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Die Kunst der Bestimmung. Christine WunnickeЧитать онлайн книгу.

Die Kunst der Bestimmung - Christine Wunnicke


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Strümpfen und flüsterte «Hilfe».

      Der Lavendelfarbene ging in die Knie und kleidete ihn an. Knopf um Knopf, Schnalle um Schnalle, Strumpfbänder und Hosenbänder, Schleifen in Ocker und Karmin und doppelte Spangen unter den Knien. Hemd und Weste wollte Lucy nicht haben. Er raffte über den Hosen das Kleid. Der in Maron legte ihm den Degen um. Lucy stopfte weißen Stoff unter das Gehänge. Der Lavendelfarbene half ihm in die Schuhe. Schwarzes Maroquin, Rheinkiesel am Spann, hohe Absätze, korallenrot.

      Chrysander auf dem Bett. Lucy neben der Tür. Ihre Blicke trafen sich. Lucys Rock fing das Licht. Sein Hals war nackt und getupft, das Lippenrot verschmiert bis zum Kinn. Die Rosette an seiner Degenscheide schimmerte von Perlen. Über der Wange eine feine Strähne rotes Haar. Unter dem Goldbrokat ein Zipfel vom Hurenkleid. Ein junger Falter, dem noch das Weißzeug des Kokons anhängt, eine stockende, mühsame Verwandlung. Lucy senkte den Kopf. «Un badinage», murmelte er, «bloß badinage, ein dummer Streich, guter Herr ...»

      Chrysander sprang auf und ging mit den Fäusten auf die lachenden Herren los, als gelte es, eine zerborstene Welt wieder in Form zu schlagen.

      Es bekam ihm nicht. Die Herren zerrten ihn aus dem Zimmer und warfen ihn die Treppe hinab, er fiel über die Wirtin und die Huren. Eine kreischte, ein Zahn war ihr abgebrochen, ein paar Münzen brachten sie zum Schweigen. Die Herren schleppten Chrysander in den Hühnerstall. Sie prügelten und traten ihn, dazu sangen sie, dreistimmig und falsch und französisch. Die Hühner flatterten. Die Herren schlugen zu. Chrysanders Nase blutete, aves, gallinae, rostrum conicum, Federn überall, Gestank und Gegacker, Blut an den Federn und Federn im Blut, dann schleppten sie ihn auf die Straße. Die Nachbarn hingen aus den Fenstern und lachten. Chrysander kämpfte. Es war töricht. Sie stießen ihn hin und her. An der Hauswand, ein wenig abseits, stand Lucy. Sein Rock funkelte im Licht aus den Häusern. Bisweilen sagte er etwas. Das Geschrei war zu laut, es zu hören, und Lucy erhob nicht die Stimme. Er nestelte an seiner Degenschleife. Er zupfte an seinem Ärmel. Dann hielt er sich mit beiden Händen die Augen zu.

      «Verflucht sollst du sein», sagte Chrysander. Blut lief ihm übers Kinn und ins Hemd. Der Saphirblaue puffte ihn in den Rücken, immer wieder, erst leicht, dann härter.

      «Eine Missgeburt.» Chrysander sprach leise, wie zu sich selbst. «Ein Wechselbalg. Ein Monstrum. Nicht wert das Terpentin, in dem man seine Haut gerbt. Nicht wert eines einzigen Wortes. Es ist ohne Nutzen, es soll sterben und verrotten, wie es hätte verrotten sollen im Mutterleib.»

      «Oho!», flötete der Saphirblaue.

      «Quel petit insolent!», zirpte der im Lavendelrock.

      «Ist dies das rechte Kompliment, Hochwürden», fragte der in Maron, «für unseren Freund Lucius Lawes, den ehrenwerten Earl of Fearnall?»

      «So heiße ich.» Das Geschöpf im Goldrock blickte scheu durch seine Finger. «Ich heiße Lucy. Sie hörten nicht, Sir. Ich sagte, ich käme. Ich sagte, Sie sollten fort.»

      «Kein Getändel, Mylady», lachte der Herr in Saphir.

      «A votre santé», sang der Herr in Lavendel und schlug mit der Weinflasche zu. Chrysanders Kopf traf die Wand. Lucy schrie auf. Chrysander verlor die Besinnung.

