Die Orbit-Organisation. Anne M. SchüllerЧитать онлайн книгу.
oder Hölle? Die Verschmelzung von KI und MI
Menschliche Intelligenz (MI) kann durch einen ungeheuren Variantenreichtum punkten. Unter anderem gibt es die logische, sprachliche, musikalische, räumliche, somatische und emotionale Intelligenz. Um uns zukunftsfit zu machen, müssen wir nun noch rasch zwei neue Intelligenzen entwickeln:
Ist das erlernbar? Ja, natürlich. Durch fortwährendes Üben. Ab 50 lernt man nichts mehr? Pah! Unser Gehirn ist eine lebenslange Baustelle, die Wissenschaft nennt das Neuroplastizität. Durch ausreichendes Wiederholen entwickeln sich Automatismen, die vom Bewussten ins Unterbewusste, den sogenannten Autopiloten, rutschen. Hierdurch werden Abläufe routinierter, gewandter und wirkungsvoller. Was menschenmöglich ist, erweitern wir, seitdem es uns Menschen gibt. Die Evolution favorisiert ehrgeiziges Leben, das sich an die jeweiligen Umstände aktiv anpassen kann.
Bedeutsam ist zudem die auf den Persönlichkeitspsychologen Raymond Bernard Cattell zurückgehende Unterscheidung zwischen fluider und kristalliner Intelligenz. Fluide Intelligenz umfasst Fähigkeiten wie schnelle Auffassungsgabe, bewegliches Handeln und das Hervorbringen origineller Problemlösungen. Die fluide Intelligenz nimmt tendenziell mit dem Alter ein wenig ab. Die kristalline Intelligenz hingegen nimmt zu. Zu ihr gehören ein breites Wissen, durch Erfahrung genährte Intuition und der Blick für Zusammenhänge. Fluide und kristalline Intelligenzen werden in Unternehmen gebraucht. Sie müssen miteinander verknüpft werden und zusammenwirken.
Und künstliche Intelligenz? Wenn es um Effizienz, Schnelligkeit, große Stückzahlen, Informationsberge, niedrige Kosten, reine Routinen und / oder das Bewältigen repetitiver, anstrengender, schmutziger, ungesunder und gefährlicher Arbeiten geht, liegt sie vorn. In ziemlich allen Belangen der Wissensarbeit wird sie uns bald haushoch überlegen sein. Sie lernt irre flott, weil sie auf riesige Datenmengen zugreifen, diese in Bruchteilen von Sekunden verarbeiten und alles miteinander vernetzen kann. Sie braucht höchstens Stunden da, wo Menschen Wochen, Monate, Jahre brauchen.
Selbstlernende Softwareprogramme können nicht nur von sich aus intelligenter werden, sie sind längst auch kreativ. Einige beginnen bereits, autonom nach Betätigungsfeldern zu suchen, weil man ihnen Belohnungsprogramme eingepflanzt hat. Sie bringen sich selbst etwas bei. Sie können Geschichten schreiben, Symphonien komponieren, eigene Kunstwerke erschaffen, Emotionen interpretieren und scheinbar Mitgefühl zeigen. Zu Gruppen zusammengeschlossen, entwickeln sie Schwarmintelligenz. KI kann sich selbst programmieren und sich replizieren, also selbstständig neue Intelligenzen gebären. Dabei bildet sie keine menschliche Intelligenz nach, sondern geht eigene Wege, die die Entwickler heute zum Teil noch nicht verstehen – was in der Tat beunruhigend ist. Die Menschen lernten allerdings auch nicht fliegen, indem sie den Flügelschlag der Vögel kopierten, sondern weil es ihnen gelang, die Gesetze der Aerodynamik zu beherrschen.
KI braucht einen ethischen Rahmen und KI-Sicherheit.
Schon heute kann KI zigtausend Dinge tun, die im unternehmerischen Alltag wertvoll sind und die qualitative Arbeit der Mitarbeiter unterstützen, unter anderem Prozesse optimieren, Interaktionen automatisieren, Wahrscheinlichkeiten algorithmieren, Vorhersagen treffen. Algorithmen sind immer dann die bessere Wahl, wenn es darum geht, eine komplizierte Aufgabenstellung zu lösen, wie etwa diese: Welche der 500 Varianten ist die beste für Szenario A oder B? Menschen hingegen sind genau dann gefragt, wenn es kontextbezogene frische Herangehensweisen braucht, die man auch mit einer Fülle von Daten nicht »berechnen« kann. Ideen mit Charakter sozusagen.
