Mami Box 1 – Familienroman. Claudia TorweggeЧитать онлайн книгу.
einem Zucken um den Mund hängte Vera ein.
In den folgenden Tagen schob sie nach Möglichkeit die schweren Gedanken beiseite an das Drama, das sich im Hause Sasse nun ereignen würde. Edgar hatte ein stilvolles und urgemütliches Hotel für sie ausgewählt, darin man sich sehr wohl fühlen konnte. Laura wurde richtig übermütig, wie sie sie noch nicht kannten. Sie tollte im Schnee herum und sah reizend aus in ihrem bunten wattierten Anzug und mit den roten Bäckchen. Ja, sie war ordentlich hübsch geworden. Wer hätte das von der kleinen Spitzmaus von ehedem gedacht! Vera ertappte sich dabei, daß sie stolze Muttergefühle hatte. Es machte sie immer wieder glücklich, Lauras zärtliches Mama zu hören.
Am Jahresanfang kehrten sie heim. Auf Edgar wartete um diese Zeit viel Arbeit in der Bank. Für Vera, die kurzzeitig zu vergessen gesucht hatte, war die Sorge um ihre Schwester nun wieder ganz nahegerückt. Sie wagte es nicht, dort anzurufen, aus Angst, Schlimmes zu erfahren.
Aber sehr bald kam ein Anruf von Dieter. Sie ahnte, was es bedeutete, daß e r anrief. Ihr Herz sank.
»Seid ihr schon zurück?« sagte er mit schleppender Stimme. »Dann wünsche ich euch ein gutes Neues Jahr, Vera.«
»Danke, Dieter…« Vera stockte. Würde es nicht wie Hohn klingen, wenn sie seinen Wunsch erwiderte. Bangen Herzens wartete sie ab. Es verstrichen einige Sekunden, die ihr endlos erschienen.
»Jenny hat uns gestern verlassen«, kam seine Stimme nach dieser Pause wieder an ihr Ohr. »Sie ist zu ihrem Geliebten nach Paris gefahren. Sie wirft unsere Ehe weg wie ein altes Kleid, das ihr nicht mehr paßt.«
Es war also wirklich soweit gekommen. Vera biß sich auf die Lippen. »Willst du mir die Kinder schicken?« fragte sie dann. »Ich werde euch helfen, wie ich kann.«
Wieder trat ein kurzes Schweigen ein.
»Das klingt ja gerade, als überraschte es dich nicht sehr«, sagte ihr Schwager rauh. Und als Vera nichts darauf erwiderte: »Du hast es also gewußt…«
»Ja«, versetzte Vera tonlos. »Ich habe nur bis zum letzten Moment gehofft, daß sie noch zur Besinnung käme.«
»Warum hast du deine Schwester nicht zurückgehalten, Vera?«
»Niemand hätte sie zurückhalten können, Dieter. Was glaubst du, wie ich auf sie eingeredet habe, aber es ging an ihrem Ohr vorbei. Wie mich das bedrückt hat, die ganze Zeit. Geschämt habe ich mich für sie.«
»Niemand konnte sie zurückhalten«, wiederholte Dieter Sasse dumpf. »Auch ich nicht. Ist das nicht seltsam? Da fördert man einen jungen Künstler, und er nimmt einem die Frau.«
Vera schluckte schwer. Er tat ihr unsagbar leid. »Und den Kindern die Mutter«, vollendete sie. »Was ist jetzt mit Katrin und Claus?«
»Frag mich nicht. Claus ist noch verstörter als Katrin. Der Junge versteht überhaupt nichts mehr. Wir sind ein armes Häuflein hier, Vera.« Bittere Ironie klang aus seinen Worten.
»Wenn ihr mich braucht, bin ich für euch da«, sagte Vera. »Du wirst ja auch wieder ins Geschäft müssen.«
»Das kann jetzt warten. Ich muß jetzt bei den Kindern bleiben.«
»Und wer versorgt euch?« fragte Vera erregt. Ein heiliger Zorn auf ihre verantwortungslose Schwester packte sie.
»Frau Müller, unsere Haushaltshilfe, wird jetzt täglich kommen und bis zum frühen Nachmittag bleiben. So hat das Jenny noch mit ihr geregelt. Man muß jetzt eben sehen, wie es weitergeht.« Es klang sehr müde.
»Ja, Dieter. Sag Katrin und Claus, daß sie noch eine Tante haben, die sie von Herzen liebt und immer für sie dasein wird.«
Es würde ihnen nur ein sehr geringer Trost sein, dachte Vera voller Erbarmen, als dieses Gespräch beendet war. Es hatte um zehn Uhr morgens stattgefunden. Sie ahnte nicht, was an diesem Vormittag noch auf sie zukommen würde.
