Die Erneuerung der Kirche. George WeigelЧитать онлайн книгу.
Er leugnet die Realität der Bedingungen, unter denen das Evangelium im 21. Jahrhundert verkündet werden muss – und verurteilt sich damit selbst zur evangelikalen Unfruchtbarkeit, weil er, statt zu Bekenntnis und Mission aufzurufen, lieber den Rückzug in Bunker und Katakomben propagiert. Der progressive Katholizismus ist eine Variante des liberalen Protestantismus und findet (obwohl das Tenure-Track-System sein akademisches Fortleben begünstigt) in der Weltkirche keinen demografischen Rückhalt, doch Letzteres gilt ebenso für den traditionalistischen Katholizismus und insbesondere für den schismatischen Traditionalismus, wie ihn der verstorbene französische Erzbischof Marcel Lefebvre begründet hat. Und wer genauer hinsieht, wird sogar feststellen, dass es sich bei beiden Optionen um Varianten desselben gegenreformatorischen, regelbasierten, katechetisch-devotionalen Katholizismus handelt: Das traditionalistische Lager will die Regeln, Katechismusantworten und Frömmigkeitsübungen straffen und festzurren und die Progressiven wollen die Schrauben im Namen der Offenheit oder Barmherzigkeit lockern. Dennoch beziehen sich die einen wie die anderen auf das gegenreformatorische Modell und bleiben darin gefangen wie ein in Bernstein eingeschlossenes Fossil.
Sie werden beide enden und in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ist ihr Niedergang nur ein weiterer Hinweis für den Aufstieg des evangelikalen Katholizismus: eines Katholizismus, der aus einem neuen Pfingsten, einer neuen Ausgießung missionarischer Energie für eine neue historische und kulturelle Epoche geboren wird.
Und wieder ist Pfingsten
Nach dem Wunsch des heiligen Johannes XXIII. sollte das Zweite Vatikanische Konzil ein neues Pfingsten werden. Nach dem Wunsch des heiligen Johannes Paul II. sollte das Heilige Jahr 2000 eine Pfingsterfahrung für die gesamte Weltkirche werden und den Katholizismus des dritten Jahrtausends zu einer »Neuevangelisierung« anspornen. Doch man darf den Wunsch nach einem neuen Pfingsten nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sich ein neues Pfingsten zu wünschen heißt, mit dem Feuer zu spielen.
In einer Betrachtung zum Pfingstfest (der jährlichen Feier der ersten Ausgießung des Heiligen Geistes, die oft als die Geburtsstunde der Kirche beschrieben wird) hat Joseph Ratzinger einmal geschrieben: »Der Heilige Geist ist Feuer; wer nicht gebrannt werden will, darf sich ihm nicht nahen.« Im weiteren Verlauf erinnert Ratzinger an ein nichtbiblisches Jesuswort, dass der alexandrinische Theologe Origenes im dritten Jahrhundert überliefert hat: »Wer mir nahe ist«, so sagt Jesus bei Origenes, »ist dem Feuer nahe« – ein Herrenwort, das an Lk 12,49 erinnert: »Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!« Dieses Feuer, so Ratzinger weiter, »weist auf den Zusammenhang von Christus, Heiligem Geist und Kirche in unnachahmlicher Weise hin.«
Diese Beziehung und ihre Verbindung zur Mission hat, so Ratzinger weiter, der heilige Johannes Chrysostomos, der gelehrte Patriarch von Konstantinopel, im vierten Jahrhundert in einem Kommentar zu jener Stelle in der Apostelgeschichte sehr schön beschrieben, in der die aufgeregten Einwohner von Lystra Paulus und Barnabas für Inkarnationen der griechischen Götter Zeus und Hermes halten. Die Apostel erschrecken, als das Volk sie wie Götter verehrt, und sie beeilen sich, den Leuten zu erklären: »Auch wir sind nur Menschen, von gleicher Art wie ihr; wir bringen euch das Evangelium« (vgl. Apg 14,8–18). Chrysostomos schreibt in seiner Auslegung zu diesem Text, dass sie in der Tat Menschen waren, genau wie die überspannten Männer und Frauen von Lystra. Und doch waren sie auch mehr, waren sie anders, denn sie waren vom Feuer berührt worden – und sprachen nun auf geläuterte und machtvolle Weise, denn die Feuerzungen, die bei der Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten auf die Kirche herabgekommen waren, hatten sie berührt.
Das Feuer des Heiligen Geistes läutert, inspiriert und schmilzt Männer und Frauen zu einer neuen menschlichen Gemeinschaft zusammen: der Kirche. Durch jedes ihrer Mitglieder und in ihnen ist die Kirche als ein Ganzes der Leib Christi auf Erden. Paulus, Barnabas und alle, die wahrhaft zu Christus bekehrt worden sind – sodass die grundlegende Dynamik ihres Lebens in der Freundschaft mit Christus und der Möglichkeit besteht, diese Freundschaft an andere weiterzugeben –, sind andere Menschen geworden. Christen, die eine radikale Umkehr vollzogen haben, werden zu Männern und Frauen, die von Feuerzungen berührt und vom Heiligen Geist beseelt worden sind, und sie erkennen die bleibende Gegenwart dieses Heiligen Geistes in der Liturgie, wenn sie miteinander beten, einander den Frieden Christi schenken und gemeinsam den Leib und das Blut des Herrn empfangen.
