Aufregend war es immer. Hugo PortischЧитать онлайн книгу.
populären Schlager zu singen: »Stern von Rio, du könntest mein Schicksal sein …« Sie kam nicht sehr weit, plötzlich krachte es, der Plafond des Lokals stürzte teilweise ein, danach prasselte durch das Loch eine Ladung Kohle, die im Keller darüber gelagert war. In das Haus hatte eine Bombe eingeschlagen. Eine sowjetische Bombe, wie wir später erfuhren. Das Lokal lag in unmittelbarer Nähe einer von deutschen Truppen besetzten Kaserne, die das Ziel des nächtlichen sowjetischen Luftangriffs war. Es gab in diesem Lokal viele Verletzte. Uns hatte die Säule geschützt, hinter die uns der Kellner gesetzt hatte.
Der Maturalehrgang sollte Ende April beendet sein, aber am 4. April 1945 erreichte die Rote Armee bereits die Vororte von Preßburg. Wir liefen in die Schule. Hier saß unser Klassenvorstand Benno Smekal. Er hatte uns einmal erzählt, wie tapfer er war als k. u. k. Soldat im Ersten Weltkrieg. Jetzt bewunderten wir ihn. Das Donnern der Kanonen war gut zu hören, aber Smekal blieb ruhig und stellte unsere Zeugnisse aus. Dann entließ er jeden von uns mit Händedruck und sagte: »Viel Glück.«
Mit dem letzten Zug, der den Preßburger Hauptbahnhof verließ, fuhren meine Mitschüler und ich nach Wien, eskortiert von einem Unteroffizier, der uns aus dem in Trümmern liegenden Ostbahnhof in das Arsenal führte. Im Arsenal hätten wir rekrutiert werden sollen. Aber die Mühe machte man sich nicht mehr. Die Rote Armee hatte auch schon den Stadtrand von Wien erreicht. Man drückte uns Marschbefehle in die Hand – nach Prag, mit dem Namen der Kaserne, in der wir uns zu melden hätten. Es fuhren noch Züge nach Prag. Und unsere Mitschüler machten sich auf den Weg zum Franz-Josephs-Bahnhof.
Ich hatte eine andere Idee und besprach sie mit meinen Freunden: Wir könnten über St. Pölten, Linz und Böhmisch Budweis nach Prag fahren. Die Fahrtroute war im Marschbefehl nicht vorgeschrieben, nur das Ziel. In St. Pölten, Oberwagram befand sich der Bauernhof meiner Großeltern. Und meine Eltern hatten schon vor einigen Tagen die Fahrt dorthin angetreten. Die könnten wir noch einmal sehen. So fuhren wir mit der Straßenbahn zum Westbahnhof. Da ging heute kein Zug mehr nach St. Pölten. Erst am nächsten Morgen um sieben Uhr.
Vor dem Westbahnhof befand sich eine Unterkunft für Reisende: Es war ein Tunnelsystem und sollte wohl auch als Splittergraben bei Bombenangriffen dienen. Geleitet wurde die unterirdische Unterkunft von einer Oberschwester. Es gab noch einige freie Betten. Wir wurden aufgenommen, aber merkwürdigerweise aufgefordert, unsere Schuhe auszuziehen und zur Aufbewahrung abzugeben. Ich hielt das für eine hygienische Maßnahme. Die Schwester versprach, uns um sechs Uhr früh zu wecken. Wir suchten die uns mit Nummern zugewiesenen Betten auf.
Ich erwachte, sah auf die Uhr, es war 15 Minuten nach sechs. Wir waren nicht geweckt worden. Ich lief zur Oberschwester. Nein, teilte sie mir mit, Tagwache gäbe es erst um sieben Uhr, niemand werde früher geweckt, da alle hier anwesenden Soldaten zu einer Volkssturmeinheit zusammengefasst würden. Aber wir waren noch keine Soldaten, wir waren in Zivil und hatten einen Marschbefehl nach Prag. Ich wartete keine Antwort mehr ab, lief durch das Tunnelsystem und rief laut die Namen meiner Freunde, denn wo sie schliefen, wusste ich nicht. Sie hörten mich und kamen, wir holten unsere Schuhe ab, verließen die Unterkunft und gingen zum Bahnhof. Dort drängte sich eine Menschenmenge durch einen schmalen Zugang zum Bahnsteig. Alle wurden kontrolliert, mit unseren Marschbefehlen konnten wir ungehindert passieren.
Für die Fahrt nach St. Pölten benötigte der Zug mit vielen Aufenthalten nahezu drei Stunden. Er kam auch nur bis zur Bahnbrücke über die Traisen, der Bahnhof selbst lag in Trümmern, er war von amerikanischen Fliegern bombardiert worden. Wir liefen die Bahnböschung hinunter und durch den Stadtpark auf den Weg nach Oberwagram, wo sich der Bauernhof meiner Großeltern befand. Meine Großeltern lebten nicht mehr, aber der Bruder meines Vaters, seine Frau und seine Tochter bewirtschafteten das Anwesen. Einer der Söhne war im Krieg gefallen, ein zweiter noch bei der Wehrmacht. Meine Eltern waren schon da und auch wir wurden freundlich aufgenommen.
