Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Band 2. Augustinus von HippoЧитать онлайн книгу.
zornig betrübte[86] , daß er sagte[87] : „Ich freue mich um euretwillen, damit ihr glaubet“, daß er bei der Auferweckung des Lazarus Tränen vergoß[88] , daß er sehnliches Verlangen trug, mit seinen Jüngern das Osterlamm zu essen[89] , daß seine Seele beim Herannahen des Leidens traurig war[90] , so ist das natürlich nicht falsch berichtet. Vielmehr hat er solchen Regungen aus bestimmten Rücksichten Eingang verstattet in seinem menschlichen Gemüte, wenn er wollte, so gut wie er Mensch geworden ist, da er wollte.
Indes – das muß man zugeben – gehören derlei Regungen, und zwar auch die rechten und gottgemäßen, ausschließlich dem irdischen Leben an, nicht dem künftigen, das wir erhoffen, und oft genug müssen wir sie auch gegen unsern Willen über uns ergehen lassen. So kommt es vor, daß wir weinen, wo wir nicht wollen — ich meine natürlich hier nicht aus sündiger Begier, sondern aus rechter Liebe. Bei uns sind also diese Regungen Ausdruck der Schwäche, wie sie in der Menschennatur liegt; nicht so aber bei dem Herrn Jesus, der auch die Schwäche in seiner Gewalt hatte. Immerhin würden wir nicht einmal recht leben, wenn wir deren gar keine hätten, solang wir das irdische Leben mit seinen Schwächen zu führen haben. Wo der Apostel wider gewisse Leute Tadel und verdammendes Urteil ausspricht, nennt er auch als einen ihrer Fehler, daß sie „ohne Gemütserregung“ seien[91] . Auch der heilige Psalm sagt in vorwurfsvollem Tone[92] : „Ich wartete, ob einer mittrauere, und es fand sich keiner“. Völlige Unempfindlichkeit gegen den Schmerz während unseres Verweilens an dieser Stätte des Elends kann in der Tat, wie auch einer von den Gelehrten dieser Welt empfand und aussprach[93] , „nur sehr teuer erkauft werden, nur um den Preis seelischer Gefühllosigkeit und körperlicher Stumpfheit“. Was also die Griechen apaqeia nennen[94] , das ist etwas sehr Schönes und Wünschenswertes, wenn es dahin zu verstehen ist [man gebraucht das Wort nämlich von einem geistigen, nicht von einem körperlichen Zustand], daß man frei von solchen Leidenschaften leben soll, die im Gegensatz zur Vernunft auftreten und den Geist verwirren, aber es ist nicht einmal in diesem Sinne dem irdischen Leben beschieden. Nehmen doch gerade die frömmsten, gerechtesten, heiligsten Menschen, nicht etwa die Dutzendmenschen, das Wort für sich in Anspruch[95] : „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“. Also dann wird eine derartige apaqeia vorhanden sein, wenn sich im Menschen keine Sünde finden wird. Einstweilen jedoch lebt man gut genug, « wenn » ohne schweren Fehl; wer dagegen ohne Sünde zu leben vermeint, bringt damit die Sünde nicht weg, sondern beraubt sich so der Verzeihung. Ist aber apaqeia dahin zu verstehen, daß eine Leidenschaft an den Geist überhaupt nicht herankommen kann, so ist sie ja der reinste Stumpfsinn, schlimmer als alle Gebrechen miteinander. Die vollkommene Glückseligkeit schließt also, so könnte man etwa sagen, wohl den Stachel der Furcht und jegliche Traurigkeit aus, aber daß es dort keine Liebe und keine Freude geben werde, kann man nur in offenbarem Widerspruch mit der Wahrheit behaupten. Ist endlich apaqeia ein Zustand, worin keine Furcht schreckt und kein Leid quält, so muß man sich im gegenwärtigen Leben vor ihr hüten, wenn man recht, d. i. gottgemäß leben will; im jenseitigen glückseligen Leben allerdings, dem ewige Dauer verheißen ist, ist diese Art von apaqeia ohne Einschränkung zu erhoffen. Denn die Furcht, von der der Apostel Johannes sagt[96] : „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein; wer aber Furcht hat, ist nicht vollkommen in der Liebe“, diese Furcht ist von anderer Art als die des Apostels Paulus, die Korinther möchten durch die List der Schlange verführt werden[97] . Eine solche Furcht nämlich, wie Paulus da meint, ist der Liebe eigen, ja ihr allein eigen, dagegen die Furcht, von der Johannes spricht, gehört einer Art an, die mit der Liebe nichts gemein hat und von der der Apostel Paulus seinerseits sagt[98] : „Denn nicht habt ihr empfangen den Geist der Knechtschaft, um euch wiederum zu fürchten“. Die keusche Furcht jedoch, die in die Weltzeit der Weltzeiten fortdauert[99] , ist, wenn sie in der künftigen Weltzeit ebenfalls statthat [und anders kann man das Fortdauern in die Weltzeit der Weltzeiten kaum auffassen], nicht die Furcht, die vor einem Übel erschrickt, das eintreten kann, sondern eine Furcht, die festhält an einem Gute, das man nicht verlieren kann. Denn wo die Liebe zu dem erreichten Gut unwandelbar ist, da ist ohne Frage die Furcht vor dem Übel, das es zu meiden gilt, sozusagen sorglos. Unter keuscher Liebe versteht man eben die Willensrichtung, kraft deren es für uns eine Notwendigkeit sein wird, nicht sündigen zu wollen und die Sünde zu meiden aus dem sicheren Gefühl des Besitzes der Liebe, nicht aus Besorgnis, unsere Schwäche möchte uns etwa in Sünden fallen lassen. Oder aber es kann überhaupt keine Art von Furcht statthaben in jener völligen Sicherheit immerwährender glückseliger Freuden, und dann ist der Ausspruch: „Die Furcht des Herrn dauert fort in die Weltzeit der Weltzeiten“ in demselben Sinne zu verstehen, in dem es heißt[100] : „Die Geduld der Armen wird nicht verloren sein in Ewigkeit“. Denn die Geduld als solche wird auch nicht ewig fortdauern, weil sie nur da nötig ist, wo Übel zu ertragen sind; sondern ewig wird das fortdauern, wohin man gelangt durch Geduld. Und so mag es wohl deshalb von der keuschen Furcht heißen, daß sie fortdauere in die Weltzeit der Weltzeiten, weil das fortdauern wird, wohin die Furcht als solche geleitet.
