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Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte. Martin LutherЧитать онлайн книгу.

Weihnachts-Klassiker für alle Generationen: 280 Romane, Sagen, Märchen & Gedichte - Martin Luther


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Meine Kleine wird von Jahr zu Jahr ein größerer Kummer. So früh hat sie die Mutter verloren ... Das hängt wie eine Wolke über ihrem Leben, sie ist häufig krank... aber das ist es nicht allein, ihr Seelenleben scheint in eigentümlicher Weise gestört.«

      »Mir scheint,« beginnt Harro bescheiden, »als ob in dem Kinde in hohem Grade das poetische Temperament vorherrsche. Sie verlebendigt alles und sie findet die treffendsten Ausdrücke. Die Pappeln nennt sie die steilen Bäume, die seufzen ... Eine feine Beobachtung. Wie der Wind gerade in alte Pappeln greift ... Das Kind hat eine zarte Seele, auf die alles sehr stark einwirkt. Wie schön ist sie und wie sehr macht die Prinzessin den Eindruck, als ob sie ihr Gesicht irgend woher habe. Ich sehe mich aber vergeblich nach einer Ähnlichkeit um.«

      »Schön finden Sie meine Kleine! Das hat mir noch niemand gesagt. Aber die Herren Künstler haben ihre eigenen Anschauungen. Ich kann es nicht finden, so elend wie sie immer aussieht.«

      »In wenigen Jahren,« wirft Harro ein ...

      »Ach, die Jahre, man hat mich immer vertröstet, aber Gutes haben sie mir nicht gebracht.«

      »Die Prinzessin weiß es sehr gut selbst, daß sie Ihnen Sorge macht, und leidet darunter –«

      »Das sollte die Kleine wissen,« meint der Fürst naiv, der so und so oft am Tage sein Kind den Sorgenstein nennt ... »Wie kommt es nur, daß sie sich Ihnen anvertraut hat, sie ist sonst so scheu gegen Fremde ...«

      »Sie war doch aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen, das kühne Unternehmen hatte sie in ihrem Selbstbewußtsein gestärkt.«

      Der Fürst erhob sich ungeduldig: »Ist dieser Hofrat nicht aufzutreiben? ...«

      Er mußte doch die ganze Zeit gehorcht haben... Eben kam der Hofrat, würdig und aufgeregt sah er aus.

      »Durchlaucht, die Prinzessin ist in furchtbarer Erregung, sie verlangt dringend nach jemand, der Harro heißt. Eine Untersuchung ist ganz unmöglich ... ich müßte Krämpfe befürchten. Es scheint mir, als ob eine der Damen sie irgendwie gegen mich eingenommen habe!«

      Harro, der etwas im Saal zurückgetreten ist, hört noch:

      »Kann dieser Harro nicht aufgetrieben werden?«

      »Dieser Harro ist Graf Thorstein. Ich kann doch unmöglich –«

      In Harros Gesicht steigt eine Blutwelle. Was kann er unmöglich? Ist dies nicht ein Notfall, wo man vergessen könnte, daß er aus der von alltagsher vorgeschriebenen Bahn gewichen war und etwas für sich selbst gewollt hatte?

      Da kommt der Fürst zu ihm her, ziemlich verlegen: »Sie müssen nun schon einmal bei uns den Retter machen. Wenn sich die Kinder einmal etwas in den Kopf gesetzt haben. Keine größeren Tyrannen als kranke Kinder!«

      Da sagt der Thorsteiner mit einer Stimme, deren seltsame Erregtheit den Fürsten betroffen macht: »Ich bin Euer Durchlaucht sehr dankbar, ich verstehe mich auf Kranke, habe einmal einen Freund gepflegt. Nun bin ich so allein, die Jahre ...«

      Heiß dringt es aus seiner Seele.

      »Keinem Menschen zu Leid, keinem zu Freud – ein schreckliches Wort ... Und die Kleine ... das wunderschöne Herz, es ging auf vor mir wie eine Blüte in der Winternacht ... Und ich benehme mich jetzt wie ein Narr und Hinterwäldler ... Durchlaucht müssen mir zugute halten ... – Die Einsamkeit, das Ausgeschlossensein. Und heute nun die Güte, die unerwartete, die ich doch fühle ...«

      Er stockte wieder. Der Fürst schüttelte seine Hand. Er war selbst bewegt von der Ergriffenheit des andern. Es war ihm nur als eine Verlegenheit erschienen, den langen Thorsteiner mit seinem Kinderstubenjammer zu behelligen.

      Das Seelchen lag in einem muschelförmigen Bett, das in einer Wandnische stand, und hatte sich die seidene Decke bis unters Kinn gezogen mit den fieberzitternden Händchen. Ihr Vater beugte sich über sie.

