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Der Untertan. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.

Der Untertan - Heinrich Mann


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nahm er einen neuen Anlauf. „Das kommt aber alles, weil jeder mich jetzt zu Hause findet. Immer muss ich deinetwegen auf der Bude hocken!“

      Agnes sagte schüchtern: „Wir haben uns schon sechs Tage nicht gesehen. Sonntag bist du wieder nicht gekommen. Ich fürchte, du hast mich nicht mehr lieb.“ Er blieb vor ihr stehen. Von oben herab: „Mein liebes Kind, dass ich dich liebhabe, brauch’ ich dir wohl wirklich nicht mehr zu versichern. Aber eine andere Frage ist es, ob ich darum auch Lust habe, jeden Sonntag deinen Tanten beim Häkeln zuzusehen und mit deinem Vater über Politik zu reden, wovon er nichts versteht.“ Agnes senkte den Kopf. „Früher war es so schön. Du standest dich schon so gut mit Papa.“ Diederich drehte ihr den Rücken zu und sah aus dem Fenster. Das war es eben: er fürchtete zu gut zu stehen mit Herrn Göppel. Durch seinen Buchhalter, den alten Sötbier, wusste er, dass Göppels Geschäft bergab ging. Seine Zellulose taugte nichts mehr, Sötbier bezog sie nicht mehr von ihm. Da wäre ein Schwiegersohn wie Diederich ihm freilich gelegen gekommen. Diederich fühlte sich umgarnt von diesen Leuten. Auch von Agnes! Er hatte sie im Verdacht, mit dem Alten zusammenzustecken. Entrüstet wandte er sich ihr wieder zu. „Und dann, liebes Kind, ehrlich gestanden: was wir beide tun, nicht wahr, das ist unsere Sache, aber deinen Vater lassen wir lieber aus dem Spiel. Beziehungen wie die unseren soll man mit Familienfreundschaft nicht verquicken. Mein sittliches Gefühl verlangt da reinliche Scheidung.“

      Ein Augenblick verging, dann stand Agnes auf, als habe sie jetzt begriffen. Sie war tief errötet. Sie ging zur Tür. Diederich holte sie ein. „Aber Agnes, so hab’ ich es doch nicht gemeint. Es war doch nur, weil ich dich viel zu sehr achte –. Und ich kann ja auch wiederkommen Sonntag.“ Sie ließ ihn reden, mit unbewegter Miene. „Nun sei doch wieder gemütlich“, bat er. „Du hast noch nicht mal deinen Hut abgenommen.“ Sie tat es. Er verlangte, sie solle sich auf den Diwan setzen, und sie setzte sich. Sie küsste ihn auch, wie er es wollte. Aber indes ihre Lippen lächelten und küssten, blieben ihre Augen starr und unbeteiligt. Plötzlich riss sie ihn in ihre Arme: er erschrak, er wusste nicht, ob es Hass war. Aber dann fühlte er sich heißer geliebt als je.

      „Heute war es aber wirklich schön. Was, meine kleine süße Agnes?“ sagte Diederich, zufrieden und gutmütig.

      „Adieu“, sagte sie, hastend nach Schirm und Beutel, während er sich erst ankleidete.

      „Du hast es aber eilig.“ – „Weiter kann ich wohl nichts für dich tun.“ Sie war schon bei der Tür – plötzlich fiel sie mit der Schulter gegen den Pfosten und rührte sich nicht mehr. „Was ist denn los?“ Wie Diederich näher kam, sah er sie schluchzen. Er berührte sie. „Ja, was hast du denn?“ Da ward ihr Weinen laut und krampfhaft. Es hörte nicht auf. „Aber Agnes,“ sagte Diederich von Zeit zu Zeit, „was ist auf einmal geschehen, wir waren doch so vergnügt.“ Und ganz ratlos: „Hab’ ich dir was getan?“ Zwischen den Krisen und halb erstickt, brachte sie hervor: „Ich kann nicht. Entschuldige.“ Er trug sie auf den Diwan. Als es endlich vorbei war, schämte Agnes sich. „Verzeih! Ich kann nicht dafür.“ – „Kann denn ich dafür?“ – „Nein, nein. Es sind die Nerven. Verzeih!“

      Mitleidig und geduldig brachte er sie bis zu einem Wagen. Nachträglich aber erschien ihm auch der Anfall als halbe Komödie und als eins der Mittel, die ihn endgültig einfangen sollten. Das Gefühl verließ ihn nicht mehr, dass Ränke gesponnen wurden gegen seine Freiheit und seine Zukunft. Er wehrte sich dagegen vermittels schroffen Auftretens, Betonung seiner männlichen Selbständigkeit und durch Kälte, sobald die Stimmung weich ward. Sonntags bei Göppels war er auf seiner Hut, wie in Feindesland: korrekt und unzugänglich. Wann seine Arbeit denn nun fertig werde? fragten sie. Er könne die Lösung morgen finden oder erst in zwei Jahren, das wisse er selbst nicht. Er betonte, dass er auch künftig finanziell abhängig von seiner Mutter bleibe. Er werde noch lange für nichts Zeit haben als einzig für das Geschäft. Und da Herr Göppel die idealen Werte des Lebens zu bedenken gab, lehnte Diederich barsch ab. „Noch gestern hab’ ich meinen Schiller verkauft. Denn ich habe keinen Sparren und lass’ mir nichts vormachen.“ Wenn er nach solchen Worten Agnes’ stummen und betrübten Blick auf sich fühlte, hatte er wohl einen Augenblick die Empfindung, als habe nicht er selbst gesprochen, als gehe er im Nebel, rede falsch und handle wider Willen. Aber das verging.

