Wie sich das Bürgertum in Form hält. Joachim FischerЧитать онлайн книгу.
nicht notwendig verschwinden oder vernichtet werden muss, damit es die avancierte Moderne geben kann. Das ist grundsätzlich verschieden von der geschichtsphilosophischen These vom »Ende der Geschichte«, die das Ereignis 1989 zwar reaktionsschnell, aber – mit Hegel, Marx, Kojève – von einer vertrauten Notwendigkeitslogik der Geschichte her deutet2 (so wie umgekehrt die notorische marxistische Diagnostik des »Spätkapitalismus«). Die Gesellschaftsrevolution von 1989 war offensichtlich aber ein überraschender Anfang der Geschichte. Notwendig ist sie nicht, aber will die Sozialfigur des Bürgertums samt Gesellschafsformation andauern, muss sie sich offensichtlich notwendig machen – eben sich in Form halten. Wie sie das macht, ist der Beobachtung wert. Es lohnt, dem Bürgertum bei seinem speziellen Geschicklichkeits- und Krafttraining zuzuschauen (i. S. von theoria).
Setzt man also nicht geschichtsphilosophisch, sondern historisch-soziologisch an, dann ist es erhellend, wenn man auf die historische Autopoiesis des Bürgers durch die okzidentale Stadt sieht – um die gegenwärtige Epiphanie des Bürgers zu verstehen. Räumlich verankert ist der überraschende Wiederauftritt nämlich 1989 in der spektakulären Wiederbesetzung des konkreten Ortes – der okzidentalen Stadt als dem Ursprungsort des Bürgers. Die revolutionäre Wiederentdeckung der europäischen Stadt, die Wiedergeburt der Stadt »aus dem Geist des Marktplatzes« (K. Schlögel), die politisch-kulturelle Wiederaneignung der verödeten und verwüsteten alteuropäischen Stadtkerne und -plätze, in der die verfallenen, bröckelnden bürgerlichen Baukörper voreinander hindösten wie Aussätzige inmitten modernster sozialistischer Bauhaus-Ensembles und am Rande von sozialistischen Volkspalästen, ist das Anschauungsereignis der ost- und mitteleuropäischen Bürgerbewegungen gewesen. Und dieser revolutionäre Grundimpuls hat zu einer flächendeckenden, leitbildhaften Wiederentdeckung der »europäischen Stadt« insgesamt geführt. In ihr scheint sich die sich nun selbst anerkennende »bürgerliche Gesellschaft« gleichsam über ihren eigenen Ursprung zurückzubeugen, dessen Ortsgesicht sie im Zuge der selbst induzierten Beschleunigung und Metamorphosen zu erhalten ringt.
Diesen weltgeschichtlichen konkreten Ursprungsort des Sozialtypus Bürger hat niemand so scharf erkannt wie Max Weber, die Gründungsfigur einer historischen Soziologie der spezifisch europäischen und nordamerikanischen Moderne. Weber hat gesehen, dass es zur unwahrscheinlichen Emergenz einer solchen »bürgerlichen Gesellschaft« erstmals rudimentär in der »okzidentalen Stadt« des Mittelalters kam, in der schmalen Zone um die Burg des adligen Herrn herum, in dem schmalen Zivilisierungsstreifen zwischen der auf Krieg eingestellten Fortifikationsarchitektur und den verstreuten Gehöften des Bauernlandes.3 Der Kern von Webers Theorie der Moderne ist ja zunächst nicht die religionssoziologische These der Wahlverwandtschaft von Protestantismus und Kapitalismus, sondern historisch und logisch geht das von ihm konturierte, typisierte Phänomen der okzidentalen Stadt mit der unwahrscheinlichen Sozialfigur des Bürgers dieser Wahlverwandtschaft voraus. So weit ging Weber in seiner historischen Soziologie zurück, nur um seine Gegenwart, die Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts in ihrer Eigentlichkeit treffen zu können. Er hat gesehen, dass es in diesen mittelalterlichen Städten (»gewerblichen Binnenstädten«) erstmals zu bestimmten, nicht aufeinander rückführbaren, aber sich kumulativ verstärkenden, koexistierenden Sozialerfindungen gekommen ist, die in stark modifizierter Form noch in seiner Gegenwartsgesellschaft nachwirken: die scharfe Trennung von privater und öffentlicher Sphäre auf engstem Raum; das Privateigentum an Grund und Haus in der Stadt, von dem aus die Bürger nun Güter für einen Markt produzierten; die »Autokephalie«, also die gemeinsame, »eigenköpfige« Selbstverwaltung; schließlich das gemeinsam im Abendmahl kommunizierte Gottesverhältnis als Basis der Selbstvergewisserung, das schließlich in der Reformation im erst zweifelnden, dann eigenverantwortlichen Rückgriff auf die »Schrift« seine weltzugewandte protestantische, bildungsbürgerliche Form annimmt. Hier, in der okzidentalen Stadt, wird so etwas wie die bürgerliche Gesellschaft in Grundzügen erstmals sichtbar, und hier zeichnet sich der Typus des auf Zivilität, Rationalisierung, bargaining und individuell erhoffte Gnade ausgerichteten Bürgers erstmals konturscharf gegen die Folie anderer sozialer Lagen ab: gegen die in die Naturkreisläufe der Nahrungsproduktion eingebundenen, mit der Tierhege verbundenen Bauern; und gegen den Adel (in und außerhalb der Stadt), der in den Kommunikationsakten der Befehls- und Gehorsamsschulung über eine disziplinierte Gewaltkompetenz verfügt. Systemisch erzeugte Ungleichheit im Verdichtungsraum der bürgerlichen Stadt, Segregation, der Wechsel zwischen bevorzugten und weniger bevorzugten Lebens- und Wohnlagen, Ab- und Ausbrüche von Sinnsetzungen gehören zu den bürgerlichen Suchbewegungen von Beginn an mit dazu.
