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Die Anarchisten. John Henry MackayЧитать онлайн книгу.

Die Anarchisten - John Henry Mackay


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finden zu lassen - vernommen in jener lückenhaften, sich widersprechenden Weise, welche eine Person in den fernerstehenden Kreisen von selbst mit dem Schimmer des Fremden und Ungewöhnlichen umgibt; welche nicht wußten, was dieser Mann für die »Sache« getan hatte und noch tat. Seine Schriften, verstreut in den revolutionären Organen des »anarchistischen Kommunismus« aller Sprachen, waren es, die seit einer Reihe von Jahren für die kommunistischen Anarchisten die unerschöpfliche und oft einzige Quelle ihrer Propaganda bildeten. Jeder kannte sie; jeder las sie wieder. Seine Kraft, die er einst der geheimen inneren Bewegung in Rußland gewidmet hatte, gehörte nun der internationalen an; und gewiß hatte diese ebensoviel an ihm gewonnen, wie jene an ihm verlieren mußte. Diese Kraft war unersetzlich, und weil jeder dies wußte, dankte es ihm jeder, der ihn sah.

      Er war Kommunist. Das Blatt, welches in Paris in französischer Sprache erschien und das er (da ihm der Aufenthalt dort unmöglich gemacht worden war) von London aus leitete, nannte sich »kommunistisch-anarchistisch«. Er hatte es versucht, in geistvollen Aufsätzen, weiche in einer der bedeutendsten Monatsschriften Englands erschienen, die »wissenschaftlichen Grundlagen« seines Ideals zu geben, das er glaubte, Anarchie nennen zu dürfen. Aber auch aus. diesen Arbeiten, welche einen ungefähren Begriff von dem Umfange der Kenntnisse ihres Verfassers in bezug auf alle Fragen des Sozialismus und von seiner enormen Belesenheit gaben, war es Auban nicht gelungen, sich ein Bild von der Möglichkeit dieser Theorien in der Wirklichkeit zu machen. Und er sah auch aus dem Wahnglauben an diese neue und doch so alte Religion nichts sprießen als eine neue Mißernte von Unfreiheit, Unordnung und innerlichstem Elend ...

      Währenddessen hatte der, dem diese Gedanken galten, in nervöser Erregung - wie unzählige Male mochte er schon so an dem Ufer des brausenden Menschenmeeres gestanden haben! - darauf gewartet, daß sich der Beifallssturm legen möchte, der zu ihm hinaufbrauste. Nun begann er in jenem harten, klaren Englisch des Russen, der die Sprachen aller Länder spricht, in denen er lebt. Man glaubte, ihn erst nicht verstehen zu können; nach drei Minuten war es unmöglich, ein Wort seines lebendigen und hinreißenden Vortrages zu verlieren.

      - Als was erscheinen die Vorgänge in Chicago? fragte er. Und er gab die Antwort: - Als eine Rache an Gefangenen, die gemacht sind in dem Kampf zwischen den beiden großen Klassen. Wir protestieren gegen sie als eine Grausamkeit und Ungerechtigkeit Es ist die Schuld unserer Gegner, rief er, wenn solche Verbrechen den Kampf immer furchtbarer, immer erbitterter, immer unversöhnlicher machen. Es ist das keine Angelegenheit welche nur das amerikanische Volk angeht: das Unrecht an den besitzlosen Arbeitern jenes Landes verübt trifft uns mit gleicher Wucht Die Arbeiterbewegung ist ihrem ganzen Wesen nach international; und die Arbeiter jedes Landes haben die Pflicht ihre Mitarbeiter in einem anderen aufzurufen und zu unterstützen im Widerstande gegen solche Verbrechen, welche an ihnen selbst begangen werden!

