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Novellen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.

Novellen - Heinrich Mann


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Bild war unbeweglich; unten versperrte es den Türgriff, man konnte nicht öffnen. Er drehte die Beleuchtung auf. Durch zwei kleine Löcher in der Tapete lief eine Schnur hin und zurück und in die Ringe am Rahmen. Er wollte einen der Knoten lösen: da war es keine Schnur, es waren viele Fäden, seltsam weich und zäh. Er riss; das Bild stürzte, und in der Hand hielt Cromer eine lange goldblonde Haarsträhne.

      Darauf sah er in das Gesicht der Toten. Er fragte: „Wozu dies, da es unmöglich ist. Wozu Rätsel aufgeben, die keine sein können . . .“ Dennoch zögerte sein Gedanke, nicht anders als sie, die Tote, dastand und zögerte. Sie hielt eine Hand, eine ihrer vielsagenden Hände am Saum eines Vorhanges, den sie nicht öffnete. Den Kopf verheißend zur Schulter geneigt, die Augen so wissend in ihrer Umschattung, und dieses Lächeln der gelösten Lippen, — aber sie öffnete nicht den Vorhang. Er zuckte die Achseln. Die Haarsträhne ließ er nochmals sachlich durch die Finger gleiten, dann warf er sie zu dem Bild. Mochten es Frauenhaare sein, so waren es doch nicht ihre. Er hatte sich keine von ihr zurückbehalten, er war weit davon entfernt gewesen. Sein Diener, ein eifriger Mensch, hatte in der kurzen Zeit seines Hierseins schon mehrere Zeichen von Selbständigkeit gegeben. „Er hat es richtig gefunden, mich mit dieser Neuerung zu überraschen. Die Art der. Befestigung ist auffallend. Immerhin ist er jung und offenbar romantisch. Ich werde ihn auffordern müssen, es weniger zu sein.“ Er wollte läuten, zog aber die Hand zurück. „Bin ich denn neugierig? Welchen Zweck hätte es, in der Nacht ein Gespräch vor diesem Bild zu führen?“ Er zuckte die Achseln, stärker als das erste Mal, und ging ernstlich schlafen.

      II.

      Gleich beim Eintritt sah der Diener das Bild, das am Boden lehnte. Er stutzte, sein eifriges, blondes Gesicht erschrak, und er schien dem Bilde seine Missbilligung auszudrücken, weil es seinen ordentlichen Platz verlassen hatte. „Er müsste schon ein guter Komödiant sein,“ dachte Cromer, „sonst ist er eine wohlgeratene Dienerseele.“ Er sagte: „Philipp, Sie bringen mir den Tee ohne die Schürze, die Sie anhaben.“ Der junge Mensch betrachtete seine Schürze, blinzelte mit seinen geröteten Lidern und erwiderte: „Beim Herrn Grafen von Alten kam ich in der Schürze.“ Nein, er verstellte sich nicht, die natürliche Erklärung des Vorfalles schien misslungen. Aber Cromer fühlte nicht das Bedürfnis, eine fernerliegende zu suchen. Auf der Fahrt zur Stadt verlor er die Sache aus dem Gesicht.

      Warum war er dennoch gegen Abend wieder draußen? Er versäumte sogar eine Verabredung zum Essen. Leichter Kopfschmerz? Ruhebedürfnis? Gewiss; darum schien es aber nicht nötig, den Garten zu durcheilen, als wartete Jemand. Es war noch hell, Haus, Wege und Terrasse lagen nackt und klar unter blauem Himmel. Im Zimmer an der Tapetentür — nein, nichts, ganz selbstverständlich nichts. Aber wenn begreiflicherweise niemand und nichts auf ihn gewartet hatte, blieb doch zu bemerken, dass er selbst nicht frei von Spannung gewesen war — und vielleicht nicht frei von Hoffnung? „Wäre es mehr als Kinderei, wenn ich etwas zu erleben wünschte, was eine Fortsetzung des gestern Erlebten wäre? . . . Ach! Das Beunruhigende ist keineswegs, dass ein Bild ohne erkennbaren Grund den Platz gewechselt hat, sondern meine gleichzeitigen Gedanken. Indes sie kam, fühlte ich sie kommen,“ sagte er halblaut und mit Kopfschütteln. „Anderen soll ein Sterbender von fern sich ankündigen, wenn sie ihn nur genug liebten. Ich habe eine bevorstehende Rückkehr geahnt.“ Denn es lag in ihm, trotz seinem besseren Wissen, als hätte er ihre Spur berührt und von ihrem sich wieder belebenden Schatten ein Zeichen erhalten. Das bessere Wissen sagte: „Vorgefühl und Gesichte heißen mit ihren ehrlichen Namen Sehnsucht und Reue. Man lebt nicht ungestraft ein illusionsloses und ungläubiges Leben — nicht ungestraft, wenn man weder einen leichten Kopf noch ein stumpfes Herz hat. Der Augenblick ist wohl gekommen, wo ein Wesen mir nicht unwillkommen wäre, das ich verachtet und verworfen hatte.“

