Der behauste Mensch. Kurt E. BeckerЧитать онлайн книгу.
Jeder wohnt für sich und von den Nachbarn entfernt, wie gerade ein Quell, ein Feld, ein Gehölz zur Siedlung ladet. Der germanische Weiler bildet nicht die geschlossenen Häuserreihen des römischen Dorfes; jeder stellt sein Haus nach allen Seiten frei, vielleicht zum Schutz gegen Feuersgefahr, vielleicht weil man es überhaupt nicht besser versteht.
Mit welchen Materialien und wie wird denn gebaut?
Tacitus: Steinbau und Ziegeldach sind unbekannt; alles ist von Holz, plump und ohne Rücksicht auf Auge und Schönheit. Nur werden einzelne Teile des Baus mit einer feinen glänzenden Lehmart übertüncht und erinnern so einigermaßen an Malerei und Farbenornamentik.
Mit den »Kellern« der Behausungen hat es eine besondere Bewandtnis?!
Tacitus: Unterirdische Höhlen graben sie sich, belasten die Wölbung noch mit einer dichten Dungschicht und schaffen sich so eine Zuflucht für den Winter und einen Bergungsort für Lebensmittel. Ein solcher Bau macht die Strenge der Winterkälte erträglicher.
Die germanische Wirtschaft kommt völlig ohne Geldmittel aus …?
Tacitus: Geldgeschäft und Wucherzins sind unbekannte Dinge und darum gewissenhafter gemieden, als wenn sie gesetzlich verboten wären.
Die Allmende gehörte zu den germanischen Selbstverständlichkeiten?!
Tacitus: Die Feldmarkung, je nach der Anzahl der Bebauer größer oder kleiner, gehört der ganzen Gemeinde als Gesamtbesitz, und diese verteilt die Grundstücke unter ihre Mitglieder nach Maßgabe des Ranges.
Und auch mit dem Ackerbau hatte es eine besondere Bewandtnis …
Tacitus: In den Wettkampf mit der Ertragfähigkeit und Ausdehnung des Bodens seine Arbeit einzusetzen, Obstpflanzungen anzulegen, Wiesland auszuscheiden, einen Garten zu bewässern, versteht der Germane nicht; nur seine Aussaat an Getreide soll ihm die Erde leisten.
Herr Tacitus, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Publius Cornelius Tacitus, geboren um 58 n. Chr., gestorben um 120, war ein bedeutender römischer Historiker und Senator. Zu seinen bedeutendsten Schriften gehört »De origine et situ Germanorum liber« über Geografie und Kultur der Germanen, seinen Landsleuten nicht zuletzt als Gegenbild der eigenen korrupten und dekadenten Gesellschaft vor Augen gehalten.
Gespräche zur Architektur
»Dauer und Festigkeit«
*
Die schönste Baukunst auf Erden
Im Gespräch mit Jacob Burckhardt
Herr Professor Burckhardt, lassen Sie uns über den großen Michelangelo Buonarroti als Architekten miteinander sprechen, bitte.
Burckhardt: Michelangelo hat sich nicht zur Architektur gedrängt. Seine dämonisch gewaltige Formenbehandlung in der Skulptur und Malerei brachte die Bauherren darauf, von ihm auch Rat, Entwurf und Leitung für die Gebäude zu verlangen. Der erste Auftrag (1514 durch Leo X.) war eine Fassade für S. Lorenzo in Florenz; sein Plan wurde allen andern, auch demjenigen Raffaels, vorgezogen. Man bewahrt eine Skizze desselben noch im Palazzo Buonarroti, den er selbst viele Jahre bewohnte und den sein Neffe, der als Dichter bekannte Michelangelo Buonarroti der Jüngere, zu einem Museum für das Andenken des Oheims eingerichtet hat.
Ab wann, mit welchem Bauwerk begann Michelangelos Wirkungsgeschichte als Architekt?
Burckhardt: Ganz frei gestaltend treffen wir ihn erst in der berühmten Grabkapelle der Mediceer (sog. Sagrestia nuova) am rechten Querschiff derselben Kirche. Keinem Künstler ist je freiere Hand gelassen worden; man kann kaum entscheiden, ob er die Kapelle für seine Denkmäler baute oder die Denkmäler für die Kapelle meißelte (um 1529). Als Ganzes ist sie ein leichtes, herrliches Gebäude, welches das Prinzip brunelleschischer Sakristeien auf das Geistvollste erweitert und erhöht darstellt. Es ist nicht bloß die reinere und vollständigere Handhabung einer unteren und einer oberen Pilasterordnung, was hier den ganzen Fortschritt des 16. Jahrhunderts im Verhältnis zum 15. klarmacht, sondern vor allem ein höheres Gefühl der Verhältnisse. Man übersieht daneben einzelne schon überaus bedenkliche Füllformen, z. B. die Nischen über den Türen u. dgl.; man rechtfertigt die Schrägpfosten der oberen Fenster vielleicht sogar durch altetruskische Vorbilder und die Ausfüllung der beiden Grabnischen mit einer spielenden Architektur durch den Vorteil, dass die Figuren um so viel größer scheinen.
