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Die Zeit vor dem Tod. Jesper Bugge KoldЧитать онлайн книгу.

Die Zeit vor dem Tod - Jesper Bugge Kold


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Hüfte gedrückt, den Finger am Abzug. Die Scheinwerfer projizieren ein glänzendes Licht auf ihre Uniformen. Ihre Bewegungen sind schnell und fieberhaft, ein Ellbogen stößt Axel unnötig hart in den Rücken.

      Die Gefangenen steigen die Leiter hinunter. Eine lange Reihe verstörter Männer. Axels Beine zittern. Er muss sich aufs Gehen konzentrieren. Die Schritte, die seit seiner Kindheit das Einfachste von der Welt zu sein schienen, verlangen ihm jetzt große Anstrengung ab. Aber die Uniformen zwingen ihn zu gehen. Sie brüllen ihn vorwärts.

      Ein Hund knurrt ihn an, als er zögert, ein bissiges, gefährliches Knurren, und er gerät ins Stolpern und fällt. Gefletschte Zähne, von denen der Geifer tropft, direkt vor seinem Gesicht, ein Schlund, bereit, ihn in Stücke zu reißen. Auf den Knien zieht er sich zurück. Ein Soldat reißt energisch an der Hundeleine und wimmernd verschwindet der Schlund.

      Der Soldat greift ihm unter den Arm und hilft ihm hoch. Überrascht von der plötzlichen Freundlichkeit, will er dem Soldaten zulächeln, doch der Mann ist schon zu weit weg.

      Der Kai ist ein einziges Wirrwarr aus Soldaten und Gefangenen, die vorwärts getrieben werden. Die Soldaten brüllen Befehle nach links und rechts. „Los, los.“ Die Gefangenen sind stumm.

      Die Beine bewegen sich automatisch vorwärts. Er vermeidet jeden Blickkontakt, blickt starr auf den Rücken vor sich. Es ist Eriks Rücken. Der Anblick seines Kollegen steigert seine Angst. Sie sind alle hier. Zu Hause sitzen ihre Frauen in Ungewissheit. Vielleicht haben die Zeitungen etwas geschrieben oder vielleicht wissen sie absolut nichts darüber, was mit ihren Männern passiert ist? Zu Hause wartet Kamma.

      Ein Stück entfernt kann er undeutliche Konturen erahnen. Dunkle Rechtecke. Es sind Waggons, ein Zug, zu dem er und die anderen Gefangenen getrieben werden. Endlich wird er sich setzen können, vielleicht den Kopf an eine Scheibe lehnen und sich ausruhen können. Er wird an Kamma denken. An ihre Berührung, ihre Hand, die über seine Wange streichelt, die Fingerspitzen, die ihn am Ohr kitzeln. Er wird sie anschauen. Einen Schritt zurücktreten und sie betrachten. Ihren runden Bauch, die weichen Gesichtszüge, die Augen, die ihn ansehen, wie sonst niemand es kann.

      Ohne es zu bemerken, ist er stehen geblieben. Der Gedanke ist es, der ihn dazu bringt. Nie zuvor war er von etwas so überzeugt, selten einmal hat etwas ihn mehr erfüllt: Er muss und er wird nach Hause zurückkehren. Dann spürt er den heftigen Stoß eines Gewehrkolbens im Rücken. Der Schmerz zieht wie ein elektrischer Schlag bis in seinen Kopf. Er muss sich an Erik festhalten um nicht zu stürzen. Eine heisere Stimme direkt an seinem Ohr brüllt das einzige Wort, das er gehört hat, seit sie aus dem Laderaum gestiegen sind. „Los!“

      Die Waggons haben keine Fenster, nur Gitter, wie in einem Gefängnis. Sie sind nicht dazu gebaut, Menschen zu transportieren, sondern Tiere. Kurz darauf hocken alle Polizisten in den Viehwaggons, eng zusammengepfercht wie im Laderaum des Schiffs. Sie sind zu viele und die Luft ist zu schlecht. Ein strenger Geruch nach Tierexkrementen steigt vom Boden des Waggons auf. Eine stinkende Pfütze schwappt träge über die Bretter und wächst mit jedem Gefangenen, der nichts anders kann, als sich in eine Ecke zu schieben und Wasser zu lassen.

      Mit lautem Krachen werden sämtliche Luken geschlossen. Der Waggon wird verriegelt und in einem Gefängnis auf Rädern setzen sie sich in Bewegung.

      Die Wände sind aus Holz. Der Wind pfeift durch den Waggon und die Gefangenen, die vorne stehen, bilden unfreiwillig einen Schutzwall für die übrigen. Axel steht an eine der Seitenwände gedrängt und blickt durch die Ritzen zwischen den Bohlen. Die Landschaft zieht vorbei, zerstört und entstellt. Der Krieg hat seine eigene Heimat nicht verschont.

      Plötzlich sieht er sich selbst, draußen, außerhalb des Waggons; ein neugieriges Kind, das nach jemanden oder nach etwas Ausschau hält. Er fühlt sich so hilflos wie das Kind, das er betrachtet. Wieder gehen seine Gedanken auf Wanderschaft, bewegen sich entgegen der Fahrtrichtung des Zuges nach Hause zu Kamma und dem Kleinen. Dem Ungeborenen.

