Nikomachische Ethik. AristotelesЧитать онлайн книгу.
es umfaßt nicht weniger als 43 Nummern; ein Verzeichnis der Ausgaben von Stücken der Ethik; ein Verzeichnis der Übersetzungen ins Lateinische und lebende Sprachen. Von deutschen Übersetzungen der ganzen Ethik nennt sie seit dem Jahre 1791 sechs. Ihnen ist beizufügen die Übertragung von Professor Adolf Lasson vom vorigen Jahre, Jena, Diederichs.
Auch die Kommentare werden bei Susemihl-Apelt namhaft gemacht: die drei griechischen, die seit 1889 im Auftrag der Berliner Kgl. preuß. Akademie der Wissenschaften von Heylbut neu ediert worden sind, und die drei lateinischen von Muret, Kamerarius und Giphanius, die scheints seit langem nicht mehr neu aufgelegt worden sind. Bezeichnender Weise fehlt in dem Verzeichnis der lateinische Kommentar von Thomas von Aquin, † 1274: Sancti Thomae Aquinatis Commentarium in X Libros Ethicorum ad Nicomachum. Grade dieser Kommentar aber ist für die Erklärung der Ethik, wie überhaupt die Thomaskommentare für die Aristoteleserklärung, von unschätzbarem Werte. Thomas ist ein dem Aristoteles kongenialer Geist. Diese beiden Männer ragen in der Reihe der anderen Geisteskoryphäen, die uns die Jahrhunderte und Jahrtausende gebracht haben, in ganz eigener Größe empor. Thomas ist auch der Dolmetsch der Auffassung des Aristoteles seitens der mittelalterlichen Wissenschaft. Wenn ich in der vorliegenden Übersetzung und Erklärung der Ethik den Kommentar von Thomas mit Vorzug benutzt habe, so gibt mir das die Hoffnung, daß ich auch nach den trefflichen Leistungen meiner Vorgänger keine überflüssige Arbeit bringe.
In dem Verzeichnis bei Susemihl-Apelt fehlt auch der lateinische Kommentar des italienischen Jesuiten Silvester Maurus, † 1687, der eine Paraphrase zu sämtlichen Werken des Aristoteles verfaßt hat. Von derselben sind 4 Bände von Franz Ehrle S. J. neu ediert worden, Paris, Lethielleux 1885/86. Auch dieser Kommentar hat mir gute Dienste geleistet. Bei Maurus, der ein tüchtiger Grieche war, ist die philologische Seite der Aufgabe mehr berücksichtigt worden als bei Thomas, der ihm übrigens in der philosophischen Auslegung der aristotelischen Gedanken maßgebend ist.
Brühl, Rheinland, den 17. Aug. 1910.
Rolfes.
Erstes Buch.
Erstes Kapitel.
(1094a) Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluß1, scheint ein Gut zu erstreben2, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet3 hat, wonach alles strebt. Doch zeigt sich ein Unterschied der Ziele. Die einen sind Tätigkeiten, die anderen noch gewisse Werke oder Dinge außer ihnen. Wo bestimmte Ziele außer den Handlungen bestehen, da sind die Dinge ihrer Natur noch besser als die Tätigkeiten4.
Da der Handlungen, Künste und Wissenschaften viele sind, ergeben sich auch viele Ziele. Das Ziel der Heilkunst ist die Gesundheit, das der Schiffsbaukunst das Schiff, das der Strategik der Sieg, das der Wirtschaftskunst der Reichtum. Wo solche Verrichtungen unter einem Vermögen stehen, wie z. B. die Sattlerkunst und die sonstigen mit der Herstellung des Pferdezeuges beschäftigten Gewerbe unter der Reitkunst, und diese wieder nebst aller auf das Kriegswesen gerichteten Tätigkeit unter der Strategik, und ebenso andere unter anderen, da sind jedesmal die Ziele der architektonischen, d. h. der leitenden Verrichtungen vorzüglicher als die Ziele der untergeordneten, da letztere nur um der ersteren willen verfolgt werden. Und hier macht es keinen Unterschied, ob die Tätigkeiten selbst das Ziel der Handlungen bilden oder außer ihnen noch etwas anderes, wie es bei den genannten Künsten der Fall ist5.
Wenn es nun ein Ziel des Handelns gibt, das wir seiner selbstwegen wollen, und das andere nur um seinetwillen, und wenn wir nicht alles wegen eines anderen uns zum Zwecke setzen – denn da ginge die Sache ins unendliche fort, und das menschliche Begehren wäre leer und eitel –, so muß ein solches Ziel offenbar das Gute und das Beste sein. Sollte seine Erkenntnis nicht auch für das Leben eine große Bedeutung haben und uns helfen, gleich den Schützen, die ein festes Ziel haben, das Rechte besser zu treffen? So gilt es denn, es wenigstens im Umriß darzustellen, und zu ermitteln, was es ist und zu welcher Wissenschaft oder zu welchem Vermögen6 es gehört.
