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Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.

Zwischen den Rassen - Heinrich Mann


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      Die Großmama breitete die Arme aus, Lola aber lief, ohne ihrer zu achten, um sie herum: „Pai! Pai!“ — in sein Zimmer, in das Wohngemach, in den Garten: „Pai! Pai!“ Sie kehrte von ihrer vergeblichen Runde wieder.

      „Wo ist Pai?“

      Die Großmama bedeutete ihr etwas, Lola wusste wohl, was, aber sie glaubte ihr nicht. Einer der Onkel kam, die Magd ward gerufen, und alle wiederholten dasselbe. Lola schüttelte nicht mehr den Kopf, aber ihre Meinung stand fest. Zuletzt erschien der lustige Onkel und wünschte ihr Guten Tag in ihrer Sprache. Immer die zwei Worte, die er sich einst von Pai hatte ins Ohr sagen lassen. „Dummer Papagei,“ dachte sie, und sie verlangte fort.

      Sie spähte in jedes Haustor, zerrte ihre Begleiterin in die Läden, die sie mit Pai besucht hatte, und auf einem leeren Platz, wo es wehte, blieb sie stehen und rief flehentlich „Pai!“ Keins der trägen Fenster öffnete sich; es fror Lola bitterlich; und die Magd zog sie fort.

      Aber für das bunte Buch war sie nicht mehr zu haben, nicht mehr für den Garten und kaum noch für das Reh. Sie sah jeden mit Misstrauen an, der ein Wort zu ihr sprach: eins dieser unverständlichen Worte, deren Geräusch um sie her war. Zu Fräulein Erneste sagte sie: „das ist nicht wahr,“ obwohl sie gar nicht wusste, was das Fräulein gemeint hatte; bei Berührungen brach sie in Geschrei aus; und ihr Drang war immer: auf die Straße, durch die Stadt, und in die Häuser spähen. Sie schrie, bis das Fräulein ängstlich ward und sie hinausließ. Das dauerte mehrere Tage.

      Dann wich Lolas Glaube. Sie hatte gewiss in jedem Winkel nachgesehen und überall ihr „Pai!“ gerufen. So wollte Pai sie wohl nicht hören, oder er war wirklich fort. Ja, er war fort: die Leute hatten recht. Aber dann hatte Pai selbst sie verraten und unter diesen Fremden zurückgelassen. Wem also war noch zu trauen? Scheu sah das Kind sich um. In diesen Tagen brach ein Gewitter aus; und Lola — wie hatte sie daheim zu urweltlichen Unwettern gejauchzt! — ward von jedem dieser Blitze in eine andere Zimmerecke gescheucht: bleich und mit geschlossenen Lippen; denn niemandes Hilfe wusste sie anzurufen.

      Ward Lola jetzt um ihr Lied gebeten, schüttelte sie, mürrisch und verlegen, die Schultern. Auch sprach sie nicht mehr; und sie dachte ganz Ungewöhnliches. „Ich werde vielleicht sehr krank werden und kann dann niemandem sagen, wo es weh tut, und muss immer so schreien, wie damals der Neger schrie, der ein Loch im Magen hatte.“ Wenn sie allein im Zimmer war und mit sich selbst und ihren Puppen plauderte, musste sie manchmal lauschen: so seltsam klein und allein klang ihr die eigene Stimme; — und sie fühlte es plötzlich, tief in ihrem erschauernden Herzen, es gäbe im Hause und in der ganzen Stadt und auf allen Straßen die hinausführten, keinen Menschen, der, wie die daheim, zu ihr sagen könne: „Meine kleine Lola, meine liebe kleine Lola.“ Sie flüsterte die ersehnten Worte vor sich hin und sah dabei ihre Puppen an. Da bemerkte sie, dass auch die Puppen sie ihr nie sagen und, was sie ihnen vorplauderte, nie verstehen würden: waren doch auch sie aus diesem fremden Lande. Sie schob sie weg. Und selbst das Reh! Daheim gab es kein solches Tier, und es wusste nichts von Lola. „Hörst du denn nicht?“ bat sie, mit Tränen. „Reh! Reh!“ Aber das Reh sah sie fremd an.

      Lola war allein.

      Am Sonntag ward sie wieder zur Großmama gebracht. Sie benahm sich scheu und verdrossen; man verlor endlich die Geduld und überließ sie nach dem Essen sich selbst. Unzufrieden, weil niemand mehr sich um sie bekümmerte, drückte sie sich im Garten umher. Wie es kalt war in diesem Lande! Ängstlich und feindselig sah sie zu den grauen Wolken hinauf, die herabdrohten. Der Pavillon, der sie am ersten Tage versteckt hatte, damals, als sie schon vorausgeahnt hatte, Pai werde sie allein lassen: heute stand er offen, und Lola betrat ihn. Es waren wunderliche alte Möbel darin; sie bemühte sich, einen Wandschrank zu öffnen: — da geschah ein Poltern unter ihr. Sie fuhr zusammen. Es polterte stärker, es schlug sogar gegen den Boden, auf dem sie stand. Erstarrt, horchte sie. Ein furchtbarer Krach: nun drang es gleich zu ihr ein; und Lola schrie los, mit allen Kräften höchster Not:

