Die Erneuerung der Kirche. George WeigelЧитать онлайн книгу.
Heute scheinen wir die Geburt eines neuen Katholizismus zu erleben, der ohne Verlust seiner institutionellen, sakramentalen und sozialen Dimensionen in einem echten Sinn evangelikal ist. […] 2
[Der Katholizismus] in seiner besten Form hat stets eine tiefe persönliche Beziehung mit Christus gefördert. Wenn wir evangelisieren, sind wir aufgerufen, unsere Augen zu ihm zu erheben und jedweden Ekklesiozentrismus zu überwinden. Die Kirche ist wichtig, aber sie ist nicht in sich selbst verschlossen. Sie ist ein Mittel, die ganze Welt durch Jesus Christus in die Vereinigung mit Gott hineinzuziehen. […] Die erste und oberste Priorität besteht für die Kirche darin, die Frohbotschaft von Jesus Christus als eine freudige Botschaft der ganzen Welt zu verkündigen. Nur wenn die Kirche ihrer evangelikalen Mission treu ist, darf sie hoffen, in der Gesellschaft, in der Politik und in der Kultur ihren eigenständigen Beitrag zu leisten.
– AVERY KARDINAL DULLES SJ
– 1991 –
Die Kirche ist aufgerufen, ihren Auftrag […] gründlich zu überdenken […]. Sie darf sich nicht vor jenen beugen, die nur Verwirrung, Gefahren und Bedrohungen sehen. […] Es geht darum, die Aktualität des Evangeliums […] durch persönliche und gemeinschaftliche Begegnung mit Jesus Christus zu bestätigen, zu erneuern und zu beleben, damit er Jünger und Missionare berufen kann. […]
Ein katholischer Glaube, der nur als Last betrachtet wird, der nur als Katalog von Regeln und Verboten verstanden wird, sich auf einzelne Frömmigkeitspraktiken beschränkt, Glaubenswahrheiten nur selektiv und partiell akzeptiert, gelegentlich an einigen Sakramenten teilnimmt, nur einige Prinzipien der kirchlichen Lehre nachbetet, Moralvorstellungen zurechtbiegt oder krampfhaft vertritt, die das Leben der Getauften nicht verwandeln, – ein solch reduzierter Glaube wird den Auseinandersetzungen der Zeit nicht standhalten. […] Wir alle müssen (gemäß den Worten Papst Benedikts XVI.) neu beginnen von Christus her: »Am Anfang des Christseins steht […] die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.«
– Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida
– 2007 –
Vorwort
Evangelikaler Katholizismus: eine Einladung zu einer tiefgreifenden katholischen Reform
Als die katholische Kirche den 50. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils beging, waren die Forderungen nach einer Reform der Kirche nachdrücklich, weitverbreitet und nicht selten misstönend. Doch der Ruf nach einer »Reform« war oft schon das Einzige, was die Rufer miteinander verband.
In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts weisen sowohl die »progressiven« als auch die »traditionalistischen« Katholiken ihre Reform-Agenda vor. Hans Küng, der die Aufgabe des II. Vaticanums einst als »Reform und Wiedervereinigung« beschrieb, ist fest davon überzeugt, dass er weiß, was Reform bedeutet, und auch die Herausgeber von The Wanderer1 oder The Tablet2 sind sich ihrer Sache sicher, obwohl keiner von ihnen sich mit dem jeweils anderen auf die Einzelheiten dieser Reform einigen könnte. Die New York Times hat eine genaue Vorstellung davon, wie eine katholische Reform aussehen sollte, L’Osservatore Romano ebenfalls und dasselbe gilt für Hunderttausende von Bloggern und Internetkommentatoren überall auf der Welt. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber schon auf. Die Forderung nach einer Reform ist de facto universal, doch die Modalitäten der Reform sind allesamt umstritten.
Dennoch gibt es vielleicht noch einen weiteren Berührungspunkt. Grundsätzlich stimmen alle streitenden Parteien darin überein, dass sich die Probleme und Chancen des Katholizismus des 21. Jahrhunderts zwischen 1962 und 1965 – also in den Jahren des Zweiten Vatikanischen Konzils – herauskristallisiert haben. Besonders scharfsinnige Beobachter gehen in ihrer Analyse womöglich noch um einige Jahrzehnte weiter zurück, nämlich bis in die Zeit der katholischen intellektuellen Renaissance Mitte des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich waren viele Aspekte, die die Konzilsdebatten prägten, damals schon präsent: ein neues biblisches Bewusstsein; ein feineres Gespür für die Bedeutung der Geschichtstheologie und verschiedener philosophischer Sichtweisen; die Erneuerung des kirchlichen Gottesdiensts; eine neue Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Leben. Gemeinhin besteht jedoch über das gesamte Spektrum der kirchlichen und weltlichen Meinungen hinweg Einigkeit darüber, dass der Katholizismus des 21. Jahrhunderts – zum Guten oder zum Schlechten – mit dem II. Vaticanum begann.
