Knall 2. Harald KiwullЧитать онлайн книгу.
in ihrer Zeitschrift. An den im Hintergrund des Raumes im Halbdunkel stehenden zwei, drei Tischen saß kein Gast.
Ab und zu tat es mir gut, hier abzuspannen und vollkommen sicher zu sein, dass ich keinem Kollegen begegnen werde. Ich nahm einen großen Schluck von meinem Bier.
Irgendwie fühlte ich mich in letzter Zeit nicht gut. Vielleicht war das Drama der letzten Monate aus Spannung, Frustration und Euphorie doch zu viel für mich gewesen. Außerdem bedrückte mich, dass ich bei mir in idiotischer Weise ein finanzielles Chaos angerichtet hatte.
Vor einigen Wochen erklärte mir bei einer Geburtstagseinladung meines Freundes Wolfhart zu später Stunde ein Gast aus England das Rätsel des Geldgewinns durch fallende Kurse. John war unglaublich überzeugend. Gegen Mitternacht flüsterte er mir den absoluten Geheimtipp ins Ohr, wobei er sich immer wieder vorsichtig umsah. Er selbst habe auch sein ganzes Geld investiert. „Hundertprozentig“.
In meinem Hinterkopf spukte zu der Zeit die starke Sehnsucht nach einer großen Segeljacht. Ein Wunsch, den ich mir bei meinem Gehalt nie würde erfüllen können. Die unglaublich wunderbare Zeit im Mittelmeer auf der Segeljacht „Esperanza“ von Felicitas’ Großvater hatte sich tief in meinem Gemüt eingenistet. Wir waren nach unserem spanischen Abenteuer drei Wochen im Mittelmeer herumgegondelt. Es war traumhaft gewesen.
Je später der Abend, umso konkreter sah ich die eigene Jacht in allen Einzelheiten vor mir, lehnte schließlich auf der Luvseite, die salzigen Gischtspritzer im Gesicht und über mir das blendend weiße Großsegel.
Jedenfalls machte ich am nächsten Tag meine ganzen Ersparnisse locker, schöpfte die Kreditlinie aus und beging diesen wirklich üblen Fehler. Meinen Freunden und auch Felicitas erzählte ich vorsichtshalber nichts davon.
Das Geld war verschwunden und ebenso der englische Freund von Wolfhart. Nicht ganz verblüffend hinterließ er noch die Zeche für seinen Hotelaufenthalt und die Bewirtungen, mit denen er freigiebig um sich geworfen hatte. Wolfhart erzählte mir dann, er habe den Burschen auch nur kurz gekannt, aber er sei ihm ganz besonders sympathisch gewesen. Na, ja ...
Rudi, mein Nachbar zur Linken, fing an, mir eine etwas verworrene Geschichte über das zu erzählen, was ihm am Vortag passiert war. Meine Gedanken schweiften ab, aber ich schaffte es, ihm ab und zu Bemerkungen zuzuwerfen wie „Was du nicht sagst“ oder „Das glaubt man ja nicht“.
Ich dachte darüber nach, dass ich als Strafrichter und erfahren im täglichen Umgang mit Ganoven, diese doch eigentlich als solche erkennen müsste. Wenn nicht ein Richter, wer denn dann? Aber diese Gedanken machten mich nur noch depressiver.
Ob mir ein Ortswechsel über das verlängerte Wochenende vielleicht doch guttun würde? Ein paar Tage im Norden, wie geplant, wären möglicherweise das Richtige.
Ich hatte nämlich diesen Trip schon vor drei Wochen vorbereitet, aber eben mit Felicitas. Auch die Hotels schon reserviert und dann wieder abbestellt, als sich herausstellte, dass Feli nach Spanien fahren musste. Wir wollten eine Nacht in Stade und eine in Hamburg übernachten und jeweils unsere Freunde besuchen. Feli war vor einiger Zeit von Hamburg nach Berlin versetzt worden und ich in Stade zur Schule gegangen.
Nach dem zweiten Bier und einem Schnaps, den mir Rudi wegen meines einfühlsamen und geduldigen Zuhörens ausgegeben hatte, war ich entschlossen zu fahren.
Ungefähr zwei Stunden später saß ich in einem Abteil erster Klasse im ICE nach Hamburg. Ich würde kurz vor Mitternacht dort ankommen.
Im Gericht war ich noch vorbeigegangen und hatte das Urlaubsgesuch für den Freitag in meiner Geschäftsstelle bei Frau Kuch auf den Schreibtisch gelegt. Sie würde es am nächsten Morgen weiterleiten.
Zu meiner Verblüffung hatte ich dort trotz recht später Stunde meine Vertreterin Frau von Hühnlein angetroffen, wieder einmal in einem ihrer ungewöhnlich kurzen Röcke. Sie begann sofort, rasant mit mir zu plaudern – ihre Spezialität –, um ausführlich zu begründen, warum sie gerade heute bis jetzt im Gericht herumsprang.
