Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
Kabine, die einem Schacht glich, zu den Menschen hin, die in ihren Betten, eng wie Särge, umhergeschüttelt stöhnten, und zu denen, die in Lumpen am Boden hockend, erloschene Blicke zu ihr aufhoben. Jener eine Blick aber glänzte so, daß von ihm der Raum voll eines flackernden Lichtes schien. Diese beiden Augen brannten auf unbegreifliche Weise in einem Gesicht, so alt und müde, daß vielleicht nur das rote Tuch, womit es umwickelt war, seinen auseinanderstrebenden Staub zusammenhielt.
„Wer ist das? Mein Gott?“
Der Arzt hörte sie nicht; er neigte sich über den Alten, lauschte in sein Gewimmer hinein; dann beschrieb er, langsam aufgerichtet, eine feierliche Gebärde.
„Sie werden Ihre Heimat wiedersehen. Ich werde machen, daß Sie es erleben.“
Rasch wandte er sich ab.
„Gehen wir.“
Draußen:
„Dieser Alte ist jung nach Amerika gegangen. Die Arbeit seines Lebens hat ihm so viel eingetragen, daß er vor seinem Tode nochmals die Überfahrt bezahlen konnte. Er will auf seiner Heimaterde sterben. Das ist sein Ziel. Dafür meint er nun gelebt zu haben.“
„Wird er’s erreichen, wird er?“
„Nein,“ entschied der Doktor, mit leiserer Stimme und Schultern, die sich beugten. „Wir werden morgen in Genua landen, im majestätischen Genua; aber er wird es nicht sehen. Ich kann es nicht machen. In diesem Augenblick lebt er nur noch durch den einen Gedanken in seinem Kopf: in seiner Heimat zu sterben.“
Vor der Treppe zu den Gesellschaftsräumen nahm er plötzlich Abschied und tauchte ins Dunkel. Lola sah mit Verwunderung, daß dort innen noch der gleiche kopflose Jubel tobe, und ging in ihre Kabine. Sie lag im Dunkeln; — und das Wimmern dahinten, sie wußte nicht, war es das der Geigen oder das jenes Sterbenden. Seine Augen verließen sie nicht, ihre Stirn war erfüllt von diesem übermenschlichen Feuer, das mit Überwindung eines absterbenden Leibes ganz frei dahinbrannte, das nur ein Gedanke, ein Wille, eine Sehnsucht war: die Sehnsucht nach der Heimat.
Und sie sah ihn, wie er jung aufs Schiff stieg. Die Jacke über der Schulter, den Hut im Nacken, übermütig trotz der Rührung, küßte er ein letzesmal Eltern, Geschwister und das Mädchen, das ihm treu bleiben wollte. Hatte Lola ihn nicht drüben aussteigen gesehen, oder einen, der ihm glich? Italiener in roten Hemden, die Jacke über der Schulter, waren so viele dort umhergegangen. Sie hörte ihn seine Früchte ausschreien, sah ihn an einem Kanoe zimmern und stand am Wege, wie er sein Maultier mit Waren vorbeitrieb. Denn er handelte mit allem, hielt keine Arbeit für zu schlecht, lebte nüchtern und schrieb Briefe, worin ein wenig Geld lag: „Mut! Bald kann ich euch nachkommen lassen. Carlotta, ich seh’ uns schon in der Kirche.“ Darüber sterben die Eltern; aber er hat noch die Geschwister, und Carlotta wartet auf ihn. Er spricht nicht mehr vom Nachkommen; es geht nicht alles, wie er dachte; nur zurücklegen möchte er eine Kleinigkeit, und dann heimkommen . . . Wie? Wäre es möglich? Carlotta nimmt nun doch den andern? Sie ist imstande, ihn zu verraten? Wozu kann dann alles noch dienen! . . Ach, ein Kind hat sein Bruder? Wie hübsch! Er wird ihm etwas mitbringen, wird es einst ausstatten. Die Geschäfte gehen besser, sie sollen sich wundern . . . Und von Jahr zu Jahr: Der Bortolo schon tot? Und Don Felice?
Und auch der, und auch der? Warum schreibst nun du selbst nicht mehr? . . Schweigen. Und der alte Einsame vergißt die Todesfälle, von denen ihm einst berichtet ward; wenn er von der Rückkehr träumt, stehen alle unverwandelt am Ufer, und Carlotta trägt noch die rote Schürze, die er ihr gab. Sein Geist geht zwischen Gebäuden um, die abgetragen sind, und bei Menschen, die unter Kreuzen liegen. Zuletzt tritt er dennoch die Reise an, für die er fünfzig Jahre arbeitete und lebte. Nun fährt er dahin — werden die Atemzüge ausreichen? — fährt, seherisch vor Angst und Drang, dem unmöglichen Ziel seines Lebens zu, dem, was es für ihn nicht gibt, dem Phantom einer Heimat!
. . . Lola schluchzte noch immer. Sie beweinte in fremden Schicksalen das Sinnbild der eigenen; und eine besänftigende Brüderlichkeit floß ihr aus jenen zu. Sie schämte sich ihrer Menschenfeindschaft; verachtete die Gabe, die sie bis dort hinabblicken lehrte, wo niemand mehr dem Erkanntwerden gewachsen ist; entsetzte sich: „Hab’ ich denn nicht immer lieben, nur lieben wollen? Einst war ich doch entschlossen, mich eher lebendig begraben zu lassen als daß Erneste oder Mai stürbe! Wie ist es möglich, daß Menschen dies je aus dem Sinn verlieren: einander helfen, einander lieben!“
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