Ausweitung der Kampfzone. Мишель УэльбекЧитать онлайн книгу.
er offen, als hätte er keine Zeit gehabt, es zuzuknöpfen; die Krawatte hängt ihm zur Seite, als wäre sie beim Laufen verrutscht. Tatsächlich geht oder läuft er nicht durch die Gänge, sondern er gleitet. Könnte er fliegen, würde er es bestimmt tun. Sein Gesicht glänzt, sein Haar ist wirr und feucht, als käme er geradewegs aus dem Schwimmbecken.
Bei seinem ersten Auftritt erblickt er mich und meinen Chef und ist in Windeseile bei uns. Keine Ahnung, wie er das angestellt hat: Er muss die zehn Meter in weniger als fünf Sekunden zurückgelegt haben; jedenfalls hatte ich nicht die Zeit, seinen Weg zu verfolgen.
Er legt seine Hand auf meine Schulter und spricht mit sanfter Stimme. Er sagt, es tue ihm leid, dass er mich letzthin umsonst habe warten lassen. Ich setze ein Madonnenlächeln auf und sage, das sei nicht so schlimm, ich könne ihn gut verstehen und wisse, dass unser Treffen früher oder später stattfinden werde. Ich bin ehrlich. Es ist ein sehr zärtlicher Augenblick; er beugt sich zu mir, nur zu mir; man könnte uns für zwei Liebende halten, die das Leben nach einer langen Trennung wieder zusammengeführt hat.
Im Verlauf des Vormittags kommt er noch zweimal herein, aber jedes Mal bleibt er in der Tür stehen und wendet sich nur an den jungen Typ mit der Brille. Jedes Mal entschuldigt er sich mit einem bezaubernden Lächeln für die Störung; er lehnt sich gegen den Türpfosten, auf einem Bein das Gleichgewicht haltend, als verböte ihm die innere Spannung, die ihn beseelt, längere Zeit in aufrechter Position zu verharren.
Von der Konferenz selbst bleibt mir nur wenig Erinnerung; auf alle Fälle wurde nichts Konkretes beschlossen, sieht man von der letzten Viertelstunde ab, als noch rasch vor dem Mittagessen ein Zeitplan für die Kurse in der Provinz erstellt wurde. Davon bin ich unmittelbar betroffen, denn diese Reisen werde ich auf mich nehmen müssen; und so notiere ich eilig die festgelegten Termine und Orte auf ein Blatt Papier, das ich noch am selben Abend verliere.
Das Ganze wird mir gleich am nächsten Tag bei einem Briefing mit dem Theoretiker ein weiteres Mal erklärt. So erfahre ich, dass vom Ministerium (also von ihm, wenn ich recht verstehe) ein ausgeklügelter Ausbildungsgang auf drei Ebenen erstellt worden ist. Es geht darum, durch Komplementärausbildungen, die zwar ineinandergreifen, aber voneinander organisch unabhängig sind, bestmöglich auf die Bedürfnisse der Benutzer zu antworten. Das alles trägt ganz offensichtlich den Stempel eines scharfsinnigen Geistes.
Konkret werde ich auf eine Rundreise geschickt, die mich zuerst für zwei Wochen nach Rouen, dann eine Woche nach Dijon und schließlich für vier Tage nach La Roche-sur-Yon führen wird. Am 1. Dezember soll ich losfahren; zu Weihnachten werde ich zurück sein, damit ich »die Festtage im Kreis der Familie verbringen« kann. Man hat also auch die menschliche Seite nicht vergessen. Das ist wunderbar.
Zu meiner Überraschung erfahre ich außerdem, dass ich nicht allein für die Ausbildung verantwortlich bin. Meine Firma hat nämlich beschlossen, zwei Leute zu schicken. Wir werden als Tandem auftreten. Umgeben von einem beängstigenden Schweigen, zählt der Theoretiker fünfundzwanzig Minuten lang die Vor- und Nachteile der Ausbildungstätigkeit eines Tandems auf. Am Ende tragen die Vorteile über die Nachteile einen hauchdünnen Sieg davon.
Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer mein Begleiter sein könnte. Wahrscheinlich jemand, den ich kenne. Wie dem auch sei, kein Mensch hat es für wichtig gehalten, mir vorher etwas davon zu sagen.
Der Theoretiker greift geschickt eine seiner Bemerkungen auf, um die Abwesenheit jener zweiten Person (deren Identität bis zuletzt ein Geheimnis bleiben wird) zu bedauern; er verstehe nicht, dass niemand es für nötig befunden habe, den Unbekannten einzuladen. Er spinnt sein Argument weiter und sagt unausgesprochen, dass so gesehen auch meine Anwesenheit nutzlos oder jedenfalls nur von geringem Nutzen sei. Genau das meine ich auch.
Zehn
Die Freiheitsgrade nach J.-Y. Fréhaut
Danach kehre ich zurück zu meiner Firma. Dort werde ich freundlich empfangen; wie es scheint, ist es mir gelungen, meine Position im Betrieb zu festigen.
Mein Abteilungsleiter nimmt mich beiseite; er enthüllt mir, wie überaus wichtig dieser Auftrag sei. Er weiß, sagt er, dass ich einiges wegstecken kann. Er sagt ein paar bitter-realistische Worte über den Diebstahl meines Wagens. Eine Art Männergespräch in der Nähe des Automaten für heiße Getränke. Ich entdecke in ihm den großen Spezialisten für die Verwaltung menschlicher Ressourcen, und mir wird wohlig zumute. Von Minute zu Minute kommt er mir schöner vor.
Später am Nachmittag habe ich an der kleinen Abschiedsfeier für Jean-Yves Fréhaut teilgenommen. Mit ihm verlässt uns, wie der Abteilungsleiter hervorhebt, ein wertvoller Mitarbeiter und hochverdienter Techniker. Zweifellos werde er auf seiner künftigen Laufbahn mindestens ebenso große Erfolge feiern wie bisher; das jedenfalls wünsche er ihm. Und dass er, wann immer er wolle, in seiner alten Firma auf ein Glas der Freundschaft vorbeikommen möge! Seinen ersten Posten, schließt er in schlüpfrigem Tonfall, könne man ebenso wenig vergessen wie die erste Liebe. Ich beginne mich zu fragen, ob er nicht ein wenig zu tief ins Glas geschaut hat.
Kurzer Applaus. Ein sanftes Wogen umgibt J.-Y. Fréhaut. Er dreht sich langsam um die eigene Achse, macht einen zufriedenen Eindruck. Ich kenne diesen Jungen ein bisschen; vor drei Jahren sind wir gleichzeitig in die Firma eingetreten; wir haben im selben Büro gearbeitet. Einmal sprachen wir über die großen Fragen unserer Zeit. Er sagte (und glaubte in gewisser Weise tatsächlich daran), dass die Intensivierung der Informationsflüsse in der Gesellschaft an sich eine gute Sache sei. Dass die Freiheit nichts anderes sei als die Möglichkeit, Verbindungen verschiedenster Art zwischen Individuen, Projekten, Institutionen und Dienstleistungen herzustellen. Das Maximum an Freiheit fiel seiner Meinung nach mit dem Maximum an Wahlmöglichkeiten zusammen. Mit einer der Festkörperphysik entlehnten Metapher nannte er diese Wahlmöglichkeiten »Freiheitsgrade«.
Wir saßen, ich erinnere mich, in der Nähe des Großrechners. Die Klimaanlage summte vor sich hin. Er verglich die Gesellschaft gewissermaßen mit einem Gehirn, die Individuen mit Gehirnzellen, für die es tatsächlich wünschenswert ist, so viele Verbindungen wie möglich herzustellen. Darin erschöpfte sich aber die Analogie. Denn er war ein Liberaler und als solcher kein Parteigänger dessen, was für das Gehirn unabdingbar ist: ein Vereinheitlichungsplan.
Sein eigenes Leben war, wie ich später erfuhr, äußerst funktionell. Er bewohnte eine Einzimmerwohnung im 15. Arrondissement. Die Heizung war in den Betriebskosten enthalten. Er hielt sich fast nur zum Schlafen dort auf, denn er arbeitete viel – und las außerhalb der Arbeitsstunden meist eine Zeitschrift namens Micro-Systèmes. Die berühmten Freiheitsgrade beschränkten sich, was ihn betraf, auf die Wahl seines Abendessens per Minitel (er hatte ein Abonnement auf eine damals noch neue Dienstleistung, die Zustellung warmer Speisen zu einem genauen Zeitpunkt mit relativ kurzer Lieferzeit).
Abends sah ich gern zu, wie er sein Menü zusammenstellte und dabei das Minitel bediente, das sich in der linken Ecke seines Schreibtischs befand. Ich hänselte ihn wegen der Erothek; aber in Wirklichkeit bin ich überzeugt, dass er noch Jungfrau war.
In gewisser Weise war er ein glücklicher Mensch. Er fühlte sich, nicht zu Unrecht, als Akteur der telematischen Revolution. Er empfand tatsächlich jede Erweiterung der Macht der Informatik, jeden Schritt hin auf die Globalisierung des Netzes als persönlichen Sieg. Er wählte die Sozialisten. Und seltsamerweise bewunderte er Gauguin.
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