Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий ЦицеронЧитать онлайн книгу.
Kap. XXI. (§ 58.) Somit erhellt, dass der Mensch zur Thätigkeit geschaffen ist. Von dieser giebt es aber mehrere Arten, wobei die geringeren von den bedeutenderen verdunkelt werden. Zu den wichtigsten gehören nach meiner Meinung und nach jenen Philosophen, deren Lehre ich jetzt vortrage, zunächst die Betrachtung und Erkenntniss der himmlischen Dinge und derer, welche die Natur uns verhüllt hat, aber welche man durch die Vernunft entdecken kann; dann die Staatsgeschäfte und die Wissenschaft davon; dann das kluge, gemässigte, tapfere und gerechte Verhalten sammt den übrigen Tugenden und ein ihnen gemässes Handeln, was Alles zusammen mit dem einen Wort des Sittlichen befasst werden kann. Zu deren Erkenntniss und Uebung werden wir, wenn wir erst erstarkt sind, unter Führung der Natur, von dieser selbst angeleitet; denn der Anfang aller Dinge ist klein, aber allmählich nehmen sie mit ihrer Entwickelung zu und zwar nicht ohne Grund; denn bei dem ersten Entstehen ist Alles noch zart und weich, und man kann deshalb das Beste weder bemerken noch aussuchen. Das Licht der Tugend und eines glückseligen Lebens, die beiden höchsten Ziele des Menschen, tritt erst später hervor und noch viel später wird ihre Natur erkannt. Schon Plato thut den herrlichen Ausspruch: »Glücklich ist, wer, wenn auch erst im Alter, dahin gelangt, die Weisheit und die Wahrheit zu erreichen.« – Nachdem ich hiermit über die ersten natürlichen Vortheile ausführlich mich erklärt habe, gehe ich zu den bedeutenderen hieraus sich ergebenden Folgen über. (§ 59.) Die Natur hat also den menschlichen Körper so geschaffen und gebildet, dass sie Einiges schon bei seiner Geburt vollendet und Anderes mit seinem vorrückenden Alter gebildet hat und dabei von äusserer Hülfe und Unterstützung wenig Gebrauch gemacht hat. Die Seele hat sie zwar in allen übrigen Beziehungen ähnlich wie den Körper vollendet; sie gab ihr die passenden Sinne zur Wahrnehmung der Dinge, so dass sie keiner oder nur einer geringen Hülfe zu ihrer Ausbildung bedurfte; aber bei dem Besten und Vorzüglichsten hat die Natur den Menschen im Stich gelassen. Sie hat ihm zwar einen Geist gegeben, der jede Tugend erwerben kann, und in denselben ohne Unterricht die Keime zu den höchsten Begriffen gelegt, ja sie hat auch eine Belehrung desselben begonnen und ihn zu den in ihm liegenden Elementen der Tugenden angeleitet; aber mit der Tugend selbst hat sie nur den Anfang gemacht, nichts weiter. (§ 60.) Deshalb kommt es uns zu und damit meine ich die Wissenschaft und Uebung, aus jenen Anfängen, die wir empfangen haben, die Folgen abzuleiten, bis das erstrebte Ziel erreicht ist. Dies Ziel ist das höchste und mehr um sein selbst willen zu erstreben, als die Sinne und jene genannten Vorzüge des Körpers; denn die ausgezeichnete Vollendung des Geistes steht gegen diese so viel höher, dass man den Abstand kaum sich vorstellen kann. Deshalb bezieht sich alle Ehre, aller Ruhm, alles Streben auf die Tugend und ihre Uebung, und alle demgemässe Gedanken und Handlungen werden unter dem einen Namen des Sittlichen befasst. Wir werden bald sehen, wie die Begriffe von alle dem beschaffen sind, welche Worte dafür gebraucht werden und worin ihr Wesen und ihre Natur besteht.