Hier hätten wir das Ende des Krieges abwarten können. Um Wien wurde bereits gekämpft, es konnte also nur noch wenige Tage dauern, bis die sowjetischen Truppen auch hier eintrafen. Und einen Entschluss hatten wir bereits gefasst: Wenn nur irgend möglich, nicht in die Waffen-SS! Doch hierbleiben konnten wir auch nicht. Das Haus lag an einem Hügel – und diesen wollten die deutschen Truppen offenbar verteidigen. Jedenfalls erschienen sie in unserem Haus und nahmen den von uns eben erst verlassenen Heustadel als Unterkunft in Anspruch. So zogen wir weiter – nicht vom bombardierten St. Pöltener Bahnhof, aber vom Mariazeller Bahnhof ging noch ein Zug nach Linz. Er war voll mit Flüchtlingen aus den Balkanstaaten. Bei Kleinmünchen wurde unser Zug angehalten, alle männlichen Reisenden mussten zur Kontrolle aussteigen. Einige Passagiere verfügten offenbar nicht über die richtigen Papiere, sie wurden von den Kontrolloren abgeführt. Wir aber blieben mit unseren Marschbefehlen unbeanstandet. Bevor wir wieder einsteigen konnten, warf ich noch einen Blick zurück und traute meinen Augen nicht: Nicht weit von der Kontrollstelle stand ein Baum, an dem zwei Menschen aufgehängt waren. Hätte uns das auch passieren können, fragten wir uns. Konnte uns das noch passieren? Andererseits: Wie viel Zeit blieb uns noch, um von Wien nach Prag zu gelangen, ohne als Wehrdienstverweigerer zu gelten? Von jetzt an nahmen wir dieses Risiko bewusst auf uns. Lange konnte der Krieg nicht mehr dauern.
In Linz mussten wir in einen Zug nach Böhmisch Budweis umsteigen. Der aber fuhr erst am nächsten Tag – und er war dann so voll besetzt, dass wir nur noch zwischen den Waggons auf den Stoßdämpfern stehend mitfahren konnten. In Budweis mussten wir zwei weitere Tage auf einen Zug nach Prag warten.
In Prag, das hatten uns Mitreisende erzählt, da gäbe es auf dem Wenzelsplatz ein populäres Büffet namens »Koruna«, ein Zentrum des Schwarzmarkts. Dort könne man Zigaretten gegen Lebensmittelmarken eintauschen. Ich hatte viele Zigaretten im Koffer, denn – das war mir schon in Preßburg geraten worden – mit Zigaretten und Schnaps komme man überall weiter. In Prag angekommen, führte uns der erste Weg prompt ins »Koruna«. Das war wirklich überraschend: Für sechs Zigaretten erhielt ich tatsächlich einen Laib Brot! Überhaupt sah hier alles so aus, als lebe die Stadt in tiefstem Frieden. Wir kamen rasch ins Gespräch mit den Leuten.
Nein, Prag hatte noch keine Luftangriffe erlebt. Das sei wohl der tschechoslowakischen Exilregierung in London zu danken, hieß es. Alle Häuser der Stadt waren unbeschädigt. In den Kinos wurden die letzten deutschen Filme gezeigt – mit Marika Rökk und Johannes Heesters, Hans Moser, Theo Lingen und Kristina Söderbaum. Ab und zu sah man auf den Straßen auch Soldaten, deutsche Soldaten in SS-Uniform. Ihr Anblick brachte uns sehr schnell auf den Boden unserer Realität zurück – nämlich zu unserem Marschbefehl mit dem Namen jener Kaserne, in der wir uns melden sollten. Eine SS-Kaserne. Ich hörte die Stimme meines Vaters: »Wenn es irgendwie geht, nicht in die Waffen-SS!«
Wir waren uns einig: Wir wollten versuchen, so lange wie möglich nicht in diese Kaserne zu gehen. Obwohl wir auf den Plakatwänden in Prag die Kundmachungen lasen, wer gerade wegen Wehrdienstverweigerung hingerichtet worden sei. Auf den Straßen gab es Patrouillen, denen galt es auszuweichen. Naheliegend war, ins Kino zu gehen, so oft wie möglich. Und schlafen? Auch das bot sich an: In den großen Hallen des Prager Hauptbahnhofs lagerten jede Nacht viele Flüchtlinge. Das taten wir nun auch. Aber nicht lange. Eines frühen Morgens tauchte überraschend eine SS-Patrouille auf und kontrollierte alle Anwesenden, auch uns. Ob wir denn wüssten, wie man zu der in unserem Marschbefehl angeführten Kaserne käme? Nein, sagten wir. Das treffe sich ja gut, hieß es, die Patrouille werde jetzt in genau diese Kaserne zurückkehren, wir könnten uns ihr gleich anschließen.
Vor dem großen Tor der Kaserne stand ein SS-Posten. Als wir an ihm vorbeigingen, fragte ich mich, ob wir hier noch lebend herauskämen. Denn mitten im Hof standen schon einige uniformierte Männer, die ebenfalls von Patrouillen aufgegriffen worden waren und offensichtlich als Deserteure galten. Wir mussten neben ihnen Aufstellung nehmen, den Marschbefehl aus Wien hatte man uns abgenommen. Namen wurden aufgerufen, die Männer neben uns verschwanden, einer nach dem anderen. Dann waren auch wir an der Reihe. Wir rechneten mit dem Schlimmsten. Zu viert brachte man uns in die Schreibstube. Das sah nun nicht nach Standgericht aus. Der Mann dort in SS-Uniform hielt ein Schreiben in der Hand. Ein Fernschreiben aus dem Wiener Arsenal, wie sich herausstellte. Es enthielt unsere Namen und eine Korrektur: Wir seien irrtümlich nach Prag in Marsch gesetzt worden – und sollten jetzt unverzüglich zu einer SS-Panzergrenadier-Division in Nienburg an der Weser weitergeleitet