Gegen Ende seiner Betrachtung zum Pfingstfest gibt Joseph Ratzinger bereitwillig zu, dass man sich bei vielen Christen heute fragen muss: »Wo ist die Feuerzunge geblieben?« Und dann formuliert er eine Herausforderung, die den evangelikalen Katholizismus in seiner ganzen Dramatik einfängt: »Der Glaube ist eine Feuerzunge, die uns brennt und umschmilzt, damit immer mehr gelten könne: ich und doch nicht mehr ich. […] Wo wir dem brennenden Feuer des Heiligen Geistes ausweichen, wird Christsein freilich nur auf den ersten Blick bequem. […] Nur wenn wir die Feuerzunge nicht fürchten und den Sturm, der sie mit sich bringt, wird Kirche Ikone des Heiligen Geistes. Und nur dann öffnet sie die Welt auf das Licht Gottes hin.«12
Wie diese Gedanken zum Pfingstereignis bereits andeuten, hat der evangelikale Katholizismus nichts Leichtes, Einfaches oder Bequemes an sich. Der kulturelle Katholizismus der Vergangenheit war »bequem«, weil er sich nahtlos in die umgebende Kultur einfügte und fast keine Reibung zwischen dem Leben »in der Kirche« und dem Leben »in der Welt« verursachte. Der evangelikale Katholizismus jedoch ist eine Gegenkultur, die die umgebende öffentliche Kultur zu bekehren sucht, indem sie die Wahrheit verkündet, im Geist und in der Wahrheit anbetet und eine menschlichere Lebensart vorlebt. Der evangelikale Katholizismus will sich nicht »arrangieren«: Er will bekehren.
Niemand sollte denken, das sei nicht schwer. Auch der Katholizismus der Gegenreformation war nicht immer nur einfach, denn er hatte es mit der fortwährenden Rastlosigkeit des menschlichen Herzens und dem uralten Aufruhr der menschlichen Leidenschaften zu tun. Doch in einer prämodernen Welt, deren Autoritäten als selbstverständlich galten, war die religiöse Autorität der Kirche als einer Zuchtmeisterin des menschlichen Eigensinns durchaus selbstverständlich. Die kirchliche Autorität war, um es in Peter Bergers soziologischer Terminologie auszudrücken, eine unangefochtene »Plausibilitätsstruktur«, mit der der Mensch sein Leben ordnen konnte, und die Kirchenzugehörigkeit ging typischerweise in der umgebenden öffentlichen Kultur auf. Allermindestens war die Zugehörigkeit zu dieser Lebensform keinen Frontalangriffen seitens der umgebenden öffentlichen Kultur ausgesetzt.
Das ist in der entwickelten Welt des 21. Jahrhunderts nicht mehr der Fall. Katholiken können nicht durch die New Yorker Madison Avenue oder vergleichbare Straßen in Toronto, Buenos Aires, Paris, Berlin, London, Rom oder Sydney gehen, ohne dass ihre »Plausibilitätsstruktur«, also ihr christliches Verständnis davon, wie die Dinge sind und wie die Dinge sein sollten, an jeder Ecke sinnenfällig angegriffen wird. Wer sich zu den Inhalten des Credo bekennt – sie also nicht nur als seine »persönliche« Wahrheit, sondern als die Wahrheit der Welt betrachtet, wie sie der Mensch gewordene Sohn Gottes offenbart hat –, muss in Kauf nehmen, dass man ihn für einen Idioten hält. Wer in der biblischen Moral eine sowohl offenbarte als auch mit dem Verstand erkennbare Wahrheit und außerdem nach wie vor eine Möglichkeit sieht, menschliche Beziehungen zu ordnen, muss damit rechnen, dass man ihn bigott nennt.
Unter diesen Umständen hat der laue Katholizismus keine Zukunft: Sich dem verwandelnden Feuer des Heiligen Geistes auszusetzen, ist nicht länger nur eine Option.
Der evangelikale Katholizismus ist in vielerlei Hinsicht weitaus anspruchsvoller als der gegenreformatorische, katechetisch-devotionale Katholizismus. Er verlangt Priestern und Bischöfen, Ordensleuten und Laien größere Anstrengungen ab; den Feuerzungen kann sich niemand entziehen. Er erfordert eine tiefere religiöse Kultur: Der evangelikale Katholizismus wird, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, nicht von den simplen Formen des Baltimore-Katechismus, sondern von den mystagogischen Reflexionen der alten Jerusalemer Katechesen gespeist, die die Christen dazu einluden, sich tief in die »Mysterien« – gemeint sind die Sakramente – zu versenken und ihr ganzes Leben von ihnen formen zu lassen.13 Von den Laien verlangt der evangelikale Katholizismus einen großzügigen Einsatz ihrer Zeit, damit sie inmitten des überstürzten postmodernen Lebens zu einer tieferen