Nikomachische Ethik. AristotelesЧитать онлайн книгу.
da sie bewirkt, daß wir gut sehen. Desgleichen macht die Tüchtigkeit des Pferdes, daß es selbst gut ist, und daß es gut läuft, den Reiter gut trägt und vor dem Feinde gut stand hält. Wenn sich dieses nun bei allem so verhält, so muß auch die Tugend des Menschen ein Habitus sein, vermöge dessen er selbst gut ist und sein Werk gut verrichtet.
Wie das geschehen könne, haben wir schon angegeben, stellt sich aber auch noch auf anderem Wege heraus, wenn wir betrachten, von welcher Art die Natur der Tugend ist. In allem, was kontinuierlich und was teilbar ist, läßt sich ein Mehr, ein Weniger und ein Gleiches antreffen, und zwar entweder mit Rücksicht auf die Sache selbst oder mit Rücksicht auf uns. Das Gleiche aber ist ein Mittleres zwischen Übermaß und Mangel. Mittleres der Sache nach nennen wir dasjenige, was von beiden Enden gleich weit entfernt ist, und dieses ist bei allem eines und dasselbe, dagegen Mittleres für uns, was weder ein Übermaß noch einen Mangel hat, und dieses ist nicht bei allem eines und dasselbe. Wenn z. B. zehn viel sind und zwei wenig, so nimmt man sechs für das der Sache nach Mittlere, weil es um gleich viel mehr und weniger ist. Das ist die Mitte nach dem arithmetischen Verhältnisse. Das Mittlere für uns kann dagegen so nicht bestimmt werden. Wenn für (1106b) jemanden zehn Pfund zu verzehren viel sind und zwei Pfund wenig, so wird der Ringmeister nicht sechs vorschreiben. Denn auch das ist vielleicht für den, der sie zu sich nehmen soll, viel oder wenig, wenig für einen Milo43, viel für einen Anfänger in den Übungen. Dasselbe gilt für den Wettlauf und Ringkampf. So meidet denn jeder Kundige das Übermaß und den Mangel und sucht und wählt die Mitte, nicht die Mitte der Sache nach, sondern die Mitte für uns.
Wenn nun jede Wissenschaft und Kunst ihre Leistung dadurch zu einer vollkommenen gestaltet, daß sie auf die Mitte sieht und dieselbe zum Zielpunkte ihres Tuns macht – deswegen pflegt man ja von gut ausgeführten Werken zu sagen, es lasse sich nichts davon und nichts dazu tun, in der Überzeugung, daß Übermaß und Mangel die Güte aufhebt, die Mitte aber sie erhält –, wenn also die guten Künstler wie gesagt diese Mitte bei ihrer Arbeit im Auge behalten, und wenn die Tugend gleich der Natur sicherer und besser ist als alle Kunst44, so muß wohl dies als Schlußsatz sich ergeben, daß die Tugend nach der Mitte zielt, die sittliche oder Charaktertugend wohl verstanden, da sie es mit den Affekten und Handlungen zu tun hat, bei denen es eben ein Übermaß, einen Mangel und ein Mittleres gibt. Beim Zagen z. B. und beim Trotzen, beim Begehren, Zürnen, Bemitleiden und überhaupt bei aller Empfindung von Lust und Unlust gibt es ein Zuviel und Zuwenig, und beides ist nicht gut; dagegen diese Affekte zu haben, wann man soll, und worüber und gegen wen und weswegen und wie man soll, das ist die Mitte und das Beste, und das ist die Leistung der Tugend. Ebenso gibt es bei den Handlungen ein Übermaß, einen Mangel und eine Mitte. Die Tugend aber liegt auf dem Felde der Affekte und Handlungen, wo das Übermaß verfehlt ist und der Mangel Tadel erfährt, die Mitte aber Lob erntet und das Rechte trifft. Beides aber, gelobt werden und das Rechte treffen, ist der Tugend eigentümlich. Mithin ist die Tugend eine Mitte, da es ihr wesentlich ist, nach dem Mittleren zu zielen.
Ferner kann man auf vielfache Weise fehlen – das Schlechte gehört ja zum Unbegrenzten, wie die Pythagoreer bildlich sagten, das Gute aber zum Begrenzten –, dagegen kann man es nur auf eine Weise recht machen; weshalb auch jenes leicht ist und dieses schwer45. Denn es ist leicht das Ziel zu verfehlen, aber schwer es zu treffen. Auch aus diesem Grunde gehört demnach das Übermaß und der Mangel dem Laster an, die Mitte aber der Tugend. Denn »Nur eine Weise kennt die Tugend, doch viele das Laster«46.
Sechstes Kapitel.
Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der (1107a) die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt. Die Mitte ist die zwischen einem doppelten fehlerhaften Habitus, dem Fehler des Übermaßes und des Mangels; sie ist aber auch noch insofern Mitte, als sie in den Affekten und Handlungen das Mittlere findet und wählt, während die Fehler in dieser Beziehung darin bestehen, daß das rechte Maß nicht erreicht oder überschritten wird.