Im Unterschied zur einstigen Verarbeitung von Vergangenheitsdaten schaut KI mithilfe von Echtzeitdaten in die Zukunft. Sie ist eine Meisterin der Prognose. Jedes Mal, wenn jemand mit Siri, Alexa oder Cortana redet, trainiert er eine künstliche Intelligenz. Folgen wir den Vorschlagsalgorithmen von Google, Amazon & Co., machen wir diese schlauer. Wenn Sie mit IBMs Watson interagieren, lernt der nicht nur selbst, sondern auch von und mit Ihnen. Und wenn er Lungenkrebs zwei Jahre früher und um 50 Prozent treffsicherer erkennt als ein menschlicher Arzt, wem vertrauen Sie dann?
Infolge des Wandels werden Arbeitsplätze verschwinden, das war in der Vergangenheit auch schon immer der Fall. Vielen alten Jobs trauern wir nicht hinterher. Manche Jobs werden sich umfassend verändern. Zudem werden viele neue Berufsbilder entstehen. Künstliche Coworker müssen programmiert, betreut, trainiert und vor Angriffen geschützt werden. Nur die wenig Qualifizierten arbeiten diesen als Handlanger zu. Gut bezahlt werden hingegen in Zukunft sowohl die, die künstliche Intelligenzen zur Hochform auflaufen lassen, als auch die, die mehr können als das, was Software kann.
Künstliche Intelligenzen sind Spezialisten. Menschen hingegen sind Generalisten. Sie punkten mit Humor, Empathie, Instinkten, Impulsivität, Spiritualität, mit dem Spiel der Sinne, mit Fingerspitzengefühl, Improvisationstalent, Verhandlungsgeschick, gesundem Menschenverstand. Und mit der Lust am Sozialen, mit dem, was der Anthropologe Lionel Tiger »Sociopleasure« nennt. Wer auf solchen Gebieten gut ist und sich ständig weiterentwickelt, ist im Digitalzeitalter vorn. Die neuen Berufe haben vor allem mit Innovieren, Adaptieren, Kombinieren, Experimentieren, Koordinieren, Kollaborieren, Flexibilisieren, Individualisieren und Emotionalisieren zu tun. Sie verlangen Wandlungsvermögen und, ganz besonders wichtig:
Gespür sowohl für die Menschen als auch für die neueste Technologie.
»Wenn künstliche Intelligenz unsere Aufgaben übernimmt, wird Menschlichkeit unser neues Alleinstellungsmerkmal«, sagt Miriam Meckel, Herausgeberin der Wirtschaftswoche, in einer ihrer Kolumnen. So sorgt KI nicht nur für Fortschritt. Sie schafft auch Freiraum, damit man sich im Unternehmen auf das Wesentliche konzentrieren kann: die Arbeit am Kunden.
Das Nonplusultra: Dezentrale Intelligenz und die Weisheit der Vielen
Das MIT Center for Collective Intelligence und viele andere Forschungseinrichtungen haben anhand von Untersuchungen immer wieder gezeigt: Zwar ist die Intelligenz einzelner Mitglieder einer Gruppe von Bedeutung, wenn es um Ergebnisse geht, die kollektive Intelligenz spielt jedoch eine noch viel größere Rolle. Wir favorisieren hierbei den Begriff der »Weisheit der Vielen«. Darunter versteht man eine sich mehr oder weniger selbst organisierende gemeinschaftliche Intelligenz, die jenseits von Administration und Bürokratie eine Vielfalt von Innovationen hervorbringen kann. Wenn genügend kluge Köpfe zusammenkommen, lässt sich jedes Problem lösen. Gemeinsam gelingt es am besten, Ideen zu entwickeln, die zuvor noch niemand hatte und auf die man allein nicht gekommen wäre.
Wenn genug kluge Köpfe zusammenkommen, lässt sich jedes Problem lösen.
Einen zweiten gebräuchlichen Terminus, den der Schwarmintelligenz, nutzen wir nicht, denn leider gibt es ja auch sehr dumme, lärmende, fehlgeleitete Schwärme. So erzeugen Obrigkeiten über Macht, Angst, Gängelei und Kontrolle den supergefährlichen blinden Gehorsam. Wer einfach die Regeln befolgt und tut, was ihm via Dienstanweisung gesagt wird, hat eben nichts zu befürchten. Entscheidungsmonopole und Dauerbefehle von oben, verbunden mit Wissensdefiziten, Opportunismus und Konformität, machen jede Organisation »schwarmdumm« (Gunter Dueck). Und das wiederum führt ins Aus – und nicht in die Zukunft.
Bereits 2004 hat der Soziologe James Surowiecki in seinem Weltbestseller Die Weisheit der Vielen anhand vieler Beispiele gezeigt, dass eine Gruppe in aller Regel »klüger ist als ihr gescheitestes Mitglied«7. So steigt zum Beispiel die Innovationskraft mit der Anzahl gleichberechtigt involvierter Personen, sofern die Gruppe inhomogen ist und ihr Wissen wertschätzend teilt. Wieso inhomogen? Homogene Gruppen,