      Er sprach nicht sehr lange. Aber was er sagte, erregte ihn selbst wie die Hörer gleich stark. Der unentrinnbare Ernst seiner Worte, sein blitzendes Auge, seine bebende Leidenschaftlichkeit erweckten in dem Gleichgültigen eine Ahnung von der Bedeutung einer Sache, die er nicht verstand, und stärkte in deren Bekennern den Glauben an ihre Gerechtigkeit und an ihre Größe. In demselben Moment, in dem der Redner geendet, hatte er schon den Platz verlassen, als wolle er sich dem neu ausbrechenden Beifall entziehen, und saß im nächsten wieder ernst und bleich unter den Zuhörern, gespannt mit ihnen die Worte seines Nachredners verfolgend, der - als Delegierter eines großen Londoner liberalen Klubs - darauf aufmerksam machte, daß jene Ereignisse, welche heute drüben geschehen, morgen schon hier im eigenen Lande sich ereignen könnten ...

      Auban vernahm nicht mehr, was dieser und jeder der noch nachfolgenden Redner sagte. Er war in Gedanken versunken. Noch immer saß er so unbeweglich wie vor einer Stunde da, die Füße über den vorgestreckten Stock gekreuzt, die Hände auf seinen Griff gestemmt, und starrte vor sich hin. Die Stimmen der Redner, das Gemurmel wie das Beifallsrufen und -klatschen der Menge - das alles klang wie aus einer weit abliegenden Ferne zu ihm her. Er war oft in den letzten Tagen - beim Durchwandern brausender Straßen - von diesem Gefühl der Abwesenheit überwältigt worden; dann dachte er an jene Tage, in welchen die Menschheit aufatmend einmal wieder sich befreit hatte von einem ihrer Tyrannen, und an die Tage, in welchen dessen wertloses und fluchbeladenes Leben gerächt wurde an vielen unschätzbar teuren. Und er dachte an die Heldengestalten jener Märtyrer, an ihre schweigenden Opfer und an ihr nur einem Gedanken geweihtes Leben. Er dachte an sie, sooft er einen von denen sah, auf deren Stirnen noch der Schatten jener Tage zu liegen schien. Aber nicht mehr vermochte es ihm über alles groß und beneidenswert zu erscheinen, so zu leben und so zu sterben... Verflüchtigt hatte sich jene Leidenschaftsglut, welche seine ganze Jugend verzehrt hatte und welche in Asche gelegt war unter den kalten Hauchen des Verstandes, der unaufhörlich und rastlos alle unsere wirren Gefühle bekämpft, bis er uns mit dem Glauben an die Gerechtigkeit auch den letzten genommen hat, und nun selbst - als der einzig berechtigte - Leiter und Lenker unseres Lebens geworden ist. Zuviel Blut hatte er fließen sehen, als daß er nicht gewünscht hätte, die Erfolge des Friedens endlich zu erblicken. Aber wie war das möglich, wenn das Ziel immer verschwommener, die Wünsche immer unmöglicher und die Leidenschaften immer mehr entfesselt wurden?! -

      Wieder sollten sich jene Tage, an welche er dachte, nun in Wirklichkeit wiederholen! Wieder das Blut der Unschuldigen in Strömen fließen, um die ungezählten Verbrechen, begangen von der Macht an der Schwachheit, der Willenlosigkeit, der Einsichtslosigkeit, zu verbergen! Was wollten doch alle diese Menschen, die hier so begeistert schienen, so überzeugende Worte der Wahrheit fanden? Protestieren? Wann hatte sich das privilegierte Unrecht, welches die Macht der Gewalt sich kaufte, je um Proteste gekümmert? -

      Warum unterlagen sie? Weil sie die Schwächeren waren. Und was ist Schuld? Ist es nicht ebenso große Schuld, schwach zu sein, als stark zu sein, wenn es überhaupt eine Schuld gibt? Weshalb waren sie nicht die Stärkeren?

      Mit der grausamen Härte seiner durchdringenden Logik prüfte und sezierte er weiter. Der Schmerz, der hier so beredt aus allen Mienen und allen Worten sprach: zusehen zu müssen dem Verbrechen, war er nicht doch geringer als der, den ein Versuch, es tatsächlich zu verhindern, bereitet hätte? Weshalb sonst