      Er sah sich den Orbis Pictus lesen, daheim im Pfarrhaus zu Söderfors, das Buch zum Lateinlernen, das Buch über Gottes Welt. Er hörte den Mannesälv rauschen, gleich hinter der Wohnstube, den Fluss, in dem Simon nicht baden durfte, weil sich das nicht schickte für den künftigen Pfarrer von Söderfors. Simon hatte den Orbis Pictus bunt gemalt für seine jüngeren Brüder. Sie saßen bei ihm. Er las ihnen vor. Venatus die Jagd. Praestigia die Gaukelei. Temperantia die Begnügsamkeit. Supplicia Maleficorum der Übeltäter Leibesstrafen. Dann gingen die Brüder fort, nach draußen zum Fluss, um zu baden, denn es war Sommer und man brauchte nur einen Pfarrer in Söderfors. Simon saß allein mit dem Orbis Pictus, dem Buch über Gottes Welt, und er kolorierte es mit Pflaumensaft, mit geraspelter Rinde in Eiklar, mit Messwein und Grasbrei und Blut. Er las Terra die Erde und Lapis der Stein, Flores, Fruges, Frutices, die Binsen, das knotige Schilfrohr, die Holderstaude, der Rosenstock, und draußen floss der Mannesälv mit den Kindern, und Simon las und malte, Geometria die Erdmesskunst, Phases Lunae des Monds Gestalten, und er malte die Weltweisheit blau, und er malte die Fischerei grün, und er malte Aves Rapaces die Raubvögel blutbraun, und mit schwarzer Tinte füllte er die Umrisse der Amphibia, der beidlebigen Tiere, das Krokodil, den gänsfüßigen Biber, den Otter, den quakenden Frosch mit der Kröte, und Sartor der Schneider, und Lintea das Linnen, und die Luft und die Wolke, Getreide und Bäume, Herdenvieh und Lastvieh, Uhrwerke und Fuhrwerke, und Coelum der Himmel und Mundus die Welt. Der Messwein war verschüttet. Der Pflaumensaft aufgebraucht. Die Rinde in Eiklar klumpte, das Blut war geronnen, das Gras auf der Wiese längst braun. Schwarz malte Simon Chrysander den ganzen Orbis Pictus. Der Mannesälv rauschte. Gott der Herr schritt am Ufer und zuckte die Achseln und Gott der Herr sah den Orbis Pictus und zuckte die Achseln, er schalt nicht, sprach nicht, segnete nicht, und er sah nicht, dass es gut war, und er sah nicht, dass es schlecht war, und er sah auch Simon Chrysander nicht über seinem schwarz gemalten Orbis Pictus, und Gott der Herr ging weiter, fort vom Pfarrhaus, fort vom Mannesälv, fort aus Söderfors, fort aus Dalarna, fort aus Schweden und fort aus Mundus, der Welt, und seine Achseln zuckten unaufhörlich, und seine Engel waren um ihn her wie auf den Bildern.

      Chrysander schlug die Augen auf. Die Straße war still. Über ihm, mit einem Licht, stand Kauppi.

      «Ich will nicht, dass du mir nachkommst», sagte Chrysander. Kauppi half ihm auf die Beine. Chrysander schluckte. Dann übergab er sich. Dann brachte ihn Kauppi nach Hause.

      III

      «IN GUARDIA!», schrie Vater und band Lucius’ Klinge innerhalb.

      Das Gras war grün in Cheshire und der Himmel hing niedrig. Man übte auf dem Feld und nicht im Haus. Auch der Krieg fand im Feld statt und nicht in Häusern. Wenn es regnete, blieb man. Auch der Krieg blieb Krieg, wenn es regnete. Lucius wagte einen schnellen Blick zum Himmel.

      «Cavation! Via!», schrie Vater.

      Lucius cavierte, Vater cavierte desgleichen, Lucius ging abermals mit der Klinge durch und Vater wiederum, und Lucius cavierte ein fünftes Mal und machte dann die Finte in der Quarta nach Vaters rechter Brust, und Vater ging nach links, und Lucius passierte unter Vaters Rapier und stieß in der Seconda nach Vaters unterem Leib, und Vater griff seine Klinge.

      «Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

      Und Lucius cavierte wieder, und Vater cavierte dagegen, und Lucius ging durch und Vater ging wiederum durch, und nach der fünften Cavation und der Quarta nach rechts machte Lucius abermals die Passata sotto, die linke Hand im nassen Gras, und schnell wieder hoch, damit Vater nicht spottet, und dann die Seconda abermals nach der unteren Linie, und wieder griff Vater die Klinge.

      «Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

      Die ersten Regentropfen fielen.

      «Schlafen Sie, Sir?», schrie Vater. «Via!»

      Und Lucius cavierte und Vater ging durch und Lucius ging wiederum durch und dann abermals Vater, und im Haus waren die Schwestern, Maudlin und Barbara, sie hatten Lucius im Türstock gemessen, in nur einem Monat war er gewachsen um die Breite von Maudlins Kamm, sie lachten ihn aus, und Lucius machte die Finte nach rechts und Vater ging nach links und schon fiel mehr Regen, und Lucius bückte sich unter Vaters Klinge, zum dreißigsten Mal, zum vierzigsten Mal, und da war längst ein Abdruck seiner linken Hand im Gras, denn man wich nicht und wirbelte nicht und schlenkerte nicht, sondern hielt die Bahn und hielt die Mensur, sonst war man ein Feigling, und Lucius stieß in der Seconda zu, und Vater griff seine Klinge.

      «Hopp!», schrie Vater. «In guardia! Cavation! Via!»

      Lucius cavierte, und Vater, und Lucius, und Vater wieder, und dann die Quarta, Lucy, sagten die Schwestern, Lucy lernt die Passata seit Wochen, nichts als die Passata, gewiss ist er dumm, denn Vater drillt ihn wie einen Hund, und bald passt


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