TEXT + KRITIK 230 - Loriot. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
außerhalb des deutschsprachigen Raums noch immer keinen Anklang findet und etwa französische Schulklassen konsterniert zurücklässt. Auch Details seiner Sprachkunst bedürften weiterer Untersuchung ebenso wie Loriot als Autor von Schrifttexten. Zu fragen wäre, wie subversiv eigentlich sein Geschlechterbild ist, wenn man ihn gleichzeitig für einen Kritiker von Hetero-Normen4 und einen Gewährsmann für die Güte traditionell-ungleicher Rollenverteilung halten kann.5 In diesem Sinn kann man sich zukünftig eine intensivere wissenschaftliche Landschaftspflege in Loriots Garten wünschen als bisher.
Die Loriot-Landschaft, in die uns sein Titelporträt einlädt, zeigt sich demnach vielgestaltig. Wichtige Landmarken sind jedoch aus vielen Perspektiven zu erkennen: Seine Komik entsteht oft im Kollaps des Regelkanons von Benimm und Biedermeier. Der bürgerliche Bürgerversteher Loriot setzt auf Zitat und Hochkultur und gönnt seinesgleichen den Genuss, die Welt der schönen Kunst niemals aus-, immer wieder aber im Modus des Connaisseurs, der Connaisseuse anzulachen. Mops und Steinlaus, Lametta und Jodeldiplom treffen einen offenbar zeitlosen Humornerv und sind erstaunlicherweise auch noch Menschen geläufig, die so jung sind, dass sie als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vielleicht gerade noch Loriots 70. oder 80. Geburtstag zur Kenntnis nehmen konnten.
So geschieht es bis heute, dass ein gescheiterter Dialog zwischen den eigenen Eltern, eine wohlplatzierte Interjektion wie »Ach was!?« oder eine ironische Alltagsgeste in stillem oder euphorischem Einverständnis zwei Menschen verbindet, die feststellen: »Das ist doch wie bei Loriot.« Nicht selten schließt sich an diese Erkenntnis ein Rezitations-Duett oder -Duell (je nachdem) aus jenen Zitaten und Gesten an, die bis heute im Gedächtnis so vieler präsent sind. Die Herausgeberinnen fordern Sie dazu auf, Ihren eigenen Fundus zu bemühen, um mit den Worten von Opa Hoppenstedt, Frau Blöhmann, Heinrich Lohse, Wum und Wendelin, Herrn Doktor Klöbner, Frau Tietze, Herrn Meckelreiter oder einer anderen zeitlosen Figur diesem Band ein Motto zu geben.
»………………………………………..« Loriot
1 Wolfgang Hildesheimer: »Nackte Frau auf Bratenplatte. Wolfgang Hildesheimer über: ›Loriots heile Welt‹«, in: »Der Spiegel« 19 (1973), S. 169. — 2 Ebd. — 3 Vgl. die Auswahlbibliografie bei Stefan Neumann: »Loriot und die Hochkomik. Leben, Werk und Wirken Vicco von Bülows«, Trier 2011, S. 429–440. — 4 Vgl. Michel op den Platz: »›Männer sind … Und Frauen auch … Überleg dir das mal!‹ Wider die heteronormative Lesart von Geschlechterbildern im Werk Loriots«, Würzburg 2016. — 5 Vgl. Jean-Martin Büttner: »Sagen Sie jetzt nichts«, in: https://www.tagesanzeiger.ch/bitte-sagen-sie-jetzt-nichts-762313432024 (11.12.2020).
