Menschen, die Geschichte schrieben. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
war von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen kein herausragender Held der mittelhochdeutschen Dichtung. Doch strahlte die französische Dichtung bis nach Skandinavien aus: Karlamagnüs saga ok kappa hans.
Schon die Chanson de Roland hatte an Karls Spanienfeldzug und Niederlage im Jahr 778 gegen Muslime und Basken erinnert, an die zwölf Paladine mit Roland, der im realen Leben ein bretonischer Markgraf gewesen sein dürfte, und dem getreuen Erzbischof Turpin an der Spitze. Sie erinnerte weiter an den Verräter Genelun, hinter dem sich der historische „Verrat“ des Erzbischofs Wenilo von Sens an Karl II. verbergen dürfte – durchweg also historische Gestalten und Episoden, die in der realen Geschichte des Frankenreiches während des 8. und 9. Jahrhunderts eine Rolle gespielt haben und nun, im Epos, neue, nicht minder nachhaltige Wirkung erzielen sollten. Schicht um Schicht hat sich hier um einen Erzählkern gelagert, der zuletzt noch den Kreuzfahrer und Heiligen in sich aufzunehmen vermochte – für den, der es zu benutzen versteht, geradezu ein Archiv des vielgestaltigen Karlsgedenkens. Das Lied besang mit lautem Waffengeklirr den heldenhaften Märtyrertod Rolands und seiner Gefährten, die furchtbare Rache des Kaisers und seinen endgültigen Triumph. Es mochte jeden christlichen Ritter, auch wenn er keinem geistlichen Ritterorden beitrat, für den heiligen Krieg und den Kreuzzug entflammen. Man vermutet denn auch, dass das deutsche Lied während des Kreuzzuges Heinrichs des Löwen (1172) dem Herzog und seinen Rittern zur Erbauung diente. Doch heilig war des deutschen Roland Herr noch nicht.
Zahlreiche französische Epen des hohen und späten Mittelalters widmeten sich den feudalen Bindungen zwischen dem königlichen Lehnsherrn und seinen Vasallen und Paladinen. Auch Familienfehden spiegelten sich in manch einer der „Chansons“. Ein eigener Zyklus an „Verräterepen“ entstand. Karl spielte hier freilich vielfach eine eher klägliche Rolle. Er war nun der Versager; Fürsten und Rebellen triumphierten über ihn. Das Rebellenepos präsentierte einen eigenen Typus der französischen Karlsepik, der in Deutschland vollständig fehlte: den negativen Helden, den lächerlichen König, den nutzlosen Herrscher. Es artikulierte dort, zumal in Aquitanien, dem Land südlich der Loire, und überhaupt im Languedoc, die Opposition gegen das zentrale französische Königtum und die reale oder erhoffte Emanzipation von demselben. Davon ist hier nicht mehr zu handeln. Deutschsprachige Dichter griffen diese Thematik ohnehin nicht auf. Erst in der frühen Neuzeit drang der eine oder andere Stoff in die „Volksbücher“-Literatur ein, ohne sonderlich Karls glänzendes Bild zu verdunkeln.
Ein dritter Zyklus der hoch- und spätmittelalterlichen französischen Epik wandte sich, gleich dem reich überlieferten, aber unvollendeten Willehalm Wolframs von Eschenbach, dem Markgrafen Guillaume d’Orange zu. Dessen historisches Vorbild war der gleichfalls als Heiliger verehrte Markgraf Wilhelm von Toulouse. Er leitete zur Zeit Karls des Großen unter Ludwig dem Frommen in Aquitanien tatsächlich die Kämpfe gegen die Muslime, bevor er Klostergründer und Mönch wurde. Karl freilich spielte in diesen Dichtungen nur eine randseitige Rolle. Immerhin wusste Wolfram: „Der keiser Karl hat vil tugent“ (I, 6, 9).
HEROISIERUNG, MYTHISIERUNG UND LEGENDÄRE VERKLÄRUNG ALS WIRKLICHKEIT – EINE ZUSAMMENFASSUNG
Die Beispiele ließen sich noch lange fortsetzen. Doch auch die vorgestellten sollten deutlich gemacht haben, wie sich die drei Ebenen nationaler Mythisierung, kirchlicher Heiligung und heroischer Dichtung durchdrangen und durchmischten und wechselseitig aufeinander wirkten, und wie sie sich zur Gestaltung neuer Wirklichkeiten mit den Nachwirkungen vergangener Wirklichkeit vereinten. Hier vollzog sich ein komplexes Geschehen, bei dem keiner der Beteiligten ahnen konnte, wohin der von ihm beigesteuerte Impuls das Ganze tragen würde, und in dem sich ein jeder fortgesetzt neu orientieren musste. Ins Epos freilich zog der hl. Karl nur selten ein. Der Mythos verlieh diesem Karl viele Gesichter, ließ ihn hier mit dieser, dort mit anderer Gestalt in Erscheinung treten. So lebten fortgesetzt nicht bloß ein einziger, sondern zahlreiche Karl der Große nebeneinander: der Herrscher, der Sieger, der nutzlose König, der Sünder, der Büßer, Pilger und Heilige und andere mehr.
