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Menschen, die Geschichte schrieben - Группа авторов


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sich mit der Zeit immer breiter und reicher. Das Fließen, Zerfließen, erneute Zusammenfließen endet nimmer, es sei denn, alles versickert und mündet in den spurlosen Untergang ewigen Vergessens. Dann ist der Rest ein Schweigen, das kein Historiker mehr durchdringt.

      MYTHOS KARL

      Heroisierung und Mythisierung sind davon unmittelbar betroffen; sie zeugen von jener Auffächerung der Erinnerungen an Geschehens- und Gedächtnisrealitäten. Sie sind nicht zuletzt deren Ergebnis. Am Beispiel Karls des Großen lässt es sich geradezu mit archetypischer Deutlichkeit aufzeigen. Seine vielfältige Gegenwart im kulturellen Gedächtnis spiegelt mannigfache Formen der Erinnerung und ihrer Wirkungen; ihnen sei im Weiteren nachgegangen. Doch gebietet der verfügbare Raum, mich auf wenige Beispiele zu beschränken: den Herrscher, den Sünder und Heiligen sowie den Heros der Dichter.

      DER HERRSCHER

      Zumal Frankreich und Deutschland hielten durch historiografische oder anekdotische Texte, in der Schule und in mündlicher Erzählung die Erinnerung an den großen König und Kaiser wach. Man gedachte dabei durchaus eines realen Herrschers und legitimierenden Vorbildes, keines metaphysischen Wesens, keines Wundertäters und sagenfernen Schemens. Gleichwohl zeichneten sich von früh an gravierende Unterschiede ab.

      Während Karl im Westen vor allem sachlich-historisch gesehen wurde, Einhards Vita, mit einer Lebensbeschreibung seines Nachfolgers Ludwig, den sogenannten „Reichsannalen“, und weiteren Werken zur Geschichte der Franken zu einem respektablen Geschichtsbuch vereint, dem König Karl II., einem Enkel des Großen, zur Instruktion dargereicht wurde, während alsbald auch dieses zweiten Karls gleichnamiger Enkel Karl („der Einfältige“, wie er mit distinguierendem Beinamen heißt) in legitimierender Absicht die Erinnerung an seinen großen Ahnherrn – wenn auch nicht nur an diesen – pflegte und damit eine Geschichtstradition begründete, die später, nach einem karlsabstinenten Zwischenspiel, in die Grandes Chroniques de France münden sollte, während dergestalt also die westfränkisch-französische Geschichte begründet wurde, verharrte der Osten mit Notkers Gesta Karoli Magni zunächst ganz im Personalen, Episodischen und Anekdotischen. Hier rissen immer wieder mühsam geschaffene Traditionslinien ab. Das Gedenken an Karl blieb davon nicht unberührt. Kein durchlaufendes literarisches Programm scheint das Erhaltene gestaltet und ihm als Ganzem einen über die einzelne Anekdote hinausweisenden Sinn vermittelt zu haben.

      Zwar kursierte Einhards Vita auch im Osten; aber das Rezeptionsmilieu unterschied sich deutlich von jenem des Westens. Hier im Osten waren die Franken nur eines von mehreren Völkern: den Friesen, Sachsen, Thüringern, Alemannen und Bayern, die kaum eine eigene, geschweige denn eine gemeinsame historische Tradition besaßen. Fränkische Herrschaft wurde von den Nichtfranken durchaus als eine fremde empfunden. Ihre Erinnerung an Karl war von unvergessenen Demütigungen durchsetzt und wird im 9. Jahrhundert eher zwiespältig gewesen sein. Zudem teilten die Königssöhne das Reich ihrer Väter in immer kleinere Teile. Doch an welchen sollte sich in besonderer Weise Karls Gedenken heften? Karl III., für den Notker seine Gesta niederschrieb, war für wenige Jahre der letzte Gesamtherrscher über das einstige, längst unaufhaltsam auseinanderdriftende Großreich. Erst nachdem im 10. Jahrhundert Einheit und Unteilbarkeit des Ostreiches gesichert waren, konnte das Karlsgedächtnis dort eine neue Qualität annehmen. Einhards ‚Karlsleben‘ blieb in solcher Umgebung ein isoliertes literarisches Phänomen – dann und wann gelesen, aber ohne eine an die Schöpfermacht der Vorstellungen appellierende Resonanz. Zudem schob sich schon bei Notker statt des historischen Sinns der allegorisch-mystische in den Vordergrund. Er entrückte Karl mehr und mehr dieser Welt.