      „Der Teufel! Der Teufel!“

      Sofort hörte das Poltern auf, und im nächsten Augenblick stand in der Tür der lustige Onkel, ganz bleich, und blickte Lola zornig an. Sie schrie, zu ihrer Rechtfertigung und aus Eigensinn, noch einmal: „Der Teufel!“ Da stürzte aber der Onkel auf sie zu und legte sie über sein Knie . . . Und nachdem Lola dies durchgemacht hatte, war es ihr viel leichter und sanfter. Der Onkel nahm sie bei der Hand und führte sie in das Kellergewölbe, unter dem Gartenhaus. Er zeigte ihr, wie er Holz gehackt habe, und wie die geschwungene Axt manchmal gegen die niedrige Decke gestoßen sei. Was er dazu redete, hatte einen guten, tröstlichen Ton; — und Lola ward betroffen und sehr nachdenklich. Denn es war klar, dass dies gegen alle ihre bisherigen Erfahrungen ging. Wenn daheim aus dem Urwald heraus irgendeine ungewohnte Stimme erscholl, lief es bei den Schwarzen von Mund zu Mund: „Der Teufel“; und blinzelte irgendwo ein Licht, das niemand kannte, ward geraunt: „Der Teufel“. Als der Onkel Holz hackte, hätte die schwarze Anna nur bei Lola sein sollen: ganz sicher würde sie gewimmert haben: „Der Teufel“. Er war es also nicht? Wenigstens nicht immer? Das war tröstlich, und der Onkel war gut, dass er Lola dies gelehrt hatte. Sie lächelte ihm zu. Sie hatte auf einmal alle Menschen lieber, ging ins Zimmer, umarmte die Großmama und klatschte in die Hände bei dem Gedanken, dass sie auch dem Fräulein Erneste etwas recht Liebes antun wolle. Eifrig verglich sie im Innern die schwarze Anna mit Fräulein Erneste und wunderte sich, wie viel näher ihr Erneste sei. Die schwarze Anna war dumm, mit ihrem Teufel; Lola schämte sich ihrer ein wenig. Wie sie nach Haus kam, stellte sie sich vor Erneste hin, sammelte sich und sagte zutraulich:

      „Ast, Boot, Reh, Erneste.“

      Dabei lächelte sie entschuldigend, denn für ein achtjähriges Mädchen war dies natürlich kindisch; aber was sollte sie sagen? Erneste verstand Lola; vor Rührung bekam sie ein bekümmertes Gesicht und Tränen in die Augen.

      Einige Wochen später schlug sie Lola vor, einen Brief an Pai zu schreiben.

      „Schreibe in deiner Sprache.“

      Lola tat es; aber sie fügte mit Genugtuung eine Anzahl ihrer deutschen Wörter hinein: alle waren in einem Brief schon nicht mehr unterzubringen. Die Antwort kam. Auch Herr Gabriel hatte auf Portugiesisch geschrieben; nur am Schluss stand der Satz: „Ich habe dich lieb“; und diese Worte, die er noch nie in seiner eigenen Sprache hatte äußern dürfen, waren von ihm mit einer Süßigkeit erfüllt worden, die Lolas schwache Hände noch nicht herauspressen konnten. Erneste sah diese Zeilen lange an und sagte dann:

      „Bewahre den Brief gut auf, Kind.“

      Den nächsten schrieb Lola — sie war vier Monate bei Erneste — ganz deutsch, und ihr Vater antwortete ebenso. Inzwischen aber war ein Brief angekommen; Lola wusste nicht gleich, wer ihn abgeschickt habe. Sie war sehr gespannt.

      „Ah!“

      „Nun?“ fragte Erneste.

      „Von Mai!“ — und sie betrachtete ihn angestrengt.

      „Was schreibt dir deine Mama?“

      „Ja, ja“, machte Lola, und: „Gleich komme ich wieder.“

      Sie lief ins Schlafzimmer und buchstabierte. Mais Schrift sah Lola zum ersten Mal; die schöne Mai lag immer nur in der Hängematte. Wie musste sie Lola lieb haben, dass sie ihr schrieb! Lola küsste den Brief. Dann versuchte sie es nochmals: nein; wirklich, sie verstand nichts, oder nur hier und da ein paar Worte. „Mai, Mai“, stammelte sie, und plötzlich weinte sie. Kleinlaut berichtete sie später Erneste:

      „Jetzt ist es sehr heiß in Rio, schreibt Mai, und hier ist es so kalt.“

      Tags darauf wusste sie:

      „Nene war krank und ist nun wieder gesund.“

      Sie las immer in dem Brief; er hatte schon Risse, Fettflecke und Tränenspuren. Eines Morgens beim Erwachen fand Lola ihr Händchen hoch in der Luft. Im Traum hatte sie’s nach einer Frucht ausgestreckt, die Mai ihr hinhielt, — und zog es nun leer zurück. Noch sah sie Mais Gesicht: und da verstand sie plötzlich einige von Mais Worten in ihrem Brief. Schon war


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