Christoph Classen
Lachen nach dem Luftschutzkeller Loriot in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft
»… es muß in der Bundesrepublik bestürzen,
daß der deutsche Humor, als Qualitätserzeugnis
einst auf dem Weltmarkt führend, heute kaum
0,02 Prozent der Exportquote ausmacht …«
Loriot1
Das mehrbändige autobiografische Romanwerk des Schauspielers und Schriftstellers Joachim Meyerhoff ist nicht zuletzt ein bisweilen sehr komisches Sittengemälde der alten Bundesrepublik. Der zweite Teil handelt von der Kindheit und Jugend des Autors in den 1970er und 1980er Jahren. Hier findet sich die Episode vom Kanarienvogel der Familie, dem sein Bruder mühevoll mit Hilfe eines Kassettenrecorders den Satz »Ich heiße Erwin Lindemann« beigebracht hatte. Als der Vogel eines Tages entflog, war aus einem hohen Baum leise, aber unablässig zu vernehmen: »Ich heiße Erwin Lindemann, ich heiße Erwin Lindemann, ich heiße Erwin Lindemann …«.2 Diese Anekdote gleicht in ihrer Tragikomik jenem Fernsehsketch um den verwirrten Lottogewinner, den der Vogel zitiert. Vor allem aber zeugt sie von der Präsenz von Loriots Werk – und insbesondere seiner Fernseharbeiten – in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Nicht nur dieser Satz ist längst viel prominenter als der Film, auf dessen Titel er anspielt,3 viele Formulierungen und Namen aus Loriots Werken sind mittlerweile zu stehenden Redewendungen geworden: vom Nostalgie-spöttischen »Früher war mehr Lametta« bis zum Interesse heuchelnden »Ach was?!« – die Beispiele ließen sich fortsetzen.
Schon aus Gründen der Arbeitsersparnis könnte man daher geneigt sein, dem nonchalanten Diktum des Historikers Christoph Stölzl zuzustimmen: »Wenn man die Geschichte unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg schreiben will, kann man getrost auf die Tonnen bedruckten Papiers der Sozialforscher verzichten und sich Loriots gesammelten Werken zuwenden: Das sind wir, in Glanz und Elend«.4 Allerdings kann man die Frage eben auch umdrehen: Wie konnte Loriots Humor zu einem Signum der bundesdeutschen Geschichte werden? Zumal Stölzl selbst treffend anmerkt: »Die junge Bundesrepublik, schwankend zwischen Katzenjammer und Verdrängung, war eigentlich kein idealer Ort für Ironie«.5 Und das ist noch ein Euphemismus für die selbstbezogene Larmoyanz und grassierende Verantwortungsabwehr der Zusammenbruchsgesellschaft.
Die Frage stellt sich umso mehr, als den Deutschen traditionell vieles nachgesagt wird, etwa der Hang zu »Sekundärtugenden«, mit denen man, Oskar Lafontaines bösem (gegen Helmut Schmidt gerichteten) Diktum zufolge, »auch ein KZ betreiben« könne,6 aber gewiss keine Tendenz zu anarchischem Humor und Selbstironie. Letztere werden bekanntlich eher auf der britischen Insel verortet, zum Beispiel bei der Komikergruppe Monty Python, die solche Nationalklischees in ihrer etwa zeitgleich mit Loriots Fernseharbeiten in der BBC ausgestrahlten Show »Flying Circus« zum Thema gemacht hat: In ihrem Sketch »The Funniest Joke in the World« entwickeln die Briten während des Zweiten Weltkriegs als Waffe einen Witz, über den sich jeder (buchstäblich) totlacht, während die Deutschen mit ihrem in Peenemünde entwickelten »V-Joke« in England nur Befremden auslösen und daher den Krieg verlieren.7
Nun geben Nationalklischees zwar ein dankbares Feld für Satire ab, als Grundlage von Wissenschaft sind sie allerdings zu Recht aus der Mode gekommen. Will man also der Frage nach Loriots anscheinend bis heute ungebrochener Popularität nachgehen, dann bieten sich kultur- und sozialhistorische Zugänge an, insbesondere solche, die nach der Transformation der westdeutschen Gesellschaft nach 1945 fragen. In welche Diskurse hat er sich eingeschrieben, in welche gerade nicht? Dafür genügt es dann doch nicht, textimmanent zu arbeiten, auch wenn die Loriot-Gesamtausgabe, laut Axel Hacke, 1152 Seiten umfasst und 4,1 Kilogramm wiegt.8 Den Ausgangspunkt bildet vielmehr die Historiografie der Bundesrepublik. Das »bedruckte Papier« der »Sozialforscher« wird dafür also zwar nicht tonnen-, aber doch auszugsweise herangezogen werden müssen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Gemeint ist dabei hier dezidiert die ›alte‹ Bundesrepublik, also Westdeutschland von 1949 bis 1990. Zwar hatte Loriot auch in der DDR eine große Fangemeinde, und er hat als geborener Brandenburger die Verbreitung seiner Werke im Osten stets gefördert: Neben der Publikation seiner Zeichnungen im Eulenspiegel-Verlag