      Er stand vom Stuhl auf, er wiederholte sich sein Geständnis am anderen Ende des Zimmers, als müsste es dort anders klingen. Aber er vernahm nur immer den Zweifel, ob es denn nötig war, dass sie starb. Da hielt er schon das lederne Kästchen in Händen, mit ihren Briefen. Er las — und er fand es sonderbar, wieder ganz diesen Tonfall zu hören, als sei er erst gestern ausgeklungen. Angesichts ihrer großen, raschen Schrift traten einem unverhofft die wechselnden Mienen ihres im Ausdruck geübten Gesichtes wieder vor Augen. Alle ihre früheren Mitteilungen waren offen, ohne Rückhalt, und glichen so wenig diesen letzten, andeutungsvollen, fieberhaften. Von dem ganzen Gastspiel nur der eine Brief — und aus ihm bebte die Hast des Zusammenraffens von Ruhm, Geld, Lebensgefühl. Feststimmung jeden Abend, nach dem zweiten ihr Kontrakt verlängert, ihr Auto vor dem Bühneneingang immer umlagert. Den Erfolgen entsprachen die Huldigungen, und des Nachts hieß es, Rollen lernen. Jagd des Vergnügens, Jagd der Arbeit, nie schnell genug, nie ergiebig genug — aber mitten darin etwas wie ein Atemstocken, verhaltenes Erschrecken: es ist nicht mehr weit . . . „Wie lange soll dies alles noch dauern?“ fragte sie. „Manchmal habe ich es satt zum Sterben — und sehne mich nach etwas, das kein Erfolg wäre, kein Triumphieren, o, durchaus kein Triumphieren! Es muss Dinge geben, die stärker sind als unser Wille: hier, gestern, bin ich zum ersten Mal darauf gestoßen worden; kann sein, dass ich noch mehr erfahre, etwas wie eine Niederlage; denn Erlebnisse, die wir weder beherrschen, noch verstehen, sind doch Niederlagen?“

      Welch tiefinnere Überreiztheit, diese verderbte Neugier nach der Selbstaufgabe! Cromer ward gequält davon, wie damals, beim ersten Lesen. Er sah lange durch die offene Gartentür hinaus in die grau dämmernde Luft. Als er zu dem Brief zurückkehrte, ließ sich im Zimmer nur schwer noch lesen. Er entzifferte: „Der Herr, der mich auf diese Gedanken gebracht hat, scheint an sich selbst nicht sehr empfehlenswert. Er sieht aus wie . . .“ Hier ward das Blatt geknickt von einem Luftzug, der so plötzlich einsetzte, als sei auch die Tür im Hintergrund geöffnet worden. Sie stand offen; Cromer, der niemand eintreten sah, tat eine raschere Bewegung, sein Stuhl fiel um. „So finde ich doch Menschen hier?“ sagte eine Stimme, — und von der Farbe des Schattens und schlecht aus ihm herausgelöst, zeigte sich eine Gestalt, die auf hohen Beinen einen kaum erkennbaren Körper fortbewegte. Zwei lange Schleichschritte, ein zuckendes Anhalten, und wieder ein Anlauf, mit Verbeugungen über jeden Schritt des linken oder rechten Beins: so kam es herbei. Cromer, im unwillkürlichen Drang, es aufzuhalten, drehte die Tischlampe an; der grelle Schein fiel genau auf die Gestalt, da stand sie. Cromer sah einen großen und scharfen Kopf, der spöttisch grüßte, und, mit seinen Brillen funkelnd, sagte: „Ich komme wegen des Hauses. Es ist zu verkaufen.“ Und auf Cromers trockenes Nein: „Wie, nicht zu verkaufen? Man hätte mich falsch berichtet . . .? Oder, die Wahrheit zu sagen. —“ Der Besucher spreizte die Hand, mit einer bedeutsamen Rundung zwischen Daumen und Zeigefinger. „Vielleicht hat niemand mich berichtet. Nur meine Einbildung verhieß mir, dies Haus, abseits und verschollen“ . . . Er wiederholte: „Verschollen . . . Genug, ich ziehe mich zurück. Es war dunkel überall, kein Mensch trat mir entgegen, Verzeihung für mein Eindringen, ich bin . . .“ Er murmelte, sich abwendend, etwas wie einen Namen, wobei er den gefalteten Sommermantel wieder hinaufschob auf die Schulter, die höher schien als die andere. Dabei zögerte er und spähte die Wand hinan. Auch Cromer wendete sich hin — und er fuhr zurück, das Bild sah ihn an, ihr Bild, mit ihrem kühnen und lockenden Lächeln, an dem Vorhang, aus dem sie kam, oder in dem sie verschwinden sollte.

      „Ihnen ist unwohl?“ fragte der Besucher. Cromer fasste sich.

      „Nein.“ Seiner noch nicht sicher, setzte er hinzu: „Sie scheinen das Bild wiederzuerkennen?“

      „Nicht im geringsten.“ Der Besucher spreizte schon wieder bedeutsam die Hand. „Höchstens, dass es mich erinnert hat, an eine berühmte Schauspielerin, die ich kannte.“

      „Die Sie kannten.“

      „Will sagen, ich weiß nicht einmal, ob sie berühmt war. Ich bin kein Weltmann.“ Dabei lächelte er bescheiden und geistreich. „Aber es gibt Stunden, und eben Frauen, wie jene, die mir einmal begegnete, haben wohl solche Stunden, da spricht man zu einem Erstbesten, was man nicht einmal zu sich selbst sprechen würde — geschweige zu seinem Nächsten.“

      Hier schien sein Blick hinter den Gläsern den Tisch zu streifen, mit den Briefen darauf, ihren Briefen. „Wollen Sie sich nicht setzen?“ sagte Cromer.

      „Danke.


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