Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri PettersenЧитать онлайн книгу.
den Weg laufen sollte. Dem Mann mit dem Kapuzenpullover.
Der Einkaufsbeutel samt Inhalt stand da, wo sie ihn abgestellt hatte, gleich vor dem Fenster. Eine dünne Schneeschicht hatte sich daraufgelegt. Hirka linste ins Café. Er war nicht mehr da. Zum Glück. Erleichtert nahm sie den Beutel und machte sich auf den Weg zurück zur Kirche.
Plötzlich packte sie jemand, zog sie mit gewaltiger Kraft rückwärts, in eine dunkle Gasse zwischen zwei Häusern. Sie wollte schreien, doch der Schrei wurde von einer Hand auf ihrem Mund erstickt. Sie wurde an die Wand gedrückt, neben einem Müllcontainer. Seine Hand schmeckte nach Tabak. Hirka war wie gelähmt. Kalt. Ihr schlug das Herz bis zum Hals und sie rang nach Luft. Der Beutel glitt ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Kekse und Äpfel rollten in den Schneematsch. Der Mann aus dem Café starrte sie wie ein wildes Tier an. Er sagte etwas, aber die Worte waren nicht zu verstehen. Hirka trat nach ihm. Er schob seine Hand zu ihrem Hals hinab und drückte zu, bis sie aufhörte, sich zu wehren. Das half. Sie durfte wieder atmen.
Sie warf einen Blick auf die Straße. Sie standen in einer Nische in der Wand, soweit sie das in ihrer Lage feststellen konnte. Leute gingen vorbei. Sie sahen nicht hin, konnten nicht helfen. Hirka beugte sich vor und schrie. Der Griff um ihren Hals wurde wieder fester. Eine Frau im Pelzmantel warf ihnen einen Blick zu und hatte es eilig weiterzukommen. Als habe sie nichts gesehen. Aber das hatte sie. Hirka wusste, dass sie sie gesehen hatte. Dennoch ging sie weiter. Das Gefühl der Hoffnung verfinsterte sich zu Verzweiflung.
Der Mann zog etwas aus seinem Gürtel und presste es ihr an die Schläfe. Etwas Kaltes. Aber es war kein Messer, das war das Wichtigste. Sie war etwas erleichtert. Er knurrte wieder Worte. Es klang wie eine Frage, aber er sprach viel zu schnell, als dass sie ihn hätte verstehen können.
Hirka schluckte, spürte, wie ihre Halsmuskeln gegen seine Umklammerung kämpften. »Ich versteh nicht … Ich spreche schlecht.«
Er wirkte plötzlich verunsichert. Ihr fiel eine Narbe auf, die seine Lippe auf einer Seite etwas nach oben zog. Er ließ ihren Hals los und drückte ihr seinen Daumen auf die Lippen.
»Nein!« Hirka warf den Kopf zur Seite, aber er drehte ihn wieder zurück. Er war stark. Er schob ihre Oberlippe mit dem Daumen hoch, starrte auf ihre Zähne. Er sah jetzt weniger bedrohlich, eher verwirrt aus. Das war so seltsam, dass Hirka kurz ihre Angst vergaß. Sie kam sich wie ein Pferd auf dem Viehmarkt vor.
Sie schob die Hand in die Tasche und umklammerte die Blutsteine. Die durfte sie nicht verlieren. Dann hätte sie nichts mehr. Nichts, was sich zu Geld machen ließe. Nichts von Wert.
Die Bewegung weckte seine Aufmerksamkeit. Er riss ihr die Hand wieder aus der Tasche. Hirka versuchte, eine Faust um die Steine zu machen, aber er hatte sie sich schon geschnappt. Er nahm sich nicht die Zeit, sie zu studieren, sondern steckte sie sich selbst ein. Blickte sich um, als sei er am falschen Ort.
Dann ließ er Hirka los, ging rückwärts. Dabei trat er aus Versehen auf eine Kekspackung und zuckte zusammen, als sie unter seinem Fuß zerdrückt wurde.
»Das macht nichts!«, sagte sie eilig. »Wir haben noch mehr.«
Er sah sie an, die Stirn gerunzelt, zog sich in die dunkle Gasse zurück, kehrte ihr dann den Rücken zu und verschwand draußen auf der anderen Straßenseite.
Hirka blieb gegen die Wand gelehnt stehen und atmete. Die Angst steckte ihr noch immer kalt in den Knochen, wollte nicht nachlassen. Sie erinnerte sich. An die Kerkerschächte in Eisvaldr. An den Mann, der sie mit Gewalt nehmen wollte. Damals bestand kein Zweifel, worauf er aus war. Jetzt hatte sie nicht den geringsten Schimmer, was ablief. Das war schlimmer. Sie wusste nichts. Und in einer ganz neuen Welt war alles möglich. Absolut alles.