Deshalb ist die Tugend nach ihrer Substanz und ihrem Wesensbegriff Mitte; insofern sie aber das Beste ist und alles gut ausführt, ist sie Äußerstes und Ende.
Doch faßt nicht jede Handlung oder jeder Affekt eine Mitte, da sowohl manche Affekte, wie Schadenfreude, Schamlosigkeit und Neid, als auch manche Handlungen, wie Ehebruch, Diebstahl und Mord, schon ihrem Namen nach die Schlechtigkeit in sich schließen. Denn alles dieses und ähnliches wird darum getadelt, weil es selbst schlecht ist, nicht sein Zuviel und Zuwenig. Demnach gibt es hier nie ein richtiges Verhalten, sondern immer lediglich ein verkehrtes, und das Gute und Schlechte liegt bei solchen Dingen nicht in den Umständen, wie wenn es sich z. B. beim Ehebruch darum fragte, mit wem und wann und wie er erlaubt sei, sondern es ist überhaupt gefehlt, irgend etwas derartiges zu tun. Ebensowenig nun darf man bei der Ungerechtigkeit, Feigheit und Zuchtlosigkeit nach einer Mitte oder nach einem Zuviel oder Zuwenig fragen. Denn so bekämen wir eine Mitte des Zuviel und Zuwenig und ein Zuviel des Zuviel und ein Zuwenig des Zuwenig. Wie es vielmehr bei der Mäßigkeit und dem Starkmut kein Zuviel und Zuwenig gibt, weil die Mitte gewissermaßen Ende und Äußerstes ist, so gibt es auch in jenen Dingen keine Mitte und kein Zuviel und Zuwenig, sondern wie man sie auch tun mag, immer ist es gefehlt. Denn es gibt beim Zuviel und Zuwenig überhaupt keine Mitte, wie bei der Mitte kein Zuviel und Zuwenig.
Siebentes Kapitel.
Dies ist aber nicht nur so allgemein aufzustellen, sondern auch ins Einzelne zu verfolgen. In den Erörterungen, die das Handeln betreffen, sind die allgemeinen Sätze am leersten, während die partikulären einen größeren Inhalt an Wahrheit haben. Denn die Handlungen bewegen sich um das Einzelne, und mit ihm müssen die Behauptungen übereinstimmen. Dieses Einzelne wollen wir aus der Einteilung entnehmen.
Bei den Affekten der Furcht und der Zuversicht ist der (1107b) Mut die Mitte. Wer hier durch Übermaß fehlt, hat, wenn es durch Furchtlosigkeit geschieht, keinen besonderen Namen – wie denn so manches keine eigene Benennung hat –, geschieht es aber durch ein Übermaß von Zuversicht, so heißt er tollkühn; wer aber durch ein Übermaß von Furcht und einen Mangel an Zuversicht fehlt, heißt feig.
Bei den Affekten der Lust und der Unlust, nicht bei allen jedoch und am wenigsten bei allen Unlustempfindungen, ist die Mitte Mäßigkeit, das Übermaß Zuchtlosigkeit oder Unmäßigkeit. Menschen, die auf dem Gebiete der Lustempfindungen zu wenig tun, gibt es wohl kaum. Darum haben auch sie keinen eigenen Namen erhalten. Wir wollen sie indessen unempfindlich nennen47.
In Geldsachen, im Geben wie im Nehmen, ist die Mitte Freigebigkeit, das Übermaß und der Mangel Verschwendung und Geiz, und zwar so, daß beide Fehler beide Extreme aufweisen, jedoch umgekehrt zu einander. Der Verschwender gibt zu viel und nimmt zu wenig; der Geizige dagegen nimmt zu viel und gibt zu wenig. Diese allgemeinen und summarischen Daten mögen einstweilen genügen. Später48 wollen wir hierüber Genaueres feststellen.
Es gibt auch in Geldsachen noch andere Charaktereigenschaften : die Hochherzigkeit als Mitte (denn der Hochherzige unterscheidet sich von dem Freigebigen: bei ihm handelt es sich um großes, bei dem anderen um kleines), ferner die Sucht, geschmacklosen und großtuerischen Aufwand zu machen, als Übermaß, endlich die Engherzigkeit als Mangel. Diese Extreme decken sich nicht mit denen der Freigebigkeit. Inwiefern sie es nicht tun, soll später gesagt werden.
In Bezug auf Ehre und Schande ist die Mitte Hochsinn, das Übermaß heißt Aufgeblasenheit, der Mangel ist niederer Sinn. Wie aber nach dem vorhin Gesagten die Freigebigkeit, deren unterscheidendes Merkmal darin liegt, sich im Kleinen zu betätigen, sich zu der Hochherzigkeit verhält, so verhält sich zum Hochsinn, der auf große Ehre gerichtet ist, eine gewisse Eigenschaft, die auf die Ehre im Kleinen ausgeht. Man kann nämlich auf die rechte Weise nach der Ehre verlangen und mehr, als recht ist, und weniger. Wer in diesem Verlangen zu weit geht, heißt ehrgeizig; wer nicht weit genug geht, heißt ein Mensch ohne Ehrgeiz;