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Die Jahre. Virginia WoolfЧитать онлайн книгу.

Die Jahre - Virginia Woolf


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Die Tür öffnete sich abermals.

      »Das Tablett, Miss ... « sagte Crosby, während sie die Tür mit dem Fuß am Zufallen hinderte. Sie hielt ein Betttischchen in den Händen.

      »Das Tablett?« sagteMilly. »Ja, wer wird das Tablett hinauftragen?« Wieder ahmte sie die Art einer Erwachsenen nach, die taktvoll mit Kindern umgehn will. »Nicht du, Rose. Es ist zu schwer. Laß Martin es tragen, und du kannst mit ihm gehn. Aber bleibt nicht lange. Erzählt Mama nur, was ihr heute getan habt; und bis dahin wird das Wasser ... das Wasser ... «

      Sie fuhr abermals mit der Haarnadel in den Docht. Ein schwaches Wölkchen von Dampf kam aus dem Schwanenhalsschnabel; erst in Abständen, dann wurde es allmählich immer stärker, bis, grade als sie Schritte auf der Treppe hörten, ein mächtiger Dampfstrahl hervorkam.

      »Es kocht!« rief Milly. »Es kocht!«

      Sie aßen schweigend. Die Sonne, nach den wechselnden Lichtern auf dem Glas der holländischen Vitrine zu schließen, schien sich zu verstecken und wieder hervorzukommen. Manchmal leuchtete eine Schale tiefblau; dann wurde sie fahl. Lichter ruhten verstohlen auf den Möbeln im andern Zimmer, das auf den Garten ging. Hier war ein Muster; hier war eine kahle Stelle. Irgendwo ist Schönheit, dachte Delia, irgendwo ist Freiheit und irgendwo, dachte sie, ist er – trägt seine weiße Blume im Knopfloch ... Aber in der Halle scharrte ein Stock.

      »Das ist Papa!« rief Milly warnend.

      Sogleich schlängelte sich Martin aus dem Armsessel seines Vaters; Delia setzte sich auf. Milly zog eilig eine sehr große, mit Rosen gesprenkelte Teetasse heran, die nicht zu den übrigen paßte.

      Der Oberst stand in der Tür und überblickte beinahe grimmig die Gruppe. Seine kleinen blauen Augen sahn sie alle an, wie um etwas Tadelnswertes an ihnen zu finden; im Augenblick war nichts Besonderes an ihnen zu tadeln; aber er war schlecht gelaunt; sie wußten sogleich, noch bevor er sprach, daß er schlecht gelaunt war.

      »Kleiner Schmierfink«, sagte er, Rose ins Ohr zwickend, während er an ihr vorbeiging. Sie deckte schnell die Hand über den Fleck auf ihrer Schürze.

      »Alles in Ordnung mit Mama?« fragte er und ließ sich mit seiner ganzen Schwere in den großen Armsessel sinken. Er verabscheute Tee; aber er trank stets ein wenig aus der riesigen alten Tasse, die seinem Vater gehört hatte. Er hob sie und nippte gewohnheitsmäßig.

      »Und was habt ihr alle getrieben?« fragte er. Er sah sie alle der Reihe nach an, mit dem argwöhnischen doch schlauen Blick, der heiter sein konnte, jetzt aber verdrossen war.

      »Delia hat ihre Musikstunde gehabt, und ich war bei Whiteley –« begann Milly, fast als wäre sie ein Kind, das eine Lektion aufsagt.

      »Geld ausgegeben, he?« sagte ihr Vater scharf aber nicht unfreundlich.

      »Nein, Papa. Ich hab’s dir ja schon gesagt. Es sind die falschen Leintücher geliefert – «

      »Und du, Martin?« fragte Oberst Pargiter, die Antwort seiner Tochter unterbrechend. »Klassenletzter wie gewöhnlich?«

      »Erster!« brüllte Martin, das Wort hervorstoßend, als hätte er es mit Mühe bis zu diesem Augenblick zurückgehalten.

      »Hm – was du nicht sagst!« erwiderte sein Vater. Seine Verdüsterung hellte sich ein wenig auf. Er fuhr mit der Hand in die Hosentasche und brachte eine Handvoll Silbergeld zum Vorschein. Seine Kinder beobachteten ihn, während er versuchte, ein Sechspencestück aus allen den großem Silbermünzen hervorzusuchen. Er hatte zwei Finger der rechten Hand im Indischen Aufstand verloren, und die Muskeln waren geschrumpft, so daß die Hand der Klaue eines alten Vogels glich. Er schupfte und scharrte; aber da er selbst die Verstümmelung stets unbeachtet ließ, wagten seine Kinder nicht, ihm zu helfen. Die glänzenden Fingerstümpfe faszinierten Rose.

      »Hier, Martin«, sagte er endlich und reichte das Sechspencestück seinem Sohn. Dann nippte er wieder vom Tee und wischte sich den Schnurrbart.