Allem Anscheine nach gehört es der maßgebendsten und im höchsten Sinne leitenden Wissenschaft an, und das (1094b) ist offenbar die Staatskunst. Sie bestimmt, welche Wissenschaften oder Künste und Gewerbe in den Staaten vorhanden sein, und welche und wie weit sie von den Einzelnen erlernt werden sollen. Auch sehen wir, daß die geschätztesten Vermögen: die Strategik, die Oekonomik, die Rhetorik, ihr untergeordnet sind. Da sie also die übrigen praktischen Wissenschaften in den Dienst ihrer Zwecke nimmt, auch autoritativ vorschreibt, was man zu tun und was man zu lassen hat, so dürfte ihr Ziel die Ziele der anderen als das höhere umfassen, und dieses ihr Ziel wäre demnach das höchste menschliche Gut. Denn wenn dasselbe auch für den Einzelnen und für das Gemeinwesen das nämliche ist, so muß es doch größer und vollkommener sein, das Wohl des Gemeinwesens zu begründen und zu erhalten. Man darf freilich schon sehr zufrieden sein, wenn man auch nur einem Menschen zum wahren Wohle verhilft, aber schöner und göttlicher ist es doch, wenn dies bei einem Volke oder einem Staate geschieht. Darauf also zielt die gegenwärtige Disciplin ab7, die ein Teil der Staatslehre ist.
Was die Darlegung betrifft, so muß man zufrieden sein, wenn sie denjenigen Grad von Bestimmtheit erreicht, den der gegebene Stoff zuläßt. Die Genauigkeit darf man nicht bei allen Untersuchungen in gleichem Maße anstreben, so wenig als man das bei den verschiedenen Erzeugnissen der Künste und Handwerke tut8. Das sittlich Gute und das Gerechte, das die Staatswissenschaft untersucht, zeigt solche Gegensätze und solche Unbeständigkeit, daß es scheinen könnte, als ob es nur auf dem Gesetze, nicht auf der Natur beruhte9. Und eine ähnliche Unbeständigkeit haftet auch den verschiedenen Gütern und Vorzügen an, indem viele durch sie zu Schaden kommen. Schon mancher ist wegen seines Reichtums und mancher wegen seines Mutes zugrunde gegangen. So muß man sich denn, wo die Darstellung es mit einem solchen Gegenstande zu tun hat und von solchen Voraussetzungen ausgeht, damit zufrieden geben, die Wahrheit in gröberen Umrissen zu beschreiben. Und ebenso muß man wo nur das häufiger Vorkommende behandelt und vorausgesetzt werden kann, auch nur solches folgern wollen. Ganz ebenso hat aber auch der Hörer die einzelnen Sätze aufzunehmen. Darin zeigt sich der Kenner, daß man in den einzelnen Gebieten je den Grad von Genauigkeit verlangt, den die Natur der Sache zuläßt, und es wäre geradeso verfehlt, wenn man von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen, als wenn man von einem Redner in einer Ratsversammlung strenge Beweise fordern wollte.
(1095a) Jeder beurteilt nur dasjenige richtig, was er kennt, und ist darin ein guter Richter; deshalb wird für ein bestimmtes Fach der darin Unterrichtete und schlechthin der in allem Unterrichtete gut urteilen können. Darum ist ein Jüngling kein geeigneter Hörer der Staatswissenschaft. Es fehlt ihm die Erfahrung im praktischen Leben, dem Gegenstande und der Voraussetzung aller politischen Unterweisung. Auch wird er, wenn er den Leidenschaften nachgeht, diesen Unterricht vergeblich und nutzlos hören, da dessen Zweck nicht das Wissen, sondern das Handeln ist. Es macht hier auch keinen Unterschied, ob einer an Alter oder an Charakter der Reife ermangelt. Denn der Mangel hängt nicht von der Zeit ab, sondern kommt daher, daß man der Leidenschaft lebt und nach ihr seine Ziele wählt. Für solche Leute bleibt das Wissen ebenso nutzlos, wie für den Unenthaltsamen, der das Gute will und es doch nicht tut. Wohl aber dürfte für diejenigen, die ihr Begehren und Handeln vernunftgemäß einrichten, diese Wissenschaft von großem Nutzen sein.
So viel stehe als Einleitung über den Hörer, über die Art, wie wir verstanden sein wollen, und über den Gegenstand, den wir zu behandeln haben.
Zweites Kapitel.
Nehmen wir jetzt wieder unser Thema auf und geben wir, da alles Wissen und Wollen nach einem Gute zielt10, an, welches man als das Zielgut der Staatskunst bezeichnen muß, und welches im Gebiete des Handelns