Worin besteht denn das Besondere seiner Architektur?
Burckhardt: Seine wahre Größe liegt hier wie überall in den Verhältnissen, die er nirgends, auch nicht von den antiken Bauten, kopiert, sondern aus eigener Machtfülle erschafft, wie sie der Gegenstand gestattet. Sein erster Gedanke ist nie die Einzelbildung, auch nicht der konstruktive Organismus, sondern das große Gegeneinanderwirken von Licht- und Schattenmassen, von einwärts- und auswärtstretenden Partien, von oberen und unteren, mittleren und flankierenden Flächen. Er ist vorzugsweise der im Großen rechnende Komponist. Vom Detail verlangt er nichts als eine scharfe, wirksame Bildung. Die Folge war, dass dasselbe unter seinen Händen ganz furchtbar verwilderte und später allen Bravourarchitekten für die größten Missformen zur Entschuldigung dienen konnte …
Zu seinen Spätwerken gehört die Porta Pia.
Burckhardt: Ein verrufenes Gebäude, scheinbar reine Kaprice; aber ein inneres Gesetz, das der Meister sich selber schafft, lebt in den Verhältnissen und in der örtlichen Wirkung der an sich ganz willkürlichen Einzelformen. Diese Fenster, dieser starkschattige Torgiebel usw. geben mit den Hauptlinien zusammen ein Ganzes, das man auf den ersten Blick nur einem großen, wenn auch verirrten Künstler zutrauen wird. Innerhalb der Willkür herrscht eine Entschiedenheit, welche fast Notwendigkeit scheint.
Zu erwähnen wären sicher viele weitere Großwerke wie der Umbau der Diokletiansthermen zur Kirche S. Maria degli Angeli oder sein Beitrag zu den kapitolinischen Bauten. Aber lassen Sie uns abschließend auf den Petersdom zu sprechen kommen.
Burckhardt: Erst als Greis erhielt Michelangelo durch Paul III. den Auftrag zur Vollendung der S. Peterskirche, von welcher hier im Zusammenhang die Rede sein muss. Ohne auf die Geschichte des Baues im Einzelnen einzugehen …
Nach der Zwischenherrschaft des jüngern San Gallo trat Michelangelo ein. Es bedurfte seines ganzen schon gewonnenen Ruhmes und seiner Verzichtung auf jeden Lohn, um seinem Entwurf den Sieg zu sichern. Eine der Freskoansichten des damaligen Roms in der vatikanischen Bibliothek stellt den Bau ungefähr so dar, wie er ihn haben wollte: ein gleicharmiges Kreuz, dessen vorderer Arm in der Mitte der Fassade eine nur viersäulige, aber in riesigem Maßstab gedachte Vorhalle aufweist. Die Kuppel hätte diesen vorderen Arm des Kreuzes ebenso völlig beherrscht als die gleich langen drei übrigen Arme. – Von dem jetzt vorhandenen Gebäude hat Michelangelo zunächst die Außenseiten der hinteren Teile des Unterbaues mit Pilastern und Attika zu verantworten. Sie sind eine bizarre, willkürliche Hülle, die Bramantes Entwurf schmerzlich bedauern lässt; die vier Ecken zwischen den halbrund heraustretenden Tribünen sind durch schräge Wände abgestumpft; die Fenster zeigen eine Bildung, die an Kaprice mit der Porta Pia wetteifert … Viel gemäßigter verfuhr Michelangelo im Innern, dessen Organismus (Pilaster, Nischen, Gesimse, auch wohl die Angabe des Gewölbes) wenigstens soweit ihm angehört, als nicht späterer, zumal farbiger Schmuck einen neuen Sinn hineingebracht hat … Das hier ausgesprochene System ist es, welches einen so ungeheuren Einfluss auf den Innenbau der ganzen katholischen Welt ausgeübt hat und als Kanon in tausend Variationen nachgeahmt wurde. Als einfaches Gerüst ist diese Bekleidung großartig gedacht; das Vor- und Zurücktreten des Gesimses ist verhältnismäßig sparsam gehandhabt, sodass dem Letzteren seine herrschende Wirkung bleibt; die Pilaster sind ebenfalls noch einfach; erst die Nachahmer wollten durch Vervielfältigung der Glieder die Wirkung überbieten. Die Kassettierung der großen Tonnengewölbe, zwar erst beträchtlich später, aber doch wohl nach der Absicht des großen Meisters ausgeführt, ist in ihrer Art klassisch zu nennen und unbedenklich als das beste Detail der ganzen Kirche zu betrachten,