Im 18. Jahrhundert bekommt dieser Sozialtypus des Bürgers ein prägnantes Gesicht, in der jungen transatlantischen Öffentlichkeit einen strahlenden Namen: Benjamin Franklin. In Philadelphia, wo der okzidentale Stadttypus auf dem nordamerikanischen Kontinent Fuß fasst, verkörpert Franklin wie kein anderer die weltgeschichtliche Figur des Bürgers – in all ihren Facetten, in ihrer kompletten Fassung: als Buchdruckunternehmer, Erfinder des Blitzableiters, Zeitschriftengründer, Initiator des Selbstbildungsvereins »Junto«, Gründer und Mitglied zahlloser mustergültiger selbstverwalteter Assoziationen für Feuerschutz, Straßenreinigung, Krankenhäuser, Schulbildung, Leihbibliotheken, Philosophie und Universitäten, als Unterzeichner der Verfassung und Diplomat im Dienste der neuen Vereinigten Staaten.4 Selbst Max Weber hat in seiner berühmten Schrift »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« (dabei jedoch viel zu fixiert auf den »Geist des Kapitalismus«)5 an Benjamin Franklin, dem Kronzeugen seiner These von der Wahlverwandtschaft zwischen Calvinismus und Kapitalismus, die Komplexität dieses Typus verkannt: Dass es nämlich neben der kapitalistischen Facette den genuin zivilgesellschaftlichen und neben diesem den genuin bildungsbürgerlichen Zug an Franklin gab. Für die französischen und englischen Zeitgenossen war Franklin aber gerade wegen der Gleichzeitigkeit der drei Facetten ein Titan – auch für Goethe, der über diesen Weltbürger staunte, der dessen Autobiographie in seinem Leben dreimal las und der sich diese von Franklin generierte Gattung für seine eigene Lebensbeschreibung »Dichtung und Wahrheit« zum Vorbild nahm.6 Goethe, der seinem bürgerlichen Helden Wilhelm Meister die Maxime zwischen die Lippen legt: »[…] mich selbst, ganz wie ich da bin auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.«7 Hier, zwischen Franklin und Goethe, Philadelphia und Weimar blitzt das Prägnanzpotenzial dieser neuen komplexen bürgerlichen Sozialfigur auf.
Parallel entwickelt sich der folgenschwere Dauerverdacht des Bürgers gegen sich selbst. Hegel hat in Aufarbeitung der französischen und englischen Bürgertumsreflexion (Rousseau, Locke, Smith, Ferguson) die Prinzipien der neuzeitlichen Verbürgerlichung auf den Systembegriff der »bürgerlichen Gesellschaft« gebracht, voller Bewusstsein für die innere Dynamik (das unendliche »System der Bedürfnisse«) und für die internen Differenzierungen und Distinktionen. Beobachtungen und Beschreibungen8, die noch Marx und Engels faszinierten und von ihnen in ihren geschichtsphilosophisch radikalen Abschiedsschriften auf das Bürgertum zur vernichtenden Kritik gedreht werden.9 Die Emergenz der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, der Auftritt der »Frauen und Männer des Bürgertums«10 als »Klasse« wird durchgehend von einer europäischen Kritik eskortiert, einem bürgerlichen Dauerverdacht gegen den eigenen Sozialtypus und seine Prinzipien. Diese Kritik bildet einen reichen Fundus an Topoi aus, aus denen in immer neuen, nicht zu kupierenden realen Krisen im 19. Jahrhundert der »Haß auf das Bürgertum« – wie Furet es genannt hat11 –, immer neue Geistesfunken schlägt. Zu diesen Topoi gehört die Kritik am Geld, am geldgesteuerten, nun universal werdenden Tauschprinzip, das tendenziell von aller menschlichen und sachlichen Substanz abstrahiert und entfremdet. Dazu gehört der Verdacht gegen das individuelle Autonomieprinzip, das die Menschen aus allen Bindungen löst und isoliert, jede eingelebte Solidarität (Nächstenliebe) und Vertrautheitsgemeinschaft durchkreuzt. Das selbst entfaltete Ethos der Gleichheit und Brüderlichkeit mündet aus Sicht der Kritik immer erneut in systemische Ungleichheiten, nicht nur der materiellen Lebensbedingungen, sondern vor allem auch der Assoziationsfähigkeit, der Vernetzbarkeit sowie in Ungleichheiten der existentiellen Ausdruckschancen. Zum Laster- und Lästerkatalog der klassischen Kritikpunkte am Bürgertum gehören weiter dessen ständige, von Kapitalverwertung sowie Konjunktur- und Finanzkrisen angetriebene innere Ruhelosigkeit; die unübersichtlichen, spontan einsetzenden und unkalkulierbaren Assoziationen, intermediären Gruppierungen;