Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri PettersenЧитать онлайн книгу.
hielt sie am Arm fest. »Du kommst also aus einem Disney-Traumland, oder was? Einem Ort, wo keiner tötet, stiehlt oder lügt? Ist das da so? Sind dort alle gleich, wo du herkommst?«
Sie riss sich los. »Nein! Aber da, wo ich herkomme, wissen alle, dass es so ist. Keiner tut so, als sei es besser, als es ist. Es gibt Mörder und Heilkundige. Arme und Reiche. Hier glaubt ihr, alle haben, was sie zum Überleben brauchen, aber das stimmt nicht. Ihr seid alle blind. Blind …« Ihre Stimme brach ab. »Aber das macht es wenigstens leichter, unsichtbar zu sein.«
Er stand auf. Sie wich einen Schritt zurück. Stefan war mindestens einen Kopf größer als sie und breitschultrig. Er nahm eine Strähne ihrer Locken und zwirbelte sie zwischen den Fingern.
»Wenn du hättest unsichtbar sein wollen, dann hättest du dir eine andere Farbe aussuchen müssen.«
»Die habe ich mir nicht ausgesucht. Mit der bin ich geboren.«
»Wirklich? Du bist mit so roten Haaren geboren?«
»Genauso wie du mit dieser Lippe geboren bist. Verstehst du das Problem? So, jetzt gehe ich. Ich kann nicht hierbleiben. Ich habe einiges zu tun. Kann ich die hier mitnehmen?« Hirka zeigte auf eine Packung Kekse, die auf dem Tisch lag. Sie hatte jetzt keine Ruhe mehr. Fühlte sich verwundbar und nackt. Wie der Totgeborene, der auf sie wartete.
»Bitte sehr. Wenn du meinst, dass du es noch schaffst, etwas zu essen, bevor sie dich finden, greif zu.« Stefan schob die Hände in die Taschen, davon überzeugt, dass seine Worte sie zum Bleiben veranlassen würden.
»Lass sie kommen. Du hast mich doch zuerst gejagt.« Sie steckte die Kekspackung in den Beutel.
Er seufzte. »Du, es tut mir leid. Ich habe viel mehr gesagt, als ich sollte, aber ich musste rausfinden, ob du eine von denen bist. Von den Kranken. Jetzt weiß ich, dass du nicht zu denen gehörst, aber sie jagen dich. Und sie sind nicht wie andere Menschen. Die Krankheit macht was mit ihnen. Mit dem Kopf. Das ist eine Infektion. Der Körper kämpft gegen das Fremde, verliert aber immer. Früher oder später. Du bist nicht sicher, Hirka.«
»Das bin ich noch nie gewesen. Außerdem sind sie tot.«
»Es kommen andere.«
»Dann muss ich wohl in Bewegung bleiben. Darin bin ich ziemlich gut.«
Hirka zog sich die Stiefel an. Ihr Messer lag auf dem Boden. Sie zögerte kurz, bevor sie es wieder in die Wollsocke steckte. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wofür sie es benutzt hatte.
»Wo ist mein Regenponcho?«
»Er hängt in der Dusche«, sagte er. »Wenn ich du wäre, würde ich ihn verbrennen. Da war Blut dran. Und dadurch finden sie dich.«
Sie biss die Zähne zusammen, unterdrückte die Schuldgefühle. Es war nicht mehr zu ändern. Sie lebte, weil sie getötet hatte.
Sie holte den Regenponcho, streifte ihn über und öffnete die Tür. Das fiel ihr schwerer, als sie gedacht hätte. Sie hatte keinen festen Bezugspunkt mehr. Stefan war der einzige. Er war nicht ungefährlich, das war offensichtlich, aber sie vertraute ihm. Er hatte nicht vor, ihr zu schaden. Er verfolgte Leute, die sich angesteckt hatten. Aber da, wo sie sich fürs Heilen entschieden hätte, hatte er sich fürs Töten entschieden.
Wie dem auch sei, sie konnte nicht bleiben. Sie hinterließ eine Blutspur, wohin auch immer sie ging. Sowohl hier als auch in Ymsland. Bei Stefan zu bleiben, hieße, ihn zu töten.
»Danke für die Hilfe«, sagte sie.
»Nicht, dass es mich was anginge, aber du rennst in den Tod, Mädchen! Willst du, dass ich dich gegen deinen eigenen Willen hierbehalte? Ich kann dich dazu zwingen, wenn ich muss.«
»Das wirst du nicht tun.«
»Weil?«
»Weil ich glaube, dass du keinen Platz für andere außer dich selbst hast, Stefan Barone«, antwortete sie und ging.
Umpiri
Lass ihn bitte in Sicherheit sein. Lass ihn in Sicherheit sein.