      Es ist erst September, aber winterlich kalt. Axels Körper ist steif, in den Beinen ein unangenehmes Kribbeln. Er versucht sich zu bewegen, doch es geht nicht, sie stehen zu dicht aneinander gedrückt. Jegliche Körperwärme ist durch die Ritzen in den Wänden verschwunden, die Männer frieren und klappern mit den Zähnen. Es ist viel zu wenig Platz, um sich die Arme um den Leib zu schlagen und so etwas aufzuwärmen. Es ist nur Platz für Gedanken. Und Angst.

      Ein paar Mal hält der Zug an. Niemand weiß warum und niemand stellt mehr Vermutungen an. Andere Züge fahren vorbei. Zwischen den Bodenbrettern kann er die Bahnschwellen erahnen. Dann bewegt sich ihr Zug wieder. Das Geräusch der Räder auf den Schienenübergängen wirkt so friedlich, so ruhig und ungefährlich.

      „Wo zum Teufel bringen sie uns hin?“, ruft eine heisere, vor Kälte zitternde Stimme.

      Die Frage lässt einen von ihnen schluchzend zusammenbrechen. Die Umstehenden sprechen ihm Mut zu, sagen Dinge, an die sie selbst nicht glauben, dass alles schon wieder werden wird, dass es sicher nicht so schlimm werden wird. Ihre Worte helfen, obwohl er weiß, dass sie lügen. Der Kollege richtet sich auf und in der Dunkelheit erahnt Axel einen Anflug von Trotz in seinen Augen.

      Wieder kommt der Zug zum Stehen und wieder späht Axel durch eine der Ritzen. Ein Mann schiebt eine Schubkarre den Bahnsteig entlang. Ein anderer hebt Pflastersteine auf und legt sie hinein. Soldaten kann Axel nicht entdecken.

      „Mach schon“, sagt Axel. „Frag sie.“

      Erik ruft ihnen etwas auf Deutsch zu. Zuerst vorsichtig, dann kräftiger. Er muss ein paar Mal durch eine der Ritzen rufen, bevor der eine reagiert. Der Mann hebt weiter Steine auf und nähert sich dabei ihrem Waggon.

      „Habt ihr Zigaretten?“, fragt er.

      „Wisst ihr, wo sie uns hinbringen?“

      „Habt ihr Tabak? Her damit, sie nehmen ihn euch sowieso ab.“

      „Wo bringen sie uns hin?“

      „Sicher nach Neuengamme. Gebt uns euren Tabak.“

      Der Name setzt sich wie ein Kloß in Axels Hals fest. Die Gerüchte gehen längst auch in Dänemark um. Neuengamme ist ein Konzentrationslager.

      Sie fahren weiter. Er spürt etwas an seinem Oberschenkel, Zugwind oder eine Berührung. Es ist Eriks Hand. Sie tastet nach seiner. Wie zwei Geschwister auf dem Weg zur Schule halten sie sich an den Händen, während der Zug die Fahrt verlangsamt.

      Als ihr Waggon endlich stillsteht, wird die Schiebetür aufgerissen. Licht blendet sie. Arme recken sich ihnen entgegen und reißen sie aus dem Waggon. Widerstrebend lässt Axel Eriks Hand los. Er versucht selbst nach unten zu klettern. Er muss sie überzeugen. Es ist ein Irrtum. Er sollte nicht hier sein, sondern zu Hause bei Kamma. Tatsächlich hatte er nicht einmal Dienst, als sie festgenommen wurden. Er hat nur die Schicht eines Kollegen übernommen. Das müssen sie doch verstehen. „Ich muss nach Hause. Meine Frau bekommt ein Kind“, ruft er verzweifelt. „Ich werde Vater.“

      Ein ungeduldiger Soldat packt ihn am Arm und zieht. „Los!“, brüllt er ihn an. Axels Arme und Beine sind so steif, dass er sich nicht abstützen kann. Mit voller Wucht schlägt sein Kopf auf die Erde. Einen Augenblick lang ist es still, dann beginnt der Lärm in seinem Kopf. Ein anderer Däne landet auf ihm und Axels Kopf wird wieder auf den Boden gedrückt. Er öffnet die Augen und sieht einen blank polierten, schwarzen Stiefel, der auf ihn zuschnellt und ihn mitten ins Gesicht trifft.

      Seine Lippe ist geschwollen und die Nase blutet, als er auf die Beine kommt. Er wird vorwärts gestoßen. Fieberhaft sucht sein Blick nach Erik.

      Die Soldaten sind von der SS. Das verraten die Runen an ihren Kragen. Ihre Hunde kläffen ununterbrochen und schnappen nach den Gefangenen, in den Händen halten sie Reitgerten, die sie drohend heben, damit die Gefangenen sich beeilen. Sie zischen durch die Luft und verewigen sich auf den Rücken der Langsamen.

      Ein Stück weiter vorne bleibt einer der etwas älteren


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