      Agnes kam, sooft er sie bestellte, und ging fort, wenn es Zeit für ihn war, zu arbeiten oder zu kneipen. Sie verführte ihn nicht mehr zu Träumereien vor Bildern, seit er einmal an einem Wurstgeschäft angehalten und ihr erklärt hatte, dass sei für ihn der schönste Kunstgenuss. Ihm selbst fiel es endlich auf das Herz, wie selten sie sich nur noch sahen. Er warf ihr vor, dass sie nicht darauf dringe, öfter zu kommen. „Früher warst du ganz anders.“ „Ich muss warten“, sagte sie. „Worauf?“ „Dass auch du wieder so wirst. Oh! Ich weiß ganz sicher, es wird kommen.“

      Er schwieg aus Furcht vor Auseinandersetzungen. Dennoch kam es, wie sie gesagt hatte. Seine Arbeit war endlich beendet und gutgeheißen, er hatte nur noch eine belanglose mündliche Prüfung zu bestehen und war in der gehobenen Stimmung einer Lebenswende. Wie Agnes ihm ihren Glückwunsch brachte und Rosen dazu, brach er in Tränen aus und sagte, dass er sie immer, immer liebhaben werde. Sie berichtete, dass Herr Göppel soeben eine mehrtägige Geschäftsreise antrete. „Und nun ist das Wetter so wunderschön ...“ Diederich fiel sofort ein: „Das müssen wir benutzen! Solche Gelegenheit haben wir noch nie gehabt!“ Sie beschlossen, aufs Land hinauszufahren. Agnes wusste von einem Ort namens Mittenwalde; es musste einsam dort sein und romantisch wie der Name. „Den ganzen Tag werden wir beisammen sein!“ – „Und die Nacht auch“, setzte Diederich hinzu.

      Schon der Bahnhof, von dem man abfuhr, war entlegen und der Zug ganz klein und altmodisch. Sie blieben allein in ihrem Wagen; es dunkelte langsam, der Schaffner zündete ihnen eine trübe Lampe an, und sie sahen, eng umschlungen, stumm und mit großen Augen hinaus in das flache, eintönige Ackerland. Da hinausgehen, zu Fuß, weit fort, und sich verlieren in der guten Dunkelheit! Bei einem Dorf mit einer Handvoll Häuser wären sie fast ausgestiegen. Der Schaffner holte sie jovial zurück; ob sie denn auf Stroh übernachten wollten. Und dann langten sie an. Das Wirtshaus hatte einen großen Hof, ein weites Gastzimmer mit Petroleumlampen unter der Balkendecke und einen biederen Wirt, der Agnes „gnädige Frau“ nannte und schlaue slawische Augen dazu machte. Sie waren voll heimlichen Einverständnisses und befangen. Nach dem Essen wären sie gern gleich hinaufgegangen, wagten es aber nicht und blätterten gehorsam in den Zeitschriften, die der Wirt ihnen hinlegte. Wie er den Rücken wandte, warfen sie einander einen Blick zu, und, husch, waren sie auf der Treppe. Noch war kein Licht im Zimmer, die Tür stand noch offen, und schon lagen sie einander in den Armen.

      Ganz früh am Morgen schien die Sonne herein. Im Hof drunten pickten Hühner und flatterten auf den Tisch vor der Laube. „Dort wollen wir frühstücken!“ Sie gingen hinab. Wie herrlich warm! Aus der Scheuer duftete es köstlich nach Heu. Kaffee und Brot schmeckten ihnen frischer als sonst. So frei war einem um das Herz, das ganze Leben stand offen. Stundenweit wollten sie gehen; der Wirt musste die Straßen und Dörfer nennen. Sie lobten freudig sein Haus und seine Betten. Sie seien wohl auf der Hochzeitsreise? „Stimmt“ – und sie lachten herzhaft.

      Die Pflastersteine der Hauptstraße streckten ihre Spitzen nach oben, und die Julisonne färbte sie bunt. Die Häuser waren höckrig, schief und so klein, dass die Straße zwischen ihnen sich ausnahm wie ein Feld mit Steinen. Die Glocke des Krämers klapperte lange hinter den Fremden her. Wenige Leute, halb städtisch gekleidet, schlichen durch den Schatten und wandten sich um nach Agnes und Diederich, die stolze Gesichter machten, denn sie waren die Elegantesten hier. Agnes entdeckte das Modengeschäft mit den Hüten der feinen Damen. „Nicht zu glauben! Das hat man in Berlin vor drei Jahren getragen!“ Dann traten sie durch ein Tor, das wacklig aussah, in das Land hinaus. Die Felder wurden gemäht. Der Himmel war blau und schwer, die Schwalben schwammen darin wie in trägem Wasser. Die Bauernhäuser dort drüben waren eingetaucht in heißes Flimmern, und ein Wald stand schwarz, mit blauen Wegen. Agnes und Diederich fassten sich bei den Händen, und ohne Verabredung fingen sie zu singen an: ein Lied für wandernde Kinder, das sie noch aus der Schule kannten. Diederich machte seine Stimme tief, damit Agnes ihn bewundere. Als sie nicht weiter wussten, wandten sie einander die Gesichter zu und küssten sich, im Gehen.

      „Jetzt


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