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Die Leute von Seldwyla - 1. Teil. Gottfried KellerЧитать онлайн книгу.

Die Leute von Seldwyla - 1. Teil - Gottfried Keller


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Als ich ihn zwei- oder dreimal gesehen, ohne zum Schuss zu kommen, kannte er mich schon und merkte, dass ich gegen ihn etwas in Schilde führe. Er fing gewaltig an zu brüllen und verzog sich, um mir an einer andern Stelle wieder zu begegnen, und wir gingen so umeinander herum während mehreren Tagen wie zwei Kater, die sich zausen wollen, ich lautlos wie das Grab und er mit einem zeitweiligen wilden Geknurre.

      „Eines Tages war ich vor Sonnenaufgang aufgebrochen und nach einer noch nie eingeschlagenen Richtung hingegangen, weil der Löwe Tags vorher sich auf der entgegengesetzten Seite herumgetrieben und einen vergeblichen Raubversuch gemacht; da die dortigen Leute mit ihren Tieren abgezogen waren, so vermutete ich, der hungrige Herr werde vergangene Nacht wohl diesen Weg eingeschlagen haben, wie es sich denn auch erwies. Als die Sonne aufging, schlenderte ich gemächlich über ein hügeliges, goldgelbes Gefilde, dessen Unebenheiten lange himmelblaue Schatten über den goldenen Boden hinstreckten. Der Himmel war so dunkelblau wie Lydias Augen, woran ich unversehens dadurch erinnert wurde; in weiter Ferne zogen sich blaue Berge hin, an welchen das arabische Städtchen lag, das ich bewohnte, und am andern Rande der Aussicht einige Wälder und grüne Fluren, auf denen man den Rauch und selbst die Zelte der Beduinen wie schwarze Punkte sehen konnte. Es war totenstill überall und kein lebendes Wesen zu erspähen. Da stiess ich an den Rand einer Schlucht, welche sich durch die ganze steinige Gegend hinzog und nicht zu sehen war, bis man dicht an ihr stand. Es floss ein kühler, frischer Bach auf ihrem Grunde, und wo ich eben stand, war die Vertiefung ganz mit blühendem Oleandergebüsch angefüllt. Nichts war schöner zu sehen als das frische Grün dieser Sträucher und ihre tausendfältigen rosenroten Blüten und zu unterst das fliessende klare Wässerlein. Der Anblick liess eine verjährte Sehnsucht in mir aufsteigen, und ich vergass, warum ich hier herumstrich. Ich wünschte, in den Oleander hinabzugehen und aus dem Bach zu trinken, und in diesen zerstreuten Gedanken legte ich mein Gewehr auf den Boden und kletterte eiligst in die Schlucht hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem Bache trank, mein Gesicht benetzte und dabei an die schöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo sie wohl sein möchte, wo sie jetzt herumwandle und wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da hörte ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll ausstossen, dass der Boden zitterte. Wie besessen sprang ich auf und schwang mich den Abhang hinauf, blieb aber wie angenagelt oben stehen, als ich sah, dass das grosse Tier, kaum zehn Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr angekommen war. Und wie ich dastand, so blieb ich auch stehen, die Augen auf die Bestie geheftet. Denn als er mich erblickte, kauerte er zum Sprunge nieder, gerade über meiner Doppelbüchse, dass sie quer unter seinem Bauche lag, und wenn ich mich nur gerührt hätte, so würde er gesprungen sein und mich unfehlbar zerrissen haben. Aber ich stand und stand so einige lange Stunden, ohne ein Auge von ihm zu verwenden und ohne dass er eines von mir verwandte. Er legte sich gemächlich nieder und betrachtete mich. Die Sonne stieg höher; aber während die furchtbarste Hitze mich zu quälen anfing, verging die Zeit so langsam wie die Ewigkeit der Hölle. Weiss Gott, was mir alles durch den Kopf ging: ich verwünschte die Lydia, deren blosses Andenken mich abermals in dieses Unheil gebracht, da ich darüber meine Waffe vergessen hatte. Hundertmal war ich versucht, allem ein Ende zu machen und auf das wilde Tier loszuspringen mit blossen Händen; allein die Liebe zum Leben behielt die Oberhand, und ich stand und stand wie das versteinerte Weib des Loth oder wie der Zeiger einer Sonnenuhr: denn mein Schatten ging mit den Stunden um mich herum, wurde ganz kurz und begann schon wieder sich zu verlängern. Das war die bitterste Schmollerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir vor und gelobte, wenn ich dieser Gefahr entränne, so wolle ich umgänglich und freundlich werden, nach Hause gehen und mir und andern das Leben so angenehm als möglich machen. Der Schweiss lief an mir herunter, ich zitterte vor krampfhafter Anstrengung, um mich auf selbem Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leise an allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrockneten Lippen bewegte, so richtete sich der Löwe halb auf, wackelte mit seinem Hintergestell, funkelte mit den Augen und brüllte, so dass ich den Mund schnell wieder schloss und die Zähne aufeinander biss. Indem ich aber so eine lange Minute um die andere abwickeln und erleben musste, verschwand der Zorn und die Bitterkeit in mir, selbst gegen den Löwen, und je schwächer ich wurde, desto geschickter ward ich in einer mich angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, dass ich alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde aber, als endlich der Tag schon vorgerückt war, doch nicht mehr lange gegangen sein, als eine unverhoffte Rettung sich auftat. Das Tier und ich waren so ineinander vernarrt, dass keiner von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im Rücken des Löwen hermarschiert kamen, bis sie auf höchstens dreissig Schritte nahe waren. Es war eine Patrouille, die ausgesandt war, mich zu suchen, da sich Geschäfte eingestellt hatten. Sie trugen ihre Ordonnanzgewehre auf der Schulter, und ich sah gleichzeitig dieselben vor mir aufblitzen gleich einer himmlischen Gnadensonne, als auch mein Widersacher ihre Schritte hörte in der Stille der Landschaft, denn sie hatten schon von weitem etwas bemerkt und waren so leise als möglich gegangen. Plötzlich schrien sie jetzt: ,Schau’ die Bestie! Hilf dem Oberst!‘ Der Löwe wandte sich um, sprang empor, sperrte wütend den Rachen auf, erbost wie ein Satan, und war einen Augenblick lang unschlüssig, auf wen er sich zuerst stürzen solle. Als aber die zwei Soldaten als brave, lustige Franzosen, ohne sich zu besinnen, auf ihr zusprangen, tat er einen Satz gegen sie. Im gleichen Augenblick lag auch der eine unter seinen Tatzen, und es wäre ihm schlecht ergangen, wenn nicht der andere im gleichen Augenblicke dem Tier, zugleich den Schutz abfeuernd, das Bajonett ein halbes dutzendmal in die Flanke gestossen hätte. Aber auch diesem würde es schliesslich schlimm ergangen sein, wenn ich nicht endlich auf meine Büchse zugesprungen, auf den Kampfplatz getaumelt wäre und dem Löwen, ohne weitere Vorsicht, beide Kugeln in das Ohr geschossen hätte. Er streckte sich aus und sprang wieder auf, es war noch der Schuss aus der andern Muskete nötig, ihn abermals hinzustrecken, und endlich zerschlugen wir alle drei unsere Kolben an dem Tiere, so zäh und wild war sein Leben. Es hatte merkwürdigerweise keiner Schaden genommen, selbst der nicht, der unter dem Löwen gelegen, ausgenommen seinen zerrissenen Rock und einige tüchtige Schrammen auf der Schulter. So war die Sache für dasmal glücklich abgelaufen, und wir hatten obenein den lange gesuchten Löwen erlegt. Ein wenig Wein und Brot stellte meinen guten Mut vollends wieder her, und ich lachte wie ein Narr mit den guten Soldaten, welche über die Freundlichkeit und Gesprächigkeit ihres bösen Obersten sehr verwundert und erbaut waren.