Die Sache verhält sich also so: man muß ein rechtschaffenes Leben führen, um zum glückseligen Leben zu gelangen, und bei rechtschaffener Lebensführung sind alle jene Gemütserregungen auf das rechte Ziel gerichtet, bei verkehrter sind sie verkehrt. Das glückselige und zugleich ewige Leben aber wird zwar die Liebe in sich schließen und die Freude, beides nicht bloß auf das rechte Ziel gerichtet, sondern auch gesichert, nicht aber Furcht und Schmerz. Daraus wird schon einigermaßen klar, wie sich die Bürger des Gottesstaates, indem sie nach dem Geiste, nicht nach dem Fleische wandeln, d. i. gottgemäß, nicht nach dem Menschen, auf der irdischen Pilgerschaft verhalten sollen und wie sie in jener Unsterblichkeit, nach der sie trachten, beschaffen sein werden. Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen. Und finden sich Bürger darin, die solche Regungen zu zügeln und zu mäßigen scheinen, so sind sie in ihrer Gottlosigkeit so hochmütig und stolz, daß sie eben durch ihre Mäßigung reichlich an Dünkel zusetzen, was sie sich an Leiden ersparen. Und wenn manche etwa — selten ist solcher Aberwitz, aber um so unnatürlicher — das an sich besonders hochschätzen, daß sie von gar keiner Gemütsbewegung gehoben und angestachelt oder gebeugt und niedergedrückt werden, ach, so haben sie ihre ganze Menschlichkeit eingebüßt, ohne doch wahre Ruhe des Gemütes zu gewinnen. Unbeweglich ist noch nicht ohne weiters recht beschaffen, und gefühllos nicht auch schon gesund.
10. Waren wohl die ersten Menschen im Paradies, ehe sie sündigten, von Leidenschaften beunruhigt?
Jedoch mit Recht wirft man die Frage auf, ob der erste Mensch oder die ersten Menschen [denn es war eine Verbindung von zweien] in ihrem seelischen Leibe vor der Sünde diese Leidenschaften hatten, die wir im geistigen Leibe, nach Beseitigung und Ausschließung aller Sünde, nicht haben werden. Denn hatten sie sie, wo bleibt dann ihre Glückseligkeit an jener denkwürdigen Stätte der Glückseligkeit, im Paradiese? Ist doch niemand vollkommen glückselig, der von Furcht oder Schmerz beunruhigt wird. Allein was hätten jene ersten Menschen zu fürchten oder zu leiden gehabt mitten im Überfluß so herrlicher Güter, wo der Tod nicht drohte noch Siechtum des Leibes, wo nichts mangelte, was ein auf das Gute gerichteter Wille sich wünschen konnte, nichts Feindseliges sich zeigte, was Leib oder Seele des glücklich lebenden Menschen hätte verletzen können? Liebe herrschte, unerschütterte Liebe zu Gott und zwischen den Gatten, die in treuer und aufrichtiger Gemeinschaft lebten, und aus dieser Liebe floß gewaltige Freude, da der Gegenstand der Liebe zugleich unaufhörlich Gegenstand des Genusses war. Es herrschte ein wunschloses Meiden der Sünde, und solang dieses andauerte, brach von keiner Seite irgendein Übel herein, das Betrübnis hervorgerufen hätte. Oder begehrten sie etwa, die verbotene Frucht zu genießen, fürchteten aber den Tod, und hätte sonach Begierde und Furcht schon damals an jener Stätte die ersten Menschen beunruhigt? Aber nein, es gab ja da überhaupt keine Sünde,