Der Fall Deruga. Ricarda HuchЧитать онлайн книгу.
Inhaltsverzeichnis
Die Sitzung des nächsten Tages eröffnete Dr. Zeunemann mit der Erklärung, eine Zeugin, die aus Ragusa gekommen sei, habe gebeten, sofort vernommen zu werden, damit sie möglichst bald zu ihrer Familie zurückreisen könne. Er habe um so weniger Anstoß genommen, ihrer Bitte zu willfahren, als er sie nicht für wichtig halte und sie nur auf Ansuchen des Verteidigers zulasse. Immerhin werde man von ihr Aufschlüsse über die Beziehungen des Angeklagten zu seiner geschiedenen Frau während der ersten Zeit seiner Ehe erhalten.
Auf seinen Wink trat eine mittelgroße Dame ein, die mit einer ziegelroten Schabracke behängt war und auf ihrem brandroten, in vielen Tollen und Puffen aufgesteckten Haar einen großen, von einem Niagarafall weißer und blauer Straußenfedern überstürzten Hut trug. Sie trat ein paar Schritte vorwärts, blieb dann stehen und sah mit suchenden Blicken um sich, ein erwartungsvolles Lächeln auf den Lippen. Augenscheinlich hatte sie sich den Platz des Angeklagten beschreiben lassen, denn dort blieb der Blick hängen, ohne zunächst durch das Ergebnis seiner Forschung befriedigt zu werden.
Plötzlich indessen stieß sie einen Schrei aus, rief mit kreischender Stimme: »Dodo!« und lief mit ausgestreckten Armen auf Deruga zu. Sie hatte ihn jedoch nicht erreicht, als der Gerichtsdiener, der sie hereingeführt hatte, ihrer habhaft wurde und sie vor den kleinen Tisch im Angesicht der versammelten Richter stellte, wo sie den Eid zu leisten hatte. »Entschuldigen Sie«, sagte sie schluchzend, indem sie ihr Taschentuch hervorzog, »aber das war zuviel für mich. Dies Wiedersehen nach so viel Jahren! Die Veränderung! Und im Grunde doch dasselbe liebe, närrische Gesicht! Wenn Sie mir eine Pfanne mit glühenden Kohlen herstellten, Herr Präsident, so schwöre ich Ihnen, ich halte die Hand hinein, um seine Unschuld zu beweisen!«
»Die Sache ist leider nicht so einfach«, sagte Dr. Zeunemann mit wohlwollender Überlegenheit. »Hingegen können Sie uns unsere Arbeit sehr erleichtern und dem Angeklagten nützen, wenn Sie, was Sie zu sagen haben, kurz, klar und folgerichtig sagen. Sie heißen Rosine Schmid, geborene Vogelfrei, sind Hauptmannsgattin und vierundvierzig Jahre alt?«
»Jawohl«, sagte die Dame, »ich gehöre nicht zu denjenigen Frauen, die sich ihres Alters schämen. Übrigens tun die Männer auch, was sie können, um jung zu erscheinen, besonders beim Militär, und würden es noch mehr tun, wenn so viel für sie davon abhinge wie für uns Frauen.«
»Frau Hauptmann«, sagte der Vorsitzende, »Sie kennen den Angeklagten Sigismondo Enea Deruga, sind aber mit ihm nicht verwandt. Wollen Sie so gut sein und mit Vermeidung alles Überflüssigen erzählen, wann und unter welchen Umständen Sie ihn kennenlernten?«
»Mit Vergnügen will ich das«, sagte Frau Hauptmann Schmid lebhaft. »Alles will ich sagen, was ich weiß, denn dazu bin ich ja hergekommen. ›Und wenn ich bis ans Ende der Welt reisen müßte‹, sagte ich zu meinem Mann, ›ich täte es, um dem Dodo aus der Patsche zu helfen. Das hat er um mich verdient, so lieb und gut wie er immer war.‹ Und getan hat er es auch nicht, denn wenn er auch etwas toll und originell war, den Topf voll Mäuse, gemordet hat er sicherlich keinen Christenmenschen und am wenigsten die gute Seele, seine Frau.«
»Wie kommt es, daß Sie den Angeklagten einen Topf voll Mäuse nennen?« fragte Dr. Zeunemann.
»So nennt man doch«, erklärte Frau Schmid, »die Figur, die bei den Feuerwerken gewöhnlich zuletzt kommt, wo es so kracht und prasselt, daß man glaubt, einen feuerspeienden Berg vor sich zu haben. Es war eine Art Kosename, den seine Frau ihm gegeben hatte, weil er zuweilen Anfälle von Wut bekam, wo er Rauch und Feuer spuckte, so daß sie sich vor ihm fürchtete.«
»Sonderbarer Kosename«, meinte der Vorsitzende.