Dennoch läuft dieser Konsens-im-Dissens Gefahr, die tieferen Strömungen der kirchlichen und weltlichen Kulturgeschichte außer Acht zu lassen. Er erweckt den Eindruck, als wären die Debatten über die katholische Identität, die die Jahre des Konzils und die darauffolgenden Jahrzehnte geprägt haben, ex nihilo entstanden – oder von Anfang an in der Form geführt worden, zu der sie in der Tat schon sehr bald erstarrten. Das vorliegende Buch und die darin enthaltenen Vorschläge gehen von der Hypothese aus, dass diese bekannten Analysen verschiedene Aspekte des Katholizismus des 21. Jahrhunderts zwar durchaus treffend beleuchten und erklären, insgesamt aber zu oberflächlich sind. Und das wiederum heißt, dass auch die »Reformvorschläge«, die aus diesen Analysen erwachsen, im Großen und Ganzen zu oberflächlich sind und im Kern an einer wirklich tiefgreifenden katholischen Reform vorbeigehen.
In Wirklichkeit hat die tiefgreifende Reform der katholischen Kirche bereits vor über 125 Jahren eingesetzt. Sie begann unter Papst Leo XIII. und wurde Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Wiederbelebung der katholischen Wissenschaften (Bibelforschung, Liturgiewissenschaft, Geschichte, Philosophie und Theologie) und, mehr noch vielleicht, durch das millionenfache Martyrium der Katholiken weitergeführt, die den totalitären Systemen dieser Epoche zum Opfer fielen. Sie wurde fortgesetzt, als Papst Pius XII. seine Lehre von der Kirche als dem »Mystischen Leib Christi« (Enzyklika Mystici corporis Christi) vorlegte.3 Sie erreichte auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil einen kirchendramatischen Höhepunkt und sie erhielt neuen Schwung durch das apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi (1975), in dem Papst Paul VI. die ganze Kirche dazu aufrief, das Evangelium mit neuem missionarischem Eifer zu verkünden.4 Durch die Pontifikate zweier brillanter Männer, des heiligen Johannes Paul II. und Benedikts XVI., wurde sie noch schärfer akzentuiert. Viele Kämpfe im Katholizismus des 21. Jahrhunderts – angefangen bei der Missbrauchskrise über die radikale Säkularisierung Europas und den Kampf mit dem evangelikalen, pfingstlichen und fundamentalistischen Protestantismus um die christliche Zukunft Lateinamerikas bis hin zu der Herausforderung, für Afrika und Asien geeignete Formen der »Inkulturation« des katholischen Glaubens zu finden – lassen erkennen, welche Wellen diese tieferen Reformströmungen geschlagen haben, auf welche Widerstände sie getroffen sind und wie sich aus alledem allmählich und mühsam ein neues Katholisch-Sein herausschält: eine neue »Form« des Katholizismus.
Diese neue Form steht in wesentlicher Kontinuität mit den Ursprüngen und der Entwicklung der katholischen Lehre, denn sonst wäre sie keine wirklich katholische »Form« der Kirche. Und doch ist sie auch etwas Neues. Oder, anders und vielleicht besser ausgedrückt: Sie ist die Wiederentdeckung und Wiederanwendung von etwas ganz Altem – von etwas, das bis in die ersten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung zurückreicht.
Dieses »Etwas« soll im Folgenden »evangelikaler Katholizismus« genannt werden. Ehe ich dieses Konzept – was damit gemeint ist und was es im Hinblick auf eine tiefgreifende Reform der katholischen Kirche bedeuten könnte – näher erläutere, muss ich jedoch klarstellen, was ich nicht darunter verstehe.
Der evangelikale Katholizismus ist keine Art und Weise des Katholisch-Seins, die gewisse katechetische Praktiken und gottesdienstliche Formen des evangelikalen, fundamentalistischen und pfingstlichen Protestantismus adaptiert.
Der evangelikale Katholizismus ist nicht der Katholizismus der Zukunft, wie ihn sich die »progressiven« oder die »traditionalistischen« Katholiken vorstellen, obwohl er von den Ersteren und von den Letzteren