Kap. XXII. (§ 61.) Hier will ich nur zeigen, wie dieses Sittliche neben der Liebe eines Jeden zu sich selbst auch um sein selbst willen zu erstreben ist. Schon die Knaben zeigen dies, an denen man die menschliche Natur gleichsam im Spiegel sehen kann. Welcher Wetteifer herrscht unter ihnen; welche Kämpfe führen sie mit einander! Wie strahlen die Sieger dabei vor Freude und wie schämen sich die Besiegten! Wie suchen sie nicht die Schuld von sich abzuwälzen! Wie verlangen sie nicht nach Lob; welche Mühe geben sie sich nicht, um unter ihren Genossen hervorzuragen; wie sehr gedenken sie es Denen, die ihnen Gutes erwiesen haben; welches Verlangen, sich dankbar zu erweisen! Gerade in den besten Naturen zeigt sich dies Alles am meisten; in ihnen wird das Sittliche, was wir nun kennen, von der Natur gleichsam entworfen und angelegt. (§ 62.) So ist es bei den Knaben, während in dem reiferen Alter dies Alles schon deutlicher ausgeprägt ist. Niemand ist so entartet, dass er nicht von der Schlechtigkeit sich verletzt fühlte und die Sittlichkeit billigte. Wem sind nicht die schwelgerischen und verdorbenen Jünglinge verhasst? und wer liebt dagegen nicht bei der Jugend die Scham, die Beharrlichkeit, auch wenn kein Nutzen daraus folgt? Wer verabscheut nicht den Pullus Numitorius, jenen Verräther von Fregellä, trotzdem dass er unserm Lande genützt hat? Wer rühmt nicht den Kodrus für die Errettung seiner Vaterstadt, und wer preist nicht die Töchter des Erechtheus? Wem ist nicht der Name des Tubulus verhasst und wer liebt nicht selbst den todten Aristides? Man bedenke, wie sehr man sich gerührt fühlt, wenn man von einer frommen oder von einer für einen Feind verrichteten, oder von einer grossherzigen That hört oder liest! (§ 63.) Ich brauche aber nicht blos von uns zu sprechen, denen das Verlangen nach Lob und Anstand angeboren, überkommen und anerzogen worden ist; man hört ja, wie selbst die Menge und die Ungebildeten im Theater immer Beifall klatschen, so oft sie die Worte vernehmen:
»Ich bin Orest!«
und der Andere sagt:
»Nein, ich vielmehr bin es, der Orest!«
und wenn endlich Beide nach gegebener Aufklärung dem bestürzten und verwirrten Könige zurufen:
»Lass uns also Beide tödten, das bitten wir!«
so werden diese Worte mit der höchsten Bewunderung vernommen. So billigt und lobt Jedermann solche Gemüthsart, die doch noch keinen Nutzen ver langt, sondern die Treue auch da bewahrt, wo ihr not Schaden droht. (§ 64.) Mit solchen Vorgängen sind nicht blos die Dichtungen, sondern auch die Geschichte der Völker, namentlich des unsrigen, erfüllt. Denn wir haben zum Empfang der Idäischen Heiligthümer den besten Mann ausgewählt; wir haben den Königen Vormünder bestellt; unsere Feldherren haben ihr Leben dem Vaterlande zum Opfer gebracht; unsere Consuln haben jenen König, der als unser gefährlichster Feind schon den Stadtmauern sich näherte, vor dem Giftmischer gewarnt; in unserm Freistaate sühnte eine Frau durch freiwilligen Tod ihre gewaltsam erlittene Entehrung und hier tödtete ein Vater seine eigene Tochter, um sie vor der Entehrung zu schützen. Wer erkennt nicht, dass bei diesen und unzähligen anderen Thaten Die, welche sie verrichtet, nur von dem Glänze der sittlichen Würde geleitet worden sind und an ihren Nutzen dabei nicht gedacht haben, und dass, wenn wir sie preisen, wir dies nur aus sittlichem Gefühle thun?
Kap. XXIII. Aus dieser gedrängten Darstellung, bei welcher ich nicht alles Hierhergehörige angeführt habe, da die Sache unzweifelhaft ist, erhellt fürwahr, dass alle Tugenden und das in ihnen enthaltene und aus ihnen hervorgehende Sittliche um ihrer selbst willen zu erstreben sind. (§ 65.) Innerhalb dieses Sittlichen tritt nichts so leuchtend hervor und erstreckt sich so weit, wie die Verbindungen der Menschen untereinander; jene Gesellschaften derselben, wo sie sich das Nützliche einander mittheilen, und jene Liebe, die in dem menschlichen Geschlechte sich findet. Sie beginnt mit dem ersten Anfang des Lebens, wo schon die Eltern die Neugebornen lieben und das ganze Haus durch die Ehe und Abstammung verbunden wird. Dann schreitet sie allmählich über das Haus hinaus, zunächst zu den Verwandten, dann zu den Verschwägerten, dann zu den Freunden; weiter zu den Nachbarn, zu den Bürgern und den Genossen und Freunden des Staats; endlich zu dem menschlichen Geschlecht im Ganzen. Diese Gesinnung giebt Jedem das Seine, und indem sie diese Verbindungen der Menschen zu Gesellschaften grossartig und gleichmässig beschützt, heisst sie die Gerechtigkeit, zu der dann auch die Frömmigkeit, die Güte, die Freigebigkeit, das Wohlwollen, die Höflichkeit und andere ähnliche Tugenden gehören; sie sind der Gerechtigkeit ebenso einwohnend, wie auch den andern Tugenden gemeinsam. (§ 66.) Denn die menschliche Natur ist so beschaffen, dass ihr die bürgerliche und staatliche Gesinnung, welche die Griechen politikon nennen, gleichsam angeboren ist, und deshalb wird jede tugendhafte Handlung dieser Gemeinsamkeit, Liebe und menschlichen Gesellschaft, wie ich sie dargelegt habe, nicht entgegentreten, und so wie die Gerechtigkeit selbst durch Hebung sich in die übrigen Tugenden verbreitet, so wird sie auch wiederum diese in sich aufnehmen. Nur ein muthiger und weiser Mann kann die Gerechtigkeit bewahren. In dieser Verbindung und Uebereinstimmung aller Tugenden besteht die Sittlichkeit; das Sittliche ist die Tugend selbst oder das tugendhafte Handeln. Wenn das Leben eines Menschen damit stimmt und den Tugenden entspricht, so kann es als das rechte und sittliche und feste, mit der Natur übereinstimmende angesehen werden. (§ 67.) Indess halten die Philosophen bei dieser Verbindung und Verschmelzung der Tugenden doch auch gewisse Unterschiede derselben fest. Alle Tugenden sind zwar so miteinander verbunden und verknüpft, dass jede einzelne an allen anderen Theil hat und keine von den andern getrennt werden kann; trotzdem hat jede Tugend ihre eigene Verrichtung. So zeigt sich die Tapferkeit in den mühevollen Unternehmungen und Gefahren; die Mässigkeit in dem