      „Noch in selber Woche aber führte ich mein Gelübde aus, kam um meine Entlassung ein, und so bin ich nun hier.“

      So lautete die Geschichte von Pankrazens Leben und Bekehrung, und seine Leutchen waren höchlich verwundert über seine Meinungen und Taten. Er verliess mit ihnen das Städtchen Seldwyla und zog in den Hauptort des Kantons, wo er Gelegenheit sand, mit seinen Erfahrungen und Kenntnissen ein dem Lande nützlicher Mann zu sein und zu bleiben, und er ward sowohl dieser Tüchtigkeit als seiner unverwüstlichen ruhigen Freundlichkeit wegen geachtet und beliebt; denn nie mehr zeigte sich ein Rückfall in das frühere Wesen.

      Nur ärgerten sich Estherchen und die Mutter, dass ihnen die Geschichte mit der Lydia entgangen war, und wünschten unaufhörlich deren Wiederholung. Allein Pankraz sagte, hätten sie damals nicht geschlafen, so hätten sie dieselbe erfahren; er habe sie einmal erzählt und werde es nie wieder tun, es sei das erste- und letztemal, dass er überhaupt gegen jemanden von diesem Liebeshandel gesprochen, und damit Punktum. Die Moral von der Geschichte sei einfach, dass er in der Fremde durch ein Weib und ein wildes Tier von der Unart des Schmollens entwöhnt worden sei.

      Nun wollten sie wenigstens den Namen jener Dame wissen, welcher ihnen wegen seiner Fremdartigkeit wieder entfallent war, und fragten unaufhörlich: ,,Wie hiess sie denn nur?“ Aber Pankraz erwiderte ebenso unaufhörlich: „Hättet ihr aufgemerkt! Ich nenne diesen Namen nicht mehr!“ Und er hielt Wort; niemand hörte ihn jemals wieder das Wort aussprechen, und er schien es endlich selbst vergessen zu haben.

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