Die Leute von Seldwyla - 1. Teil. Gottfried KellerЧитать онлайн книгу.
in Lydia.
„In der wunderbarsten gelinden Aufregung liess ich mein Bäumchen stehen, holte die Doppelbüchse und streifte in den Abend hinaus weit in die Wildnis. Viele Tiere sah ich wohl, aber alle vergass ich zu schiessen; denn wie ich auf eines anschlagen wollte, dachte ich wieder an das Benehmen dieser Dame und verlor so das Tier aus den Augen.
,„Was will sie von dir?‘ dachte ich, ,und was soll das heissen?’ Indem ich aber hierüber hin und her sann, entstand und lohete schon eine grosse Dankbarkeit in mir für alles mögliche und unmögliche, was irgend in dem Vorfalle liegen mochte, wogegen mein Ordnungssinn und das Bewusstsein meiner geringen und wenig anmutigen Person den widerwärtigsten Streit erhob. Als ich hieraus nicht klug wurde, verfielen meine Gedanken plötzlich auf den Ausweg, dass diese scheinbar so schöne und tüchtige Frau am Ende ganz einfach ein leichtfertiges und verbuhltes Wesen sei, das sich zu schaffen mache, mit wem es sei, und selbst mit einem armen Unteroffizier eine schlechte Geschichte anzuheben nicht verschmähe. Diese verwünschte Ansicht tat mir so weh und traf mich so unvermutet, dass ich wutentbrannt einen ungeheuren rauhen Eber niederschoss, der eben durch die hohen Bergkräuter heranbrach, und meine Kugel sass fast gleichzeitig und ebenso unvermutet und unwillkommen in seinem Gehirn wie jener niederträchtige Gedanke in dem meinigen, und schon war mir zumute, als ob das wilde Tier noch zu beneiden wäre um seine Errungenschaft im Vergleich zu der meinigen. Ich setzte mich auf die tote Bestie; vor meinen Gedanken ging die schöne Gestalt vorüber, und ich sah sie deutlich, wie sie die drei Male gekommen war mit jeder ihrer Bewegungen, und jedes Wort tönte noch nach. Aber merkwürdigerweise ging dies gute Gedächtnis noch über diesen Tag hinaus und zurück überhaupt bis auf den ersten Tag, wo ich sie gesehen, den ganzen Zeitraum hindurch, wo ich doch gänzlich ruhig gewesen. Wie man bei ganz durchsichtiger Luft, wenn es Regen geben will, an entfernten Bergen viele. Einzelnheiten deutlich sieht, die man sonst nicht wahrnimmt, und in stiller Nacht die fernsten Glocken schlagen hört, so entdeckte ich jetzt mit Verwunderung, dass aus jenem ganzen Zeitraume jede Art und Wendung ihrer Erscheinung, jedes einzelne Auftreten sich ohne mein Wissen mir eingeprägt hatte und fast jedes ihrer Worte, selbst das gleichgültigste und vorübergehendste, hörte ich mit klar vernehmlichem Ausdruck in der Stille dieser Wildnis wieder tönen. Diese sämtliche Herrlichkeit hatte also gleichsam schlafend oder heimlicherweise sich in mir aufgehalten, und der heutige Vorgang hatte nur den Riegel davor weggeschoben oder eine Fackel in ein Bund Stroh geworfen. Ich vergass über diesen Dingen wieder meinen schlechten Zorn und beschäftigte mich rückhaltlos mit der Ausbeutung meines guten Gedächtnisses und schenkte demselben nicht den kleinsten Zug, den es mir von dem Bilde Lydias irgend liefern konnte. Auf diese Weise schlenderte ich denn auch wieder der Behausung zu und überliess mich allein diesen angenehmen Vorstellungen; jedoch vermochte ich nun nicht mehr so unbefangen und ruhig in ihrer Nähe zu sein, und da ich nichts anderes anzufangen wusste, noch gesonnen war, so vermied ich möglichst jeden Verkehr mit ihr, um desto eifriger an sie zu denken. So vergingen drei oder vier Wochen, ohne dass etwas weiteres vorfiel, als dass ich bemerkte; dass sie bei aller Zurückhaltung, die sie nun beobachtete, dennoch keine Gelegenheit versäumte, irgend etwas zu meinen Gunsten zu tun oder zu sagen, und sie fing an, mir völlig nach dem Munde oder zu Gefallen zu sprechen, da sie Ausdrücke brauchte, welche ich etwa gebraucht, und die Dinge so beurteilte, wie ich es zu tun gewohnt war. Dies schien nun erst nichts besonderes, weil es mich eben von jeher angenehm dünkte, in ihr ganz dieselben Ansichten vom Zweckmässigen oder vom Verkehrten zu entdecken, deren ich mich selber befleissigte; auch lachte sie über dieselben Dinge, über welche ich lachen musste, oder ärgerte sich über die nämlichen Unschicklichkeiten, so etwa vorfielen. Aber zuletzt ward es so auffällig, dass sie mir, da ich kaum ein Wort mit ihr zu sprechen hatte, zu Gefallen zu leben suchte, und zwar nicht wie eine schelmische Kokette, sondern wie ein einfaches, argloses Kind, dass ich in die grösste Verwirrung geriet und vollends nicht mehr wusste, wie ich mich stellen sollte. So fand ich denn, um mich zu salvieren, unverfänglich mein Heil in meiner alten wohlhergestellten Schmollkunst und verhärtete mich vollkommen in derselben, zumal ich mich nichts weniger als glücklich fühlte in diesem sonderbaren Verhältnis. Nun schien sie wahrhaft bekümmert und niedergeschlagen, kleinlaut und schüchtern zu werden, was zu ihrem sonstigen resoluten und tüchtigen Wesen eine verführerische Wirkung hervorbrachte, da man an den gewöhnlichen Weibern und je kleinlicher sie sind, desto weniger gewohnt ist, sie durch solche schüchterne Bescheidenheit glänzen und bestechen zu sehen. Vielmehr glauben sie, nichts stehe ihnen besser zu Gesicht als eine schreckliche Sicherheit und Unverschämtheit. Da nun sogar noch der alte Gouverneur anfing, in einer mir unverständlichen und wenig delikaten Laune zu sticheln und zu scherzen, und zehnmal des Tages sagte: ,Wahrhaftig, Lydia, du bist verliebt in den Pankrazius!