Wir vertreten uns gegenseitig. Ich vermied es aber vorsichtshalber, ihr mitzuteilen, dass sie am Freitag eventuell für mich in Anspruch genommen werden könnte, und schaffte es, mich nach kurzer Zeit dem Gesprächsstrom zu entziehen.
In meiner Wohnung hatte ich ein paar Sachen in eine Tasche geworfen, außerdem in Stade und Hamburg in denselben Hotels angerufen und erneut die Zimmer für mich reserviert. In Stade würde ich am Burggraben wohnen, und in Erinnerung an alte Zeiten hatte ich in Hamburg ein Hotel im Ortsteil Bergedorf herausgesucht. Außerdem hatte ich erneut einen Mietwagen am Hauptbahnhof gebucht.
Ich war bei der Reiseplanung geblieben, weil es mir auch Vergnügen machen würde, durch Hamburg zu bummeln.
Meine ersten Semester hatte ich nämlich dort verbracht und während dieser Zeit eine kleine, dunkle Studentenbude in Bergedorf angemietet. Im Souterrain, wie man so schön sagt. Tatsächlich traf es Kellerraum besser. Aber im Sommer kühl und mit einem Fenster auf Erdniveau.
Davor hatte ich meinen Schreibtisch postiert, was zur Folge hatte, dass Henner, Jogi und meine anderen Freunde über Schreibtischstuhl, Tischplatte, Fensterbrett bei mir ein und aus gingen. Sehr lustig. Jogi konnte übrigens exzellent Klavier spielen und verblüffte einmal auf einer Nordlandreise die Finnen bei einer Faschingsveranstaltung am Polarkreis, was ja schon merkwürdig genug ist, dadurch, dass er im Pyjama zum Fest erschien.
Über mir wohnte mein Vermieter, der Herr Knannt. Er war Single und hatte bedauerlicherweise zwei Holzbeine. Was ihn aber nicht hinderte, ab und zu eine Party zu feiern, auf der getanzt wurde, auch von ihm. Das führte zu ganz ungewöhnlichen Geräuschen, die zu mir herabschallten. Insgesamt gesehen eine wunderbare Zeit.
Ein bisschen dort herumzulaufen und vielleicht auch mal nach dem Haus zu sehen, würde mir guttun.
Der Zug war ziemlich leer, und ich hatte ein Abteil für mich allein. Mit dem Rattern des Zuges und den vor dem Fenster vorbeihuschenden Lichtern der Ortschaften trat bei mir allmählich eine Entspannung ein, und ich fühlte, dass die Spontanaktion ein guter Entschluss gewesen war.
Ich würde morgen in Stade ein paar Freunde aus meiner Schulzeit anrufen, um sie zu treffen. Es könnte ein schönes Wochenende werden.
Ich lehnte meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Das Athenaeum tauchte vor meinem Geiste auf, die alte Schule. Von der Grundschule auf dem kleinen Dorf war ich dorthin mit einer gewissen und, wie sich dann zeigte, nicht unberechtigten Scheu gekommen, denn am ersten Tag meines Aufenthaltes gab mir Henner in städtischem Hochmut gegenüber dem Typ vom Land einen Tritt in den Hintern. Das war der Auftakt. Henner wurde später übrigens mein bester Freund, und seine Begrüßungsaktion tat ihm danach sehr leid.
Mit ihm und zwei weiteren Freunden gründete ich in der letzten Klasse den Geheimbund „Kokytos“. Bekanntlich in der Unterwelt der griechischen Mythologie ein Fluss, der das Totenreich umfließt. Wir fühlten uns den Kameraden damit ungeheuer überlegen und hielten ihn aus diesem Grund natürlich auch nicht geheim. Das kreidegemalte, altdeutsche „K“ mit Ausrufungszeichen dahinter war das Markenzeichen und wurde zu nächtlicher Stunde, oft dabei übereinander auf den Schultern stehend und nicht ganz nüchtern, überall in der Stadt und vorzugsweise an der Mädchenschule „Lyzeum“ angepinselt. Von den Lehrern wurde es als ein „R“ angesehen, für „Rache“. Das erfuhren wir aber erst viele Jahre später.
Vielleicht könnte ich ja mal ein bisschen herumstreifen und nachsehen, ob nach Jahrzehnten noch Fragmente unserer nächtlichen Eskapaden zu finden waren.
Ich versuchte, mich bequemer hinzusetzen, und lehnte mich an meine in der Ecke am Fenster hängende Jacke. Mit dem Kopf stieß ich gegen einen harten Gegenstand in einer der Taschen. Ich hatte den alten, schweren, gefütterten Parka, den ich seit Jahren nicht nutzte, wegen der unerfreulichen Temperaturen aus dem Schrank genommen und angezogen. Aus der Innentasche zog ich ein kleines Buch. Überrascht blickte ich darauf. Ich hatte es vor langer Zeit zum letzten Mal gesehen. Beim Anblick des Titels musste ich schmunzeln: „Die offene Ehe“.
Ich blätterte kurz darin herum, ließ es dann sinken und meine Gedanken schweiften zurück in vergangene Jahre.