Robe trägt, sondern ein Nachthemd. Anders herum bin ich noch kein echter Polizist, Arzt oder Richter, nur weil ich die entsprechende Kleidung trage. Uniformen repräsentieren die Rollen und Funktionen. Sie sind es nicht.
Ohne Regeln, die soziale Echtheit garantieren, könnte ich heute aufstehen, einen Kittel anziehen und mich »Arzt« nennen. Das könnte jedoch üble Konsequenzen haben: Ich könnte Menschen verletzen, ja, für ihren Tod verantwortlich sein. Bevor also jemand zu Schaden kommt, sollten wir lieber auf solche Experimente verzichten. Doch nicht alle halten sich an gesellschaftliche Echtheitsregeln (trotz hoher Strafen für Amtsanmaßung, Betrug usw.).
Immer wieder kommt es zu spektakulären Fällen von Betrug und Hochstapelei. So arbeitete Gert P., gelernter Postzusteller aus Bremen, in den 1980er und 1990er Jahren bei mehreren Arbeitgebern als leitender Arzt. Mit einer Mischung aus angelesenem Wissen, Urkundenfälschung und dreister Lüge gelang es ihm, sich gegen andere, angemessen qualifizierte Bewerber durchzusetzen. Er war jeweils mehrere Monate lang als Facharzt für Psychotherapie tätig, sogar als Oberarzt; er schrieb Rezepte und Gutachten. Durch sein selbstsicheres Auftreten dauerte es, bis jemand Verdacht schöpfte.
Zu keinem Zeitpunkt war Gert P. ein echter Arzt.
Auch wenn er sich zeitweise so verhielt.
Er verhielt sich wie ein echter Arzt.
Zwei Fälle von (Un-)Echtheit
Rachel Dolezal war bis 2015 Lehrbeauftragte für afroamerikanische Studien an der Eastern Washington Universität und darüber hinaus aktiv in der schwarzen Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). Es kam zu einer Kontroverse, als die Öffentlichkeit erfuhr, dass Dolezal – eine sympathisch wirkende Frau mit hellbrauner Haut, die stets behauptete, einen schwarzen Vater und eine weiße Mutter zu haben – keinerlei »echte« schwarze Abstammung vorweisen kann. Ihre Eltern sind beide weiß. Ihre Haut: offenbar gebräunt. Sich als Afroamerikanerin auszugeben, ohne eine solche zu sein, kostete sie ihren Lehrauftrag und ihre Rolle in der afroamerikanischen Bürgerrechtsorganisation. Ein Shitstorm in den sozialen Medien war die Folge, und Dolezal wurde zur Persona non grata. Rachel Dolezal bleibt bis heute bei ihrer Behauptung, sie sei »eigentlich schwarz«.
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Was haben einige Gemälde von Max Ernst, Heinrich Campendonk und Fernand Léger miteinander gemein? Sie wurden alle vom selben Maler gemalt. Wolfgang Beltracchi. Besser gesagt: Gefälscht. Der als »Jahrhundertfälscher« geltende Beltracchi hatte über Jahre hinweg nahezu perfekte Bilder in den Stilen bekannter Maler gefälscht – und natürlich leicht verkauft. Insbesondere die verantwortlichen Experten und Gutachter waren fest davon überzeugt, unentdeckte oder verschollene Bilder wichtiger Künstler vorliegen zu haben. Die Wahrheit: Beltracchi malte alles selber, ergaunerte sich auf diese Weise Millionen. Schlussendlich flog alles auf, weil er versehentlich einen Weißton benutzt hatte, der modernes Titanweiß enthielt und somit nicht in die angegebene Entstehungszeit passte. Der echte Kunstfälscher Beltracchi, der einen Schaden in zweistelliger Millionenhöhe verursachte, wurde 2011 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Mittlerweile ist er aus der Haft entlassen. Durch die Kombination aus seinem beachtlichen handwerklichen Können und seinem Ruf als ehemaliger Meisterfälscher ist heute ein »echter Beltracchi«, also ein ungefälschtes Bild von ihm selbst, ordentlich viel Geld wert.
Die Ähnlichkeitsbeziehung, die den Unterschied zwischen »echt« und »unecht« macht, lag in diesem Fall auf der Verhaltensebene. Weil ich mich wie ein Arzt verhalte, bin ich noch lange keiner. Zur sozialen Echtheit gehört, dass ich die Herkunftskriterien erfülle, die zur jeweiligen Rolle gehören. Soll heißen: Die Geschichte. Für den Fall des Mediziners heißt das: Der Mediziner gilt deshalb als echter Doktor, weil er ein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen hat, Arzt im Praktikum war, sein zweites Staatsexamen abgelegt und vielleicht sogar eine Doktorarbeit geschrieben, also den Anforderungen entsprochen hat, die man erfüllen muss, um den Titel tragen zu dürfen. Das ist seine berufliche Geschichte. (»Echter Doktor« bin ich übrigens auch, und wenn Sie diese Zeilen lesen, befinden Sie sich ja offensichtlich bereits in meiner Behandlung.)
Wir