      »Da ist dein Freund Harro, was willst du von ihm?« »Er soll mich beschützen und es nicht leiden, daß man mir die Decke herunterzieht!«

      Der Fürst zuckte ratlos die Achseln.

      »Und er soll mich in meine Decke wickeln und mich herumtragen wie gestern und mir von seinem Haus erzählen.«

      Der Hofrat sagte zu dem Grafen: »Tun Sie der Kleinen den Willen, es kommt mir darauf an, daß sie sich möglichst bald beruhigt, und suchen Sie sie zu überreden, daß sie sich untersuchen läßt.«

      Er half selbst das Kind in die Decke wickeln, und Harro war so geschickt beim Anfassen, als habe er sein Lebtag nichts anderes getan. Dann geht er mit langen, vorsichtigen Schritten auf und ab, das gelbe Haar flutet über seinen Arm, das Köpfchen ruht an seiner Brust.

      Der Fürst hatte sich im Nebenzimmer an seinen alten Tisch gesetzt und trommelte nervös auf der Platte. Eigentlich eine unmögliche Situation. Das ganze Haus voll Frauenzimmer, und er mußte diesen gestern fast noch fremden Mann bemühen. »Ich könnte noch drei Weiblichkeiten anstellen, und die Sache wäre gerade so.« –

      Die Miß war kurz erschienen, hatte sich erkundigt und war wieder verschwunden. Sie war doch nur als Erzieherin angestellt. Fräulein Braun schien ganz den Kopf verloren zu haben, sie brachte dem Hofrat immer das Falsche und fragte schon zum drittenmal, ob sie nun zu Bett könne, die ganze letzte Nacht habe sie gewacht. Und es sei noch die Babette da.

      Der Hofrat sagte trocken: »Sie bleiben, bis ich Sie entlasse.«

      Worauf sie sich in ihrer hübschen seidenen Bluse in die Nische setzte und die Gekränkte markierte. Inzwischen ging Harro auf und ab und erzählte von der Ruine, von der Kuh Selma und daß das Seelchen sehr schnell gesund werden müsse, um die einmal zu sehen und den Brunnen singen zu hören. Und dazu sei es nötig, daß sich Seelchen so bald wie möglich dem Doktor anvertraue. Da zuckt sie schon zusammen.

      »Das kann ich doch nicht, Harro ... O Harro, ich darf's ja nicht, bedenk das Ehrenwort ... Wenn ich's nicht halte, mögen sie mich alle nicht mehr ansehen, der Schönste nicht und der Herr mit dem Schwert nicht.«

      »Dein Ehrenwort, Seelchen, das ist ja ein Wort so lang wie du selbst. Da bist du doch noch zu klein dazu, das können alle alten Braunecker nicht von dir verlangen.«

      Harro steht an einem Fenster, er hört aus der Dunkelheit das Rauschen eines großen Baumes, der mit seinen Ästen fast die Fensterscheiben berühren muß.

      »Hörst du, wie die Linde rauscht, es wohnt jemand in der Linde. Wenn du das wüßtest. Aber sie sagen ›Lügen‹ und immer ›Lügen‹. Auch der Papa. Und ich habe ihm doch gesagt, daß ich ein Ehrenwort habe.«

      »Seelchen, wenn du nun freilich, trotzdem du so klein bist, ein Ehrenwort hast, so ist es etwas anderes. Hast du es schon einmal gebraucht, oder ist es noch neu?«

      »Ich habe es schon gebraucht. Es ist sehr schwer, wenn man noch klein ist, und man muß leiden.«

      »Armes Seelchen,« sagt er sanft, er darf sie nicht von ihrem Gedankenpfädlein abbringen. Und es wäre ein Unrecht, dies arme, kleine, zitternde bißchen Menschheit nicht bitter ernst zu nehmen.

      »Ein Ehrenwort kann einem auch unter Bedingungen, die später nicht mehr zutreffen, abgenommen werden,« sagt er.

      Er kommt sich ziemlich lächerlich vor bei dieser Erklärung.

      »Bedingungen weiß ich gar nicht, Harro,« antwortet sie kläglich.

      »Tut nichts, wenn nur ich es weiß. Wem hast du es denn gegeben, dein Ehrenwort?«

      Er wendet sich, wie er geht; eine Antwort bekommt er nicht, aber plötzlich ist die rosa Bluse aus der Nische verschwunden.

      »Seelchen, ich lege dich auf dein Bett, ich hole es dir wieder, dein Ehrenwort.«

      »O Harro –« fest klammert sich das Ärmchen um seinen Hals. Er geht hinaus, er rennt aufs Geratewohl einen Gang entlang, eine Wendeltreppe, vier Stufen auf einmal, irgend jemand muß er doch finden. Da sieht er nach oben in der Windung eine rosa Bluse verschwinden ... Noch vier Stufen, dann hat er die entsetzte Fräulein Braun am Ärmel


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