‘ so ward mir das Ding zu bunt; denn ich hielt das für einen sehr schlechten Spass, in betreff auf seine Tochter für geschmacklos und vom ordinärsten Tone, in bezug auf mich aber für gewissenlos und roh, und ich war oft im Begriff, es ihm offen zu sagen und mich den Teufel um ihn weiter zu kümmern. Letzteres tat ich auch insofern, als ich mich nun gänzlich zusammennahm und in mich selber verschloss. Lydia wurde eintönig, ja sie schien nun sogar bleich und leidend zu werden, was mich tief bekümmerte, ohne dass ich daraus etwas Kluges zu machen wusste. Als sie aber trotz meines Verhaltens wieder anfing, mir nachzugehen, und sich fortwährend zu schaffen machte, wo ich mich aufhielt, geriet ich in Verzweiflung, und in der Verzweiflung begann ich, abgebrochene und ungeschickte Unterhaltungen mit ihr zu pflegen. Es war gar nichts, was wir sprachen, ganz unartikuliertes, jämmerliches Zeug, als ob wir beide blödsinnig wären; allein beide schienen gar nicht hieran zu denken, sondern lachten uns an wie Kinder; denn auch ich vergass darüber alles andere und war endlich froh, nur diese kurzen Reden mit ihr zu führen. Allein das Glück dauerte nie länger als zwei Minuten, da wir den Faden aus Mangel an Ruhe und Besonnenheit sogleich wieder verloren und dann zwei Kindern glichen, die ein Perlenband aufgezettelt haben und mit Betrübnis die schönen Perlen entgleiten sehen. Alsdann dauerte es wieder wochenlang, bis eine dieser grossen Unternehmungen wieder gelang, und nie tat ich den ersten Schritt dazu, da ich gleich darauf wieder nur bedacht war, mir nichts zu vergeben und keine Dummheiten zu begehen bei diesen etwas ungewöhnlichen Leuten. Hundertmal war ich entschlossen, auf und davon zu gehen; allein die Zeit verging mir so eilig, dass ich die Tat immer wieder hinausschieben musste. Denn meine Gedanken waren jetzt ausschliesslich mit dieser Sache beschäftigt, und es ging mir dabei äusserst seltsam.
„Mit den Büchern des Gouverneurs war ich endlich so ziemlich fertig geworden und wusste nichts mehr aus denselben zu lernen Lydia, welche mich so oft lesen sah, benutzte diese Gelegenheit und gab mir von den ihrigen. Darunter war ein dicker Band wie eine Handbibel, und er sah auch ganz geistlich aus; denn er war in schwarzes Leder gebunden und vergoldet. Es waren aber lauter Schauspiele und Komödien darin mit der kleinsten englischen Schrift gedruckt. Dies Buch nannte man den Shakespeare, welches der Verfasser desselben und dessen Kopf auch vorne drin zu sehen war. Dieser verführerische falsche Prophet führte mich schön in die Patsche. Er schildert nämlich die Welt nach allen Seiten hin durchaus einzig und wahr, wie sie ist, aber nur, wie sie es in den ganzen Menschen ist, welche im Guten und im Schlechten das Metier ihres Daseins und ihrer Neigungen vollständig und charakteristisch betreiben und dabei durchsichtig wie Kristall, jeder vom reinsten Wasser in seiner Art, so dass, wenn schlechte Skribenten die Welt der Mittelmässigkeit und farblosen Halbheit beherrschen und malen und dadurch Schwachköpfe in die Irre führen und mit tausend unbedeutenden Täuschungen anfüllen, dieser hingegen eben die Welt des Ganzen und Gelungenen in seiner Art, d. h. wie es sein soll, beherrscht und dadurch gute Köpfe in die Irre führt, wenn sie in der Welt dies wesentliche Leben zu sehen und wiederzufinden glauben. Ach, es ist schon in der Welt, aber nur niemals da, wo wir eben sind, oder dann, wann wir leben. Es gibt noch verwegene schlimme Weiber genug, aber ohne den schönen Nachtwandel der Lady Macbeth und das bange Reiben der kleinen Hand. Die Giftmischerinnen, die wir treffen, sind nur frech und reulos und schreiben gar noch ihre Geschichte oder legen einen Kramladen an, wenn sie ihre Strafe überstanden. Es gibt noch Leute genug die wähnen, Hamlet zu sein, und sie rühmen sich dessen, ohne eine Ahnung zu haben von den grossen Herzensgründen eines wahren Hamlet. Hier ist ein Blutmensch ohne Macbeths dämonische und doch wieder so menschliche Mannhaftigkeit und dort ein Richard der Dritte ohne dessen Witz und Beredsamkeit. Hier ist eine Porzia, die nicht schön, dort eine, die nicht geistreich, dort wieder eine, die geistreich, aber nicht klug ist und wohl versteht, Leute unglücklich zu machen, nicht aber sich selbst zit beglücken. Unsere Shylocks möchten uns