Hume. Eine Einführung. Frank BrosowЧитать онлайн книгу.
will, sollte sich zunächst einen Überblick darüber verschaffen, was seinen Ansatz eigentlich ausmacht. Erst vor dem Hintergrund eines solchen Maßstabs, der bis zu einem gewissen Grad stets subjektiv bleiben wird, können die vielfältigen Deutungsansätze und Argumente der Sekundärliteratur ihrerseits auf ihre Angemessenheit hin untersucht werden. Die vorliegende Einführung möchte Ihnen helfen, einen solchen Maßstab zu entwickeln. Gleichzeitig empfiehlt es sich jedoch, sich gegenüber Humes Argumenten und ihrer Darstellung stets eine gewisse (für Hume so typische) Skepsis zu bewahren. Da dieser Text kein Kommentar zu Humes Schriften sein will, sondern sich als eine problemorientierte Einführung in die Hume’sche Art zu denken versteht, werden Humes Argumente nicht in derjenigen Reihenfolge dargestellt, in der er sie in seinen Texten behandelt, sondern in ihrem systematischen Zusammenhang erläutert und durch Beispiele veranschaulicht.
[13]Die Wissenschaft vom Menschen
Um Humes philosophisches Projekt zu verstehen, muss man zunächst nach dem geistigen Klima fragen, das zur Zeit seines Schaffens, also um die Mitte des 18. Jahrhunderts herum, in Europa im Allgemeinen und in seiner Heimat Schottland im Besonderen geherrscht hat. Aus heutiger Sicht sind mindestens drei Begriffe zur Charakterisierung dieses geistesgeschichtlichen Hintergrunds von besonderer Bedeutung: Neuzeit, Empirismus und Aufklärung.
Als Neuzeit bezeichnen wir heute sehr allgemein diejenige Epoche, die das Mittelalter abgelöst hat und je nach Sprachgebrauch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts oder bis in die Gegenwart hinein andauert. Ihr Beginn wird durch verschiedene historische Ereignisse, Entdeckungen und technische Errungenschaften markiert, unter anderem durch den Fall Konstantinopels, die Erfindung des Buchdrucks, die Entdeckung Amerikas, die Durchsetzung des heliozentrischen Weltbildes und die Reformation. Kulturgeschichtlich ist die frühe Neuzeit durch die Renaissance und den Humanismus charakterisiert. Neben die im Mittelalter noch alternativlose christliche Weltsicht tritt die Rückbesinnung auf antike Denkweisen und Wertvorstellungen. Von dieser Grundlage aus kommt es auf vielen Gebieten zur Entwicklung innovativer Theorien, insbesondere im Bereich der Naturwissenschaften. Als Grundlage genuin philosophischer Theoriebildung tritt die im Mittelalter noch maßgebliche scholastische Methode mit ihren starken Bezügen auf die Autorität der Bibel und der Texte des Aristoteles (384–322 v. Chr.) in den Hintergrund, während neue Prinzipien des Denkens zusehends an Bedeutung gewinnen.
Der Prozess der geistigen und politischen Emanzipation des denkenden Individuums von traditionellen Autoritäten gipfelt [14]im 17. und 18. Jahrhundert in der Bewegung der Aufklärung. Immer mehr Gelehrte beginnen, ihre Schriften nicht länger in der Wissenschaftssprache Latein, sondern in ihrer jeweiligen Volkssprache zu verfassen. Mithilfe des Buchdrucks können ihre Theorien vergleichsweise schnell und weit verbreitet werden.5 In Frankreich entsteht unter der Federführung von Denis Diderot (1713–1784) und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783) die berühmte Enzyklopädie.6 Viele zeitgenössische Autoren nehmen ihre Zeit als »age of improvement« wahr und werden von einem mehr oder weniger stark ausgeprägten Fortschrittsoptimismus beflügelt. Den traditionellen, auf Offenbarung und kirchliche Autorität gegründeten Religionen wird die Idee einer natürlichen Vernunftreligion gegenübergestellt. Auf politischer Ebene kommt es zu bedeutenden Umbrüchen wie der Glorious Revolution von 1688/89, der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, der Französischen Revolution von 1789 und letztlich zur weltweiten Etablierung der Idee allgemeiner Menschenrechte.
Humes Geburtsstadt Edinburgh entwickelt sich zum Zentrum der schottischen Aufklärung. Das ökonomisch und kulturell lange eher unbedeutende Land bringt innerhalb weniger Jahrzehnte einige der herausragendsten Persönlichkeiten der europäischen Aufklärung hervor.
Im Bereich der Philosophie trägt die Aufklärung inhaltlich unter anderem zur Zurückdrängung religiöser Dogmen und zu einer gewissen Aufwertung eines gemäßigten Skeptizismus bei. Methodisch ist sie gerade in ihrer frühen Phase von dem verstärkten Bemühen um die Klärung von Begriffen geprägt.
Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Empirismus und Rationalismus.7 Da diese Begriffe von den damaligen Philosophen noch nicht verwendet werden und sich kaum eine Theorie eindeutig, restlos und zweifelsfrei einer dieser beiden Denkrichtungen [15]zuordnen lässt, sollte man dieses Begriffspaar jedoch nicht als Bezeichnung für zwei klar gegeneinander abgrenzbare Lager verstehen, sondern eher als Bezeichnung für zwei einander gegenüberliegende Pole, denen verschiedene philosophische Theorien dieser Zeit unterschiedlich nahe stehen.
Als empiristisch wird eine Theorie bezeichnet, insofern sie die Erfahrung als den grundlegenden Faktor menschlicher Erkenntnis betrachtet und der Vernunft lediglich die Rolle eines (durchaus wichtigen) Werkzeugs zumisst. Was nicht zunächst in irgendeiner Form erfahren wurde, kann dem Empirismus zufolge kein (sinnvoller) Gegenstand des Denkens sein. Empiristische Theorien setzen bei einzelnen Erfahrungen an, also bei konkreten Wahrnehmungen, Beobachtungen oder Experimenten, aus denen erst in einem zweiten Schritt allgemeine Erkenntnisse und Prinzipien abgeleitet werden. Das Denken der Empiristen schreitet grundsätzlich also vom Einfachen und Konkreten zum Allgemeinen und Abstrakten fort. Man bezeichnet das auch als die induktive Methode. Einige der wichtigsten in erster Linie dem Empirismus zuzurechnenden Denker sind Francis Bacon (1561–1626), Pierre Gassendi (1592–1655), John Locke (1632–1704), George Berkeley (1685–1753) und David Hume.
Als rationalistisch bezeichnet man hingegen Theorien, die die Vernunft als wichtigste Grundlage von Erkenntnis betrachten, indem sie von angeborenen Inhalten oder Prinzipien des Denkens ausgehen, während sie der Erfahrung nur eine der Vernunft untergeordnete Bedeutung zuweisen. Rationalistische Theorien setzen bei Begriffen an, die gerade nicht durch Erfahrung (a posteriori), sondern durch reines Denken (a priori) erkennbar sind. Von diesen allgemeinen Grundbegriffen aus (zum Beispiel »Notwendigkeit«, »Unendlichkeit«, »Substanz«) entwickeln Rationalisten ihre weiteren Gedanken. Ihr Denken bewegt sich vom Allgemeinen zum Besonderen, was auch als [16]deduktive Methode bezeichnet wird. Wichtige, traditionell dem Rationalismus zugerechnete Denker sind René Descartes (1596–1650), Nicolas Malebranche (1638–1715), Baruch de Spinoza (1632–1677), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Christian Wolff (1679–1754), Samuel Clarke (1675–1729) und Ralph Cudworth (1617–1688).
Wer diese Hintergründe kennt, hat es leichter, die zentralen Elemente der Hume’schen Philosophie zu verstehen. Hume ist vom Fortschritt der Naturwissenschaften seiner Zeit stark beeindruckt. Sein großes Vorbild ist Isaac Newton (1643–1727), der Entdecker der Gravitationsgesetze. In gewisser Weise will Hume ein Newton der Geisteswissenschaften werden. Wie ist das zu verstehen? Newton war es gelungen, die von Galileo Galilei (1564–1642) aufgestellten Fallgesetze und die von Johannes Kepler (1571–1630) entdeckten Prinzipien der Planetenbewegungen zu einer einheitlichen Theorie der Gravitation zu vereinigen. Irdische und astronomische Phänomene ließen sich nun durch dieselben Gesetzmäßigkeiten beschreiben und erklären – und zwar nicht nur annäherungsweise, sondern mit großer Präzision. Hume hofft, dass ihm ein ähnlicher Durchbruch auch in den Geisteswissenschaften gelingen wird. Er will eine Theorie der menschlichen Natur entwickeln, durch die all die verschiedenen Aspekte menschlichen Erkennens, Handelns, Urteilens und Zusammenlebens erklärbar werden. Dies glaubt er erreichen zu können, indem er alle Aspekte des menschlichen Lebens auf einige wenige, grundlegende Prinzipien der menschlichen Natur zurückführt.
Doch warum interessiert sich Hume nur für die menschliche Natur und nicht etwa für die Natur im Ganzen? Im Zentrum seiner Philosophie steht das menschliche Individuum, weil er verstanden hat, dass unsere Ansichten über die äußere Natur nicht unabhängig von der Beschaffenheit unseres eigenen Erkenntnisapparats sind. Wie wir über die Welt denken, [17]wird von den Prinzipien unserer Natur bestimmt. Bevor wir beanspruchen können, etwas über die Welt zu wissen, müssen wir zuerst verstehen, was es überhaupt bedeutet, etwas zu wissen oder von etwas überzeugt zu sein. Der Tradition von Locke folgend, ordnet Hume das Weltverständnis daher konsequent dem menschlichen Selbstverständnis unter. Seine Wissenschaft vom Menschen schließt die anderen Wissenschaften entweder ein oder bildet zumindest ihre unverzichtbare Voraussetzung. (Vgl. T Intro. 4; SBN xv) Um sinnvolle Fragen über die äußere Welt stellen zu können, müssen wir zunächst uns selbst verstehen und die Grenzen menschlicher Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit ausloten.
Durch diesen Ansatz