Der Appell an Karl diente vielfach als Passepartout für ‚Legitimität‘. Was dieser König oder Kaiser gestiftet, begründet, gefördert haben soll, sollte ewige Geltung beanspruchen und – sei es Herrschaft oder Heiligenkult, Ritter- oder Pilgertum, Ansiedlung der Juden oder Heidenkrieg – sakrosankt sein. Manch ein Motiv knüpfte an reales Geschehen an, doch vieles blieb ausgeklammert und schlummerte allein in den Werken der Geschichtsschreiber. Das Papsttum etwa und Italien, wo sich eine eigene Karlstradition bildete, sowie die Kirchenreform, denen Karl tatsächlich größte Aufmerksamkeit gewidmet hatte, fanden trotz aller welthistorischen Bedeutung keinen Zugang zum nordalpinen Karlsmythos; ebenso wenig der Förderer der Schulen und der Dichtkunst, des Lateins und der Astronomie, der wirtschaftende Karl, kaum etwas von seinen kulturstiftenden Leistungen – von der Ausnahme der angeblichen Gründung der Universität Paris abgesehen –, die ihn tatsächlich groß gemacht haben, von jenem Karl, der nach Dialektik und Rhetorik verlangt und das Abendland zu Wissenschaft und Buchkultur getrieben hatte. Vage Bilder eines idealen, mächtigen Herrschers, wie ihn Dürer imaginierte: „der das Remisch reich Den teitschen under tenig macht“,28 der sich um Recht und Gerechtigkeit und die Ausbreitung des Glaubens sorgte, eines bußfertigen Orientpilgers, eines Freundes der Mönche, eines Schutzspenders der Armen und der Juden und eines Feindes der Heiden formten sich hie und da im kulturellen Gedächtnis. Wären die Historiker allein auf diese mündlich kolportierten und schriftlich fixierten Imaginationen angewiesen, wir wüssten nicht, wer Karl der Große gewesen ist.
Das kulturelle Gedächtnis bleibt freilich nicht stehen; es fließt immerzu weiter. Auch jetzt ist für Karl ein neues Bild im Entstehen, wie eine lebhafte Karlsforschung bezeugen kann. Auch ihr Karlsbild befindet sich im Fluss. Es speist sich nicht zuletzt aus einer erinnerungsgemäßeren Beurteilung der historischen Quellen etwa zu seiner Geburt, zum Prozess gegen den Baiernherzog Tassilo, zur Kaiserkrönung oder zu seiner Nachfolgeregelung. Auch das vertiefte Wissen um die Aktualität der Endzeiterwartung um das Jahr 800 – nämlich das apokalyptische Jahr 6000 nach Erschaffung der Welt in der Berechnung des hl. Hieronymus – wirft Licht auf den am ersten Tag des neuen Jahrtausends in Rom zum Kaiser gekrönten Karl. Die alten Legenden und Sagen indessen, der jahrhundertelange wirksame Mythos Karl, um den es an dieser Stelle vornehmlich ging, sie werden nicht mehr fort-, allenfalls noch abgeschrieben. Lediglich im Internet geistern, abgesunken in eine dubiose Subkultur, unter dem großen Namen Zerrbilder einer Vergangenheit, multifunktional einsetzbare Leerformeln, die über Karl, den Heros und seinen Mythos nichts, über unsere Zeit aber nahezu alles verraten. Doch dies wäre ein neues Thema.
ANMERKUNGEN
1Dichtung und Wahrheit, 1. Teil, 1. Buch (Bd. 26, S. 27).
2Zit. bei Lehmann 1941, S. 177 f.
3Einhard: Leben Karls des Großen, c. 16 (in: Quellen zur karoling. Reichsgeschichte, I, S. 186).
4Heitonis Visio Wettini c. 11 (MGH Poetae II, S. 271); Walafrid Strabo, Visio Wettini, Vers 446–65 (S. 66).
5Notker:Taten Karls (in: Quellen zur karoling. Reichsgeschichte, III).
6Hincmarus: De ordine palatii, Prologus (MGH Fontes Iuris Germanici antiqui 3, 1980, S. 32 f.).
7Zum folgenden Grabois 1966, S. 5–41.
8MGH Diplomata Ottos III., S. 347.
9MGH Diplomata Ottos III., S. 257 f.
10Wipo: