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Die Jahre. Virginia WoolfЧитать онлайн книгу.

Die Jahre - Virginia Woolf


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Nacht, Nannie«, sagte sie und wandte sich der Tür zu.

      »Gute Nacht, Miss Eleanor«, sagte Nannie und legte einiges Mitgefühl in ihre Stimme; denn unten in der Küche hieß es, daß die Gnädige es nicht mehr viel länger machen werde.

      »Dreh dich um und schlaf ein, Schatz!« sagte sie und küßte Rose auf die Stirn. Denn die Kleine, die bald mutterlos wäre, tat ihr leid. Dann löste sie die silbernen Knöpfe aus den gesteiften Manschetten und begann die Haarnadeln aus den Haaren zu nehmen, während sie in ihren Unterröcken vor der gelben Kommode stand.

      »Ich sah«, wiederholte Eleanor, als sie die Kinderzimmertür schloß. »Ich sah ... « Was hatte Rosie gesehn? Etwas Gräßliches, etwas Geheimnisvolles. Aber was? Dort, hinter ihren starren Augen, war es verborgen gewesen. Sie hielt den Leuchter ein wenig schief in der Hand. Drei Tropfen Stearin fielen auf die polierte Wandleiste, bevor sie es bemerkte. Sie hielt den Kerzenleuchter wieder gerade und ging die Treppe hinunter. Im Gehn lauschte sie. Es war alles still. Martin schlief. Ihre Mutter schlief. Als sie so an den Türen vorbeikam, schien sich eine Last auf sie zu senken. Sie blieb stehn und blickte in die Halle hinunter. Eine Leere überkam sie. Wo bin ich? fragte sie sich, auf einen wuchtigen Rahmen starrend. Was ist das alles? Sie schien mitten im Nichts allein zu sein; doch sie mußte hinuntergehn, mußte ihre Last tragen. Sie hob ein wenig die Arme, als trüge sie einen Krug, einen irdenen Krug auf dem Kopf. Wieder blieb sie stehn. Der Umriß einer Schüssel zeichnete sich in ihren Augen ab. Es war Wasser darin und etwas Gelbes; es war der Hundenapf, so begriff sie; es war die Schwefelstange in dem Hundenapf; der Hund lag eingerollt am Fuß der Treppe. Sie stieg vorsichtig über den Körper des schlafenden Tiers und ging ins Wohnzimmer.

      Alle blickten sie auf, als sie eintrat; Morris hatte ein Buch in der Hand, aber er las nicht; Milly hielt ein Stück Stoff in der Hand, aber sie nähte nicht; Delia lag in ihren Stuhl zurückgelehnt und tat gar nichts. Eleanor stand einen Augenblick zögernd da. Dann wandte sie sich zum Schreibtisch. »Ich werde Edward schreiben«, murmelte sie. Sie griff nach der Feder, aber sie zögerte. Sie fand es schwer, an Edward zu schreiben, wie sie ihn so vor sich sah, als sie die Feder ergriff, als sie das Briefpapier auf dem Schreibtisch glättete. Seine Augen standen zu nahe beieinander; er hatte so eine Art, sich vor dem Spiegel in der Halle den Schopf hochzustreichen, die sie reizte. »Nix« war ihr Spitzname für ihn. »Mein lieber Edward«, begann sie zu schreiben, bei dieser Gelegenheit »Edward« wählend, nicht »Nix«.

      Morris blickte von dem Buch auf, das er zu lesen versuchte. Das Kratzen der Feder beirrte ihn. Nun hielt Eleanor inne; schrieb dann wieder; griff sich dann mit der Hand an den Kopf. Alle Sorgen lagen natürlich auf ihr. Aber sie beirrte ihn. Sie stellte ewig Fragen; sie hörte nie auf die Antworten. Er blickte wieder in sein Buch. Aber welchen Zweck hatte es, zu lesen zu versuchen? Diese Atmosphäre unterdrückter Gemütsbewegung war ihm zuwider. Es gab nichts, was irgend jemand hätte tun können, aber hier saßen sie alle in Haltungen unterdrückter Gemütsbewegung. Millys Sticheln an ihrer Arbeit machte ihn nervös, und auch Delia machte ihn nervös, wie sie dort zurückgelehnt in ihrem Stuhl lag und wie gewöhnlich gar nichts tat. Hier saß er eingesperrt mit allen diesen Frauenzimmern in einer Atmosphäre unwirklicher Gemütsbewegung. Und Eleanor schrieb drauflos, schrieb und schrieb. Es gab doch nichts zu schreiben – aber da leckte sie nun den Briefumschlag und pappte dieMarke auf.

      »Soll ich ihn einwerfen gehn?« fragte er, sein Buch weglegend.

      Er erhob sich, als wäre er froh, etwas zu tun zu haben. Eleanor ging mit ihm zur Haustür und blieb da stehn und hielt sie offen, während er zu der Briefkastensäule ging. Es regnete sacht, und während sie in der Tür stand und die milde, feuchte Luft atmete, beobachtete sie die seltsamen Schatten, die auf dem Gehsteig unter den Bäumen zitterten. Morris Verschwand durch die Schatten um die Ecke. Sie erinnerte sich, wie sie unter der Tür zu stehn pflegte, als er ein kleiner Junge war und mit seiner Schultasche in der Hand zur Schule ging. Sie hatte ihm immer nachgewinkt; und wenn er an die Ecke kam, hatte er sich immer umgewendet und zurückgewinkt. Es war eine seltsame kleine Zeremonie gewesen und nun aufgegeben, seit sie beide erwachsen waren. Die Schatten schwankten, während sie so stand und wartete; im nächsten Augenblick tauchte er aus ihnen hervor. Er kam den Gehsteig heran und die Stufen herauf.

      »Er wird ihn morgen bekommen«, sagte er. »Jedenfalls mit der zweiten Post.«

      Er schloß die Tür und bückte sich, um die Kette vorzulegen. Es schien ihr, als die Kette rasselte, daß sie beide es als Tatsache nahmen, daß heute nacht nichts weiter geschehn werde. Sie vermieden es, einander anzusehn; keins von beiden wollte heute abend noch mehr Gemütsbewegung. Sie gingen ins Wohnzimmer zurück.

      »Also«, sagte Eleanor und sah umher, »ich glaube, ich werde schlafen gehn. Die Pflegerin wird klingeln, hat sie gesagt, wenn sie etwas braucht.«

      »Wir könnten schließlich alle schlafen gehn«, sagte Morris. Milly begann ihre Stickerei einzurollen. Morris begann das Feuer auseinanderzuscharren.

      »Was für ein verrücktes Feuer –« rief er gereizt. Die Kohlen hingen alle zusammen. Sie brannten lichterloh.

      Plötzlich klingelte es.

      »Die Pflegerin!« rief Eleanor aus. Sie sah Morris an. Sie verließ eilig das Zimmer. Morris folgte ihr.

      Aber welchen Zweck hat das? dachte Delia. Es ist nur wieder ein blinder Alarm. Sie stand auf. »Es ist nur die Pflegerin«, sagte sie zu Milly, die sich mit bestürzter Miene erhoben hatte. Sie kann doch nicht wieder zu weinen beginnen, dachte sie und schlenderte in das vordere Zimmer. Kerzen brannten auf dem Kaminsims; sie beleuchteten das Porträt darüber. Sie blickte auf das Porträt ihrer Mutter. Die junge Frau in Weiß schien bei dem sich hinziehenden Prozeß ihres eignen Sterbens mit einer lächelnden Gleichgültigkeit den Vorsitz zu führen, die ihre Tochter empörte.

      »Du wirst schon nicht sterben – du wirst schon nicht sterben!« sagte Delia bitter, während sie zu ihr aufblickte. Ihr Vater war, von der Klingel aufgestört, ins Zimmer getreten. Er trug ein rotes Hauskäppchen mit einer absurden Quaste.

      Aber es ist alles für nichts, sagte sich Delia, ihren Vater anblickend. Sie fühlte, daß sie beide ihre steigende Aufregung dämpfen müßten. »Nichts wird geschehn – gar nichts«, sagte sie sich, ihn ansehend. Aber in diesem Augenblick kam Eleanor herein. Sie war sehr blaß.

      »Wo ist Papa?« fragte sie und sah sich um. Sie erblickte ihn. »Komm, Papa, komm!« sagte sie und streckte die Hand aus. »Mama stirbt ... Und die Kinder«, sagte sie über die Schulter zu Milly.

      Zwei kleine weiße Flecke erschienen oberhalb der Ohren ihres Vaters, so bemerkte Delia. Seine Augen wurden starr. Er straffte sich. Er ging an ihnen vorüber und die Treppe hinauf. Sie folgten alle in einer kleinen Prozession hinterdrein. Der Hund, so bemerkte Delia, wollte mit ihnen hinaufkommen, aber Morris puffte ihn zurück. Der Oberst trat als erster in das Schlafzimmer; dann Eleanor; dann Morris; dann Martin, der im Herunterkommen seinen Schlafrock anzog; und Milly brachte Rose, in einen Schal gehüllt. Delia aber hielt sich ein Stück hinter den andern. So viele waren in dem Zimmer, daß sie nicht weiter als in die Tür gelangen konnte. Sie sah die beiden Pflegerinnen mit dem Rücken zur gegenüberliegenden Wand stehn. Die eine weinte – die, so bemerkte sie, die erst diesen Nachmittag gekommen war. Dort wo sie stand, konnte sie das Bett nicht sehn. Aber sie konnte sehn, daß Morris auf die Knie gesunken war. Sollte ich nicht auch knien? fragte sie sich. Nicht im Gang, so entschied sie. Sie blickte weg; sie sah das kleine Fenster am Ende des Gangs. Regen fiel; irgendwo war ein Licht, das die Regentropfen leuchten machte. Ein Tropfen nach dem andern glitt an der Scheibe herunter; sie glitten und sie hielten inne; ein Tropfen kam zu einem andern, und dann glitten sie weiter. Im Schlafzimmer war völlige Stille.

      Ist das der Tod? fragte sich Delia. Für einen Augenblick schien dort etwas zu sein. Eine Wand von Wasser schien auseinanderzuklaffen; und die zwei Wände blieben getrennt. Sie lauschte. Es herrschte völlige Stille. Dann eine Bewegung, ein Scharren von Füßen im Schlafzimmer, und ihr Vater kam herausgestolpert.

      »Rose!« rief er. »Rose! Rose!« Er hielt die Arme mit geballten Fäusten vor sich gestreckt.

      Das hast du sehr gut gemacht, sagte Delia im stillen, als er an ihr vorbeikam. Es war wie eine


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