*
Dieter fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, dann ging er zu den Kindern und richtete ihnen aus, was ihre Tante gesagt hatte. Sie nickten stumm. Sie waren in Katrins Zimmer, und sie hielten sich bei den Händen. So manches Mal hatten sie sich gezankt und waren aufeinander losgegangen, spielerisch eher, in einem kindlichen Kräftemessen, jetzt rückten sie eng zusammen. Der Vater setzte sich zu ihnen. Sie sahen sich an.
»Ich muß immer daran denken, wie Mama gestern die Koffer rausgetragen hat«, wisperte Katrin. »Sie hat gesagt, wir würden uns immer wiedersehen, und wenn ich wollte, könnte ich ganz zu ihr kommen. Aber ich bleibe bei dir, Papa.«
»Ja, Katrin.« Das Sprechen fiel Dieter schwer.
Auch Claus brachte kaum ein Wort hervor. Seine Augen waren weit aufgerissen in dem runden Bubengesicht, wie verständnislos fragend. Hatte er nicht lange gedacht, daß das nur ein schlimmer Traum wäre, aus dem er erwachen müßte. Aber das war es nicht, nein. Wieso denn nur? Wieso war sie weg? Ein fremder Mann? Sie konnte doch nicht einfach zu einem fremden Mann gehen. Sie war doch seine und Katrins Mutter.
»Mußt du nicht ins Geschäft, Papa?« fragte Katrin nach einer Weile.
Ihr Vater schüttelte nur den Kopf. Er schwieg weiter. Unten klappte die Haustür. Frau Müller ging wohl zum Einkaufen.
»Ich – ich geh auch nicht mehr in die Schule, wenn die übermorgen wieder anfängt«, stammelte Claus.
»Das werden wir wohl müssen«, sagte seine Schwester.
Dann läutete das Telefon. Dieter stand auf. Das Geschäft, vermutete er. Er hatte Frau Steegen gesagt, daß er zu Hause zu erreichen sei, wenn etwas wäre. Aber es war nicht seine Mitarbeiterin, sondern eine Männerstimme, die da deutsch mit starkem französischen Akzent sprach, nachdem er sich nur kurz mit einem »Hallo« gemeldet hatte.
»Sind Sie verwandt mit einer Dame Jenny Katarina Sasse, geborene Droste?«
»Das ist meine Frau. Wer spricht denn da?«
»Hier ist das Sulpice-Hospital in Reims, Oberarzt Dr. Morgan. Ihre Frau ist heute nacht hier eingeliefert worden.«
Dieter merkte, wie ihm kalter Schweiß ausbrach. Plötzlich war alles Angst, Schwindel, Schrecken. »Was ist mit ihr?« Hatte er es geschrien oder geflüstert? Er wußte es nicht.
»Madame Sasse hatte einen Autounfall. Sie hat Glück im Unglück gehabt, ihre Verletzungen sind nicht lebensbedrohend. Aber sie steht unter Schock, ist zu keiner Aussage fähig. Die Personalien haben wir ihrem Paß entnommen, der sich in ihrer Handtasche befand.«
Sie lebt! Dieter entrang sich ein tiefer, zitternder Atemzug.
»Ich komme«, sagte er mit rauher Kehle. »Ich fahre sofort los.«
»Das wäre gut.« Der Arzt nannte nochmals den Namen und beschrieb kurz die Lage des Hospitals, bevor er auflegte.
Dieter hielt den Hörer noch in der Hand, sekundenlang stand er reglos, mit geschlossenen Augen. Sulpice-Hospital in Reims, klang es in ihm nach. Dann setzte sein logisches Denken wieder ein. Was hatte Jenny in Reims gewollt, weit fort von Paris? Wie auch immer – er mußte zu ihr. Seine Aufregung wich einer klaren, kalten Entschlossenheit.
Katrin und Claus hockten immer noch so beieinander, wie er sie vor wenigen Minuten verlassen hatte.
»Ich muß weg, Kinder, ich fahre nach Frankreich. Eure Mutter ist mit dem Wagen verunglückt und liegt dort im Krankenhaus. Katrin, suche du schon zusammen, was ihr so brauchen werdet für ein paar Tage. Ich bringe euch zu Tante Vera.«
Er rief seine Schwägerin an. »Vera, ich muß deine Hilfe jetzt sofort schon in Anspruch nehmen. Bitte, nimm Katrin und Claus auf.«
»Was ist denn passiert?« fragte Vera alarmiert.
Dieter erklärte es ihr mit wenigen Worten.
Ihre Stimme klang belegt, als sie zurückgab: »Ja, Dieter. Ja, fahr nur zu ihr.«
Er sagte Frau Müller Bescheid, die im Wohnzimmer die Pflanzen begoß, daß sie nach Hause gehen könnte,