      Der St. Galler Mönch scheute sich nicht, seine munteren Geschichtchen mit großer, doch ins Leere laufender Geste in einen heilsgeschichtlichen Kontext zu rücken. „Der allmächtige Lenker der Dinge und Ordner der Reiche und Zeiten hat“, so beginnt mit Anspielung auf die Geschichtsvision des biblischen Danielbuches (Dan. 2,31) das erhaltene Fragment der Gesta Karoli magni, „nachdem er die eisernen oder tönernen Füße jener wunderbaren Bildstatue in den Römern zermalmt hatte, das goldene Haupt einer zweiten nicht minder wunderbaren Statue durch den erlauchten Karl in den Franken errichtet.“ Dieser eigenwillige Ausflug in die biblische Apokalyptik diente allein dem Kaiserlob, keiner Beschreibung der Endzeit; sie floss mit einem antik-heidnischen Topos in eins: Mit Karl habe ein neues goldenes Zeitalter begonnen.

      Das Lob war in keiner Weise theologisch oder geschichtstheoretisch durchdacht, obgleich dazu Anlass bestanden hätte. Konsequenzen für seine eigene Darstellung zog Notker ebenso wenig. Derartige ‚Scheintranszen dierung‘ entkleidete gleichwohl Karl seiner diesseitigen Historizität und entrückte ihn in die Gefilde der Mythen und Exempel. Zumal unter den Sachsen schritt die Entweltlichung kräftig voran. Karl wandelte sich dort zum Heiligen. Die Metamorphose half diesem adelsstolzen Volk, das Trauma der Unterwerfung unter fränkische Herrschaft zu verdrängen und sich seiner eigenen Größe zu besinnen.

      Im Westen aber, genauer: in der Ile de France, dem Herzen des künftigen Frankreich, blieb der Kaiser der irdische Herrscher, das reale Vorbild an Herrschertugend. Stets wurde betont, wie er das Recht pflegte, Frieden und Schutz spendete, die Kirchen forderte und in Übereinstimmung mit dem Papsttum handelte. Diese Sicht wirkte, wie angedeutet, zuerst auf Karl II. den Kahlen. Er bekam von Kind an durch seine Mutter Judith Geschichtsbücher zu lesen. Als König handelte er entsprechend: Zumal sein Großvater, dessen Namen er trug, wurde sein Vorbild. Seine Urkunden imitierten des Großen Monogramm, in Compiegne erbaute er sich eine Pfalz, die ein zweites Aachen sein sollte; die berühmte Karlsstatuette des Louvre dürfte er in Auftrag gegeben haben. Der Erzbischof Hinkmar von Reims redigierte für Karls II. Sohn Karlmann die überlieferte Hofordnung Karls des Großen.

      Gleichwohl entkam auch Hinkmars Gedächtnis den Verformungskräften der Erinnerung nicht. Der Erzbischof machte aus dem Verwaltungstext einen Fürstenspiegel und vermengte, wie zu erwarten, eigene Erfahrungen mit dem Überlieferten, was hier im Einzelnen nicht dargestellt werden soll, was aber dem Text mit dem anderen Charakter auch eine andere Wirkung verlieh. Eine genaue Abgrenzung des früheren von seinem Text, der einstigen von der nun gewünschten Hofordnung ist indessen unmöglich.

      Der Süden des Landes folgte freilich den im Norden vom Königtum in der Ile de France gewiesenen Perspektiven nicht. Zwar bescherten auch Aquitanien und Gothien, wie jene Landstriche damals hießen, dem toten Karl eine hervorragende, wenn auch keineswegs gleichförmige Karriere; doch sie entfernte ihn mehr und mehr von seinen einstigen Handlungen und den Erinnerungskonstrukten des Nordens. Einhards Vita beispielsweise blieb hier weithin unbekannt. Karl verwandelte sich vielmehr in einen bald geliebten und geachteten, bald auch missachteten und gehassten Feudalherrn.

      Sein Bild spiegelte zum Teil das Verhältnis des Südens zum Norden und zum zentralen Königtum, bevor dieses ihn sich wieder unterwarf, zum Teil auch die eigene, konfliktreiche Welt dieses Südens. Zahlreiche Klöster wollten von Karl, einige auch von Chlodwig oder Karls Vater Pippin gegründet sein; Urkunden wurden zumal von Klöstern auf Karls Namen gefälscht, allerlei Legenden und heroische Geschichten in Umlauf


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