»Ach, Herr Präsident«, sagte die Frau Hauptmann lachend, »er meinte es ja im Grunde nicht böse, sowenig wie ein Topf voll Mäuse gefährlich ist. Darum paßte der Name gerade so gut, und wir nannten ihn alle so, obgleich es sich für mich, so ein junges Mädchen, wie ich war, kaum recht schickte.«
»Ich bitte zu beachten«, sagte der Staatsanwalt, »daß nach Aussage der Zeugin die damalige Frau Deruga sich vor ihrem Mann fürchtete.«
Frau Hauptmann Schmid drehte sich schnell nach dem Sprecher um und sagte, während ihr das Blut ins Gesicht stieg: »Wenn Sie glauben, Sie hätten damit einen Vorteil über den Herrn Doktor gewonnen, daß ich gesagt habe, er sei aufbrausend, so sind Sie gewaltig im Irrtum. Die Aufbrausenden sind die Schlimmsten nicht, und das sagt ja auch das Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen nicht. Ich habe oft zu meinem Manne gesagt: ›Meinetwegen möchtest du schimpfen und fluchen, ja, sogar in Gottes Namen zuschlagen, nur das Maulen und Scheelblicken, das Brummen und Nachtragen, das ist mir zuwider‹, und ich glaube, daß einer, dem es nie überläuft, das Herz nicht auf dem rechten Flecke hat.«
Der Vorsitzende machte eine abschließende Handbewegung und sagte: »Ihre Mitteilungen, Frau Hauptmann, sind uns sehr wertvoll. Vielleicht erzählen Sie uns zunächst, auf welche Weise Sie die Bekanntschaft des Angeklagten machten!«
»Sehr gern, sehr gern«, sagte Frau Hauptmann, »ich habe auf der langen Reise immer an jene Zeit gedacht, darum ist mir alles gegenwärtig, obschon es jetzt vierundzwanzig Jahre her ist. Ja, vierundzwanzig Jahre ist es her, und einundzwanzig Jahre war ich damals alt. Die Großmutter hatte gerade viel Geld bei der Lotterie verloren. Denn obwohl sie sich einbildete, ein Muster von Vernunft zu sein, konnte sie doch nicht leben, ohne zu spielen. Und wenn sie sich das Geld hätte zusammenbetteln müssen, gespielt mußte werden. Weil nun der Großvater ärgerlich war, was er zwar nicht aussprach, denn das traute er sich nicht, aber er machte ein langes Gesicht und manchmal eine spöttische Bemerkung, wollte die Großmutter es wieder einbringen und richtete das alte Lusthäuschen am Gartenzaun zum Vermieten ein, und es wurde eine Anzeige für die Zeitung gemacht. Ich weiß noch wie heute, wie wir abends spät um den Tisch der Lampe saßen und uns abrackerten, um die Sache in richtiges Deutsch zu bringen. Denn der Großmutter war das Schriftliche nicht geläufig, und der Großvater wollte nichts damit zu tun haben. Erstens, sagte er, schicke es sich für den Offiziersstand nicht, Zimmer zu vermieten – er war nämlich Hauptmann, aber schon lange nicht mehr im Dienst –, zweitens möchte er keine Fremden im Hause leiden, und drittens sei es eine Schande, arglosen Leuten die alte Baracke als Wohnung aufzuschwatzen.«
»Ihre Großmutter war offenbar keine Deutsche«, schaltete der Vorsitzende ein, »da ihr das Deutsche nicht geläufig war?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Frau Schmid, »sie war ja aus Bosnien; aber sie war eine sehr schöne Frau und übrigens auch gebildet, nur nicht in den Wissenschaften.«
»Und Ihre Eltern?« fragte der Vorsitzende.
»Ja, meine Eltern waren auch von dorther«, sagte die Frau Hauptmann ein wenig errötend; »aber sie waren zu früh gestorben, als daß ich mich ihrer hätte erinnern können, und ich sah eigentlich den Großvater und die Großmutter als meine Eltern an. Also, um in meiner Erzählung fortzufahren, als der Großvater das sagte, geriet die Großmutter in eine Furie und sagte, das Lusthaus hätte der Kaiser Joseph oder Ferdinand oder Maximilian, das weiß ich nicht mehr, für seine Geliebte gebaut, da in dieser Gegend noch lauter Wald und Heide gewesen wäre, und es wäre noch etwas Malerei an der Decke und eine steinerne Vase, wenn auch zerbrochen, an der Treppe. Außerdem wolle sie es den Leuten gar nicht aufschwatzen, nur zeigen; sie könnten ja die Augen auftun und mit Gott wieder heimgehen, wenn es ihnen nicht paßte. Wenn die Großmutter in der Furie war, sah sie sehr majestätisch aus; sie hatte eine gebogene Nase wie ein Papagei, aber Augen, schöner wie Diamanten, und dickes weißes Haar, das wie ein Schneeberg über ihrem Kopf stand. Um sie zu begütigen, half der Großvater doch mit bei der Anzeige, und sie lautete schließlich so: ›Hier ist ein fesches Sommerhaus zu vermieten, auch winters brauchbar, wenn es beliebt. Es liegt im Grünen und hat einige Möbel. Besonders geeignet für ein junges Ehepaar.‹ Die Großmutter wollte nämlich zuerst schreiben: ›für ein Liebespaar‹. Da wurde aber der Großvater beinahe böse und sagte, die Großmutter würde ihn noch um Ehre und guten Namen bringen, und sie wäre ärger als eine Zigeunerin. Da gab die Großmutter nach, denn sie hatte eine große Hochachtung für des Großvaters Vornehmheit und Weltkenntnis, und es wurde statt dessen das