Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Sir Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
bemerkte ich, dass sie, bereits fertig angezogen, noch geschrieben hatte, ehe sie das Haus verliess. Du hast zwar bemerkt, dass ihr rechter Handschuh am Mittelfinger zerrissen war, hast aber offenbar einen lila Tintenfleck an Handschuh und Finger übersehen. Sie hatte in der Eile geschrieben und die Feder zu tief eingetaucht — und zwar heute morgen, sonst wäre der Fleck am Finger nicht so deutlich gewesen. Ja, ja, das alles ist spassig, wenn auch einfach genug. Jetzt aber muss ich an die Arbeit, Watson. Thu mir den Gefallen und lies mir die Personalbeschreibung des gesuchten Hosmer Angel vor.“
„Ich hielt den Zeitungsausschnitt an das Licht: „Vermisst seit dem 14. morgens ein Herr, Namens Hosmer Angel. Derselbe ist gross, kräftig gebaut, blass, hat schwarzes Haar, eine kahle Stelle auf dem Kopf, starken, dunkeln Backen- und Schnurrbart; er trägt eine dunkle Brille und hat einen kleinen Sprechfehler. Seine Kleidung bestand, als er zuletzt gesehen wurde, aus einem schwarzen, mit Seide eingefassten Rock, schwarzer Weste mit goldener Kette, grauem Beinkleid und braunen Gamaschen über den Stiefeln mit Gummizügen. Der Vermisste arbeitete in einem Geschäft in Leadenhall-Street; wer über ihn irgend welche Angaben u. s. w.“
„Das genügt,“ sagte Holmes, und nachdem er die Briefe überflogen, meinte er: „Höchst alltäglich; Herr Angel zitiert Balzac, das ist das einzige Bemerkenswerte. Und doch wird auch dir ein Umstand auffallen.“
„Dass die Briefe mit der Maschine geschrieben sind,“ erwiderte ich.
„Nicht allein das, sondern auch die Unterschrift ist Typenschrift. Sieh, wie sauber hier unten das ,Hosmer Angel‘ steht. Hier ist ein Datum, aber keine genaue Ortsangabe, denn Leadenhall-Street allein kann nicht genügen. Diese Unterschrift lässt auf vieles schliessen — ja, sie ist massgebend.“
„Wofür?“
„Siehst du wirklich nicht ein, wie schwer das ins Gewicht fällt, alter Junge?“
„Ehrlich gesagt, nein, es sei denn, der Schreiber hoffte auf diese Weise seine Unterschrift abschwören zu können, falls er wegen Bruchs des Eheversprechens zur Rechenschaft gezogen würde.“
„Nein, das hatte er schwerlich im Auge. Indessen will ich zur Aufklärung des Sachverhalts zwei Briefe schreiben, den einen an eine Firma in der City, den andern an Herrn Windibank, den Stiefvater der jungen Dame; letzteren will ich bitten, morgen abend um sechs Uhr bei mir vorzusprechen. Es ist geratener, die Sache mit dem männlichen Teil der Familie zu verhandeln. Bis die Antworten auf diese Briefe da sind, ist weiter nichts zu thun, Doktor, und so wollen wir die Sache bis dahin auf sich beruhen lassen.“
Ich kannte meinen Freund durch und durch; bei dem Scharfsinn und der Energie, womit er alles betrieb, wusste ich, dass er bereits in der Lage war, das merkwürdige Geheimnis, das ihm anvertraut worden, klar und sicher zu durchschauen. Nur ein einzigesmal erinnere ich mich — es war mit der Photographie der Irene Adler —, dass er fehlging, sonst hatte er jederzeit Licht und Klarheit in die denkbar verwickeltsten Fälle gebracht.
So verliess ich denn Sherlock Holmes, der noch immer aus seiner Thonpfeife paffte, mit der Ueberzeugung, er werde bereits am nächsten Abend Fräulein Mary Sutherlands verschollenen Bräutigam aufgefunden und identifiziert haben.
Ein schwerkranker Patient nahm mich zur Zeit völlig in Anspruch, und ich konnte am nächsten Abend erst gegen sechs Uhr nach der Bakerstrasse fahren; schon fürchtete ich zu spät zu kommen, um der Aufklärung des Rätsels noch beizuwohnen. Ich fand aber Sherlock Holmes allein; er lag halb schlafend im Lehnstuhl. Ein ganzes Regiment von Flaschen, Röhren und Tiegeln und der scharfe Geruch von allerhand Säuren wiesen darauf hin, dass er sich eifrig mit chemischen Untersuchungen abgegeben hatte, was eine Liebhaberei von ihm war.
„Hast du die Lösung gefunden?“ fragte ich eintretend.