Sie rutschte an der Wand hinab, sank auf den nassen Asphalt. Die Kekspackung lag vor ihr. An einem Ende platt getrampelt. Der Geruch von saurer Milch sickerte aus dem Container zu ihr hinunter. Sie wollte nach Hause, wollte einfach nur nach Hause. Nach Ymsland, nach Elveroa, zu Vater.
Vater ist tot. Die Hütte ist abgebrannt. Es ist vorbei.
Warum war sie hergekommen? Sie gehörte hier nicht her. Sie hasste diesen Ort. Hasste ihn. Das Licht. Die Gerüche. Die Geräusche. Den vielen Lärm. Und trotzdem war alles tot.
Ein Ort ohne Gabe. Eine kalte Welt voll fürchterlichem Leben.
Die Versuchung
Sie waren offen gewesen. Die Tore.
Rime hatte gesehen, wie die Landschaft zwischen den Steinen durchschimmerte. Hatte das Gras gesehen, wie es sich neigte im Sog von einem unbekannten Ort. Er war von der Leere verschluckt worden, wo die Welt aufhörte zu bestehen. Und er war im Ritualsaal wieder herausgekommen.
An einer Stelle hinein, an einer anderen hinaus. Die Tore waren wach gewesen und man müsste sie wieder aufwecken können. Nur für einen kurzen, ungefährlichen Augenblick. Des Beweises wegen. Des Wissens wegen.
Ihretwegen.
Rime schritt die Regalreihen in der Bibliothek auf der Suche nach einer Antwort ab. Ihm kam der Gedanke, dass man, wollte man die Geheimnisse des Rates verstecken, nichts weiter zu tun brauchte, als sie hier unterzubringen. In aller Öffentlichkeit. Es würde dennoch Mannesalter dauern, um sie zu finden.
Gespräche wurden hier nur wenige geführt, und die auch lediglich gedämpft. Durch eine angelehnte Tür drang das Kratzen von Federn auf Papier. Er fragte sich, was da wohl niedergeschrieben wurde und ob es der Wahrheit entsprach.
Rime ging zur Galerie, die den Schacht mit Tageslicht von den Dachfenstern umkränzte. Grau gekleidete Hirten und Hirtinnen kletterten auf langen Leitern zwischen den Stockwerken umher und segelten im ganzen Rund auf Gleitschienen dahin. Er hoffte, jemand von ihnen könnte ihm den richtigen Weg weisen, zu den Büchern über die Gabe. Rime hob die Hand, um zu fragen, als ihm eine Frau im untersten Stockwerk auffiel. Sie stach durch ein feuerfarbenes Kleid hervor, schaute sich mit geschmeidigen Bewegungen um, graziös, suchend. Ihr Blick traf seinen. Sie kam ihm bekannt vor. Rime merkte, dass er sie anstarrte, und drehte sich zu einem Lesepult am Geländer um.
Dort lag das Buch des Sehers, schamlos offen. Es entblößte die Lügen, als sei nichts geschehen. Er spürte einen Stich der Enttäuschung darüber, dass immer noch Leute darin lasen. Aber selbstverständlich taten sie das.
Er ließ seine Finger den Einband entlanggleiten, der sich schon fast aufgelöst hatte. Dieses Buch war schon lange vor seiner Geburt hier gewesen. Lange vor Ilume. Ihr einziger Wunsch war es gewesen, ihn im Rat zu sehen. Zu wissen, dass er die Vergangenheit mit der Zukunft verband, indem er auf dem Stuhl saß. Aber kaum auf diese Weise. Veränderung war nie ihre Sache gewesen. Sie hätte ihn lieber enterbt, als den Seher fallen zu sehen. Diese göttliche Vorstellung, die eine ganze Welt tausend Jahre lang getragen hatte.
Wie viele falsche Götter hatte es vor dem Raben gegeben? Wie viele neue würden noch kommen?
Es reizte ihn, im Buch zu lesen. Als ob sich jetzt etwas anderes offenbaren würde als vorher. Rime erinnerte sich aus seiner Kindheit an jedes Wort.
So groß war das Herz dessen, der sah, dass er sie alle in seiner Gnade darin aufnahm. So tief war die Trauer um die Gefallenen, dass seine Tränen sie wieder reinwuschen. Frei von Schuld waren sie, als sie ihrem Seher gegenübertraten, und er sprach zu ihnen: ›Alle Macht der Erde ist mir gegeben.‹
Frei von Schuld? Was für ein Witz … Und wer nach dem Krieg die Macht bekommen hatte, stand zweifelsfrei fest. Rime blätterte um.
Und der Baum wuchs hinauf in den Himmel, blutschwarz und voller Kraft von allen, die ihre Leben geopfert hatten. Nach seinem Willen formte er ihn, nach seinem Herzen, um den Ymlingen zu dienen, und er sprach: ›Hier ist mein Thron.‹
Rime schaute sich um. Er fühlte sich beobachtet. Und unerwartet überkamen ihn Schuldgefühle. Er hatte