      »Wo ist Eleanor?« fragte er endlich, wie um das Schweigen zu brechen.

      »Es ist ihr Mietertag«, erinnerte ihn Milly.

      »Oh, ihr Mietertag«, murmelte der Oberst. Er rührte den Zucker in der Tasse rundum, als wollte er ihn zertrümmern.

      »Die lieben altbekannten Levys«, sagte Delia versuchsweise. Sie war seine Lieblingstochter; aber bei seiner gegenwärtigen Stimmung war sie ungewiß, wieviel sie wagen könnte.

      Er sagte nichts.

      »Bertie Levy hat sechs Zehen an dem einen Fuß«, piepste Rose plötzlich. Die andern lachten. Aber der Oberst unterbrach sie scharf.

      »Du beeil dich und mach, daß du zu deinen Hausaufgaben kommst«, sagte er mit einem Blick auf Martin, der noch immer kaute.

      »Laß ihn doch aufessen«, sagte Milly, wiederum die Art einer Älteren nachahmend.

      »Und die neue Pflegerin?« fragte der Oberst, auf die Tischkante trommelnd. »Ist sie gekommen?«

      »Ja ... « begann Milly. Aber in der Halle entstand ein Geräusch, und Eleanor trat ein. Sehr zu ihrer aller Erleichterung; besonders Millys. Gott sei Dank, da ist Eleanor, dachte sie aufblickend, – die Besänftigerin, die Streitschlichterin, der Puffer zwischen ihr und den Spannungen und Zwistigkeiten des Familienlebens. Sie betete ihre Schwester an. Sie hätte sie eine Göttin genannt und sie mit einer Schönheit ausgestattet, die nicht die ihre war, mit Kleidern, die nicht die ihren waren, hätte Eleanor nicht einen Stoß kleiner marmorierter Büchlein und ein Paar schwarzer Handschuhe in der Hand getragen. Beschütze mich, dachte sie, ihr eine Teetasse reichend, die ich so ein mäuschenhaftes, unterdrücktes, untüchtiges kleines Ding bin, verglichen mit Delia, die immer alles für sich durchsetzt, während ich immer eins auf denMund kriege von Papa, der heute aus irgendeinem Grund brummig ist. Der Oberst lächelte Eleanor zu, und der goldrote Hund auf dem Kaminteppich sah auch auf und wedelte, als hätte er in ihr eins dieser zufriedenstellenden weiblichen Wesen erkannt, die einem einen Knochen geben und dann ihre Hände in Unschuld waschen. Sie war die älteste der Töchter, etwa zweiundzwanzig, keine Schönheit, aber von frischem Aussehen und, obgleich im Augenblick müde, von munterem Naturell.

      »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte sie. »Ich bin aufgehalten worden. Und ich hab’ nicht erwartet–« Sie sah ihren Vater an.

      »Ich bin früher gekommen, als ich dachte«, sagte er hastig. »Die Sitzung – « Er brach ab. Es hatte wieder Krach mit Mira gegeben.

      »Und was machen deine Mieter, he?« fügte er hinzu.

      »Oh, meine Mieter ... « wiederholte sie; aber Milly reichte ihr die zugedeckte Schüssel.

      »Ich bin aufgehalten worden«, sagte Eleanor abermals und nahm sich einen der warmen kleinen Kuchen. Sie begann zu essen; die Atmosphäre heiterte sich auf.

      »Jetzt erzähl du uns, Papa«, sagte Delia kühn – sie war seine Lieblingstochter – »was du selbst getrieben hast. Irgendwelche Abenteuer gehabt?«

      Es war eine unglückselige Frage.

      »Es gibt keine Abenteuer für einen alten Kracher wie mich«, sagte der Oberst mürrisch. Er zermalmte die Zuckerkörnchen an der Wandung seiner Teetasse. Dann schien er seine Brummigkeit zu bereuen; er überlegte einen Augenblick.

      »Ich traf den alten Burke im Klub; er hat mich aufgefordert, eine von euch zum Dinner mitzubringen; Robin ist zurück, auf Urlaub«, sagte er.

      Er trank seinen Tee aus. Einige Tropfen fielen auf sein Spitzbärtchen. Er zog ein großes Seidentaschentuch hervor und wischte sich ungeduldig das Kinn. Eleanor sah von ihrem niedrigen Sessel aus eine merkwürdige Miene erst auf Millys, dann auf Delias Gesicht. Sie hatte den Eindruck von Feindseligkeit zwischen den beiden. Aber sie sagte nichts. Sie aßen und tranken weiter, bis der Oberst wieder seine Tasse hob, sah, daß nichts mehr darin war, und sie mit einem kleinen Klirren fest niedersetzte. Die Zeremonie des Nachmittagstees war vorbei.

      »So, mein Junge, nun verschwinde und mach dich über deine Hausaufgaben!« sagte er zu Martin.


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