„Ja. Es war schwefelsaurer Baryt.“
„Nein, nein — ich meine das Rätsel!“
„Ach so! das! Ich dachte nur an das analysierte Salz. Rätselhaft ist in der Sache gar nichts, wenn ich auch gestern einige Einzelheiten interessant nannte. Es ist nur bedauerlich, dass wohl kein
Gericht dem Spitzbuben etwas anhaben kann.“
„Wer ist es denn und was bezweckte er, indem er Fräulein Sutherland sitzen liess?“
Ich hatte kaum ausgesprochen und Holmes noch nicht geantwortet, als sich auf dem Flur ein schwerer Tritt vernehmen liess und an die Thür geklopft wurde.
„Das ist Windibank, der Stiefvater,“ sagte Holmes. „Er schrieb mir, er würde sich um sechs Uhr bei mir einfinden. Herein!“
Der Eintretende, ein handfester, mittelgrosser Mann von etwa dreissig Jahren, war glatt rasiert, hatte eine gelbliche Gesichtsfarbe und ein paar auffallend lebendige, durchbohrende graue Augen; sein Wesen war verbindlich, fast unterthänig. Er warf einen fragenden Blick auf uns, stellte seinen glänzenden Seidenhut auf den Nebentisch und nahm mit einer leichten Verbeugung auf dem nächsten Stuhle Platz.
„Guten Abend, Herr Windibank,“ empfing ihn Holmes. „Ich setze voraus, dass dieser mit der Maschine geschriebene Brief, wodurch Sie sich auf sechs Uhr anmelden, von Ihnen stammt.“
„Ganz recht. Fast fürchte ich, mich etwas verspätet zu haben, doch bin ich nicht ganz Herr meiner Zeit. Ich bedaure, dass Fräulein Sutherland Sie mit dieser Kleinigkeit belästigt hat — schmutzige Wäsche wäscht man am besten zu Hause. Sie kam gegen meinen Wunsch und Willen; Sie haben wohl bemerkt, dass das junge Mädchen etwas aufgeregter, leidenschaftlicher Natur ist und durchsetzt, was sie einmal will. Da Sie keine amtliche Gerichtsperson sind, so hat es weniger auf sich, dass Sie eingeweiht wurden, — aber jedenfalls ist es höchst unangenehm, wenn ein derartiges unglückliches Familienereignis weiter verbreitet wird; nebenbei macht es nur unnötige Kosten, denn wie sollten Sie diesen Hosmer Angel auftreiben können?“
„Im Gegenteil,“ versetzte Holmes gelassen, „ich habe die beste Aussicht, den Herrn entdecken zu können.“
Windibank erschrak sichtlich und liess seine Handschuhe fallen. „Wirklich! das freut mich sehr,“ sagte er.
„Es ist doch merkwürdig,“ warf Holmes ein, „dass die Maschinenschrift so gut ihre Eigenart hat, wie die Handschrift eines Menschen. Sobald die Maschinen nicht mehr ganz neu sind, schreiben nicht zwei vollkommen gleich. Manche Buchstaben wetzen sich schneller ab als andere, einzelne auch nur auf einer Seite. Sehen Sie selbst, Herr Windibank, hier in Ihrem Briefchen ist das ,e‘ nie ganz rein, und auch am ,r‘ fehlt etwas. Noch vierzehn andere Merkmale sind vorhanden, doch treten diese beiden am deutlichsten hervor.“
„Wir bedienen uns dieser Maschine für unsere ganze Korrespondenz im Geschäft, und so ist sie selbstverständlich etwas abgenutzt,“ erwiderte Windibank und richtete seine lebhaften, kleinen Augen forschend auf Holmes.
„Und nun will ich Ihnen eine recht interessante Wahrnehmung mitteilen,“ fuhr mein Freund fort. „Ich gedenke dieser Tage eine kleine Arbeit über die Maschinenschrift in ihren Beziehungen zum Verbrechen herauszugeben, nachdem ich mich mit diesem Gegenstand in letzter Zeit etwas beschäftigt habe. Hier sind vier Briefe, die von dem Vermissten stammen sollen. Alle vier sind mit der Schreibmaschine geschrieben. In jedem dieser Briefe ist nicht allein das ,e‘ defekt und das ,r‘ ohne Abschluss, sondern Sie werden, wenn Sie meine Lupe gefälligst zu Hilfe nehmen wollen, auch sehen, dass sich darin die andern vierzehn Merkmale wiederfinden, von denen ich sprach.“
Hastig sprang Windibank auf und griff nach seinem Hut. „An derartige Beobachtungen und Unterhaltungen kann ich meine Zeit unmöglich verschwenden, Herr Holmes. Können Sie den Mann fangen, so thun Sie es und benachrichtigen Sie mich davon, wenn es geschehen ist.“
„Gewiss,“ versetzte Holmes, ging zur Thür und schloss sie ab. „So teile ich Ihnen denn mit, dass ich ihn habe.“
„Was! wo?“ stiess Windibank hervor, wurde kreideweiss und drehte sich nach allen Seiten, wie eine Ratte in der Falle.
„Lassen Sie es nur gut sein, es hilft alles nichts,“ meinte Holmes freundlich und gelassen. „Sie kommen nicht durch, Herr Windibank. Die