Hirka war den ganzen Weg vom Hotel gerannt. Die Frau hinter dem Tresen hatte nur gewinkt, als sie vorbeigesaust war. Ohne Fragen zu stellen. Ohne sie zu verfolgen. Aber Hirka rannte trotzdem.
Es wurde langsam dunkel. Sie war mehrmals im Schnee stecken geblieben, hatte die Stiefel herausziehen müssen und jetzt waren sie voller Schmelzwasser, aber sie konnte nicht stehen bleiben. Und sie konnte auch nicht auf direktem Weg zum Gewächshaus laufen. Zuerst musste sie sich vergewissern, dass ihr niemand gefolgt war.
Sie durchquerte den Park, wo der Schnee unberührt lag. Folgte dem Verlauf der Straßen in einem Kreis, sodass sie wieder beim Ausgangspunkt ankam. An der Ecke desselben Parks. Ihre eigenen Spuren waren die einzigen, die sie entdecken konnte. Gut. Dann war Stefan nicht hinterhergekommen. Auch niemand anders.
Sie lief auf kürzestem Weg zum Gewächshaus. Sie hatte keine Zeit, am Fluss entlangzurennen, also kletterte sie über den Zaun und sprang auf der anderen Seite hinab. Der Schnee um das Gewächshaus lag nach wie vor unberührt da, zum Glück. Er war nicht weggegangen. Und niemand hatte ihn gefunden. Aber das würde nicht lange auf sich warten lassen. Sie mussten sich vor Sonnenaufgang einen anderen Unterschlupf suchen.
Hirka schlich ins Gewächshaus, vorsichtig zwischen all den Pflanzen hindurch bis zur Abseite in der hintersten Ecke. Er war nicht da. Das Rabenblut auf den Steinplatten war getrocknet, aber dort lag kein Totgeborener. Ihr war übel. Sie hob die Säcke mit Pflanzenerde hoch, als würde er plötzlich darunter auftauchen. Sie schaute sich um, mit einem Mal sicher, dass er dort irgendwo war. Sie blickte nach oben.
Und da saß er. Wie ein Vogel, auf einem Balken unter dem Dach. Die Knie ragten zu je einer Seite und er hielt die Arme vor sich. Er legte den Kopf schräg. Blinzelte aus weißen Augen. Hirka setzte den Beutel ab.
»Ich sehe, dass es dir besser geht«, stellte sie trocken fest, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie kam sich blöd vor, weil sie sich Sorgen um ihn gemacht hatte.
Er streckte die Füße zum Dach, bis er auf den Händen dort auf dem Balken stand. An seinem Körper war kein Gramm Fett zu viel und sie konnte jeden einzelnen Muskel arbeiten sehen. Bei einigen war sie sich sicher, dass sie sie noch nie gesehen hatte. Weder bei Ymlingen noch bei Menschen. Die dünnen, die die Wirbelsäule entlangliefen, und die Wölbungen um die Schulterblätter … Er schwang sich herum. Langsam, wie um zu zeigen, was er konnte. Dann sprang er geschmeidig auf den Boden und lächelte sie an.
Sie machte einen Schritt zurück. Er stand unheimlich dicht vor ihr. Und es gab an ihm nichts Schwaches mehr. Er war mehr Nábyrn, als sie in Erinnerung hatte.
Sie öffnete den Beutel und gab ihm den Apfel und die Kekse. »So kannst du hier nicht rumlaufen«, sagte sie und nickte zu seinem Schritt. »Normale Leute laufen nicht nackt rum.« Es tat gut, wieder ihre eigene Sprache zu sprechen, obwohl sie nicht wusste, wie viel er verstand. Er nahm das Essen und sie zog schnell die Hand zurück. Seine Krallen waren eklig und sie erinnerte sich daran, wie er ihre Hand festgehalten hatte.
Er umkreiste sie ein paarmal. Einen Augenblick erwog sie, wegzulaufen, aber dann setzte er sich auf die Säcke mit der Erde und bohrte die Krallen in den Apfel. Die Schale begann zu schrumpeln, sich zusammenzuziehen, zu verfaulen, während sie zuschaute. Hirka blieb der Mund offen stehen.
»Du isst mit den Krallen …«, flüsterte sie und schloss den Mund wieder, damit sie nicht wie ein Schwachkopf aussah.
»Das würdest du auch tun, wenn dir die Entwicklung größere Gnade erwiesen hätte.«
Hirka schlug ihre Hand auf den Mund und wich zurück. Seine Stimme war tief und rau. Aber er sprach feineres Ymsländisch als sie.
»Siehst du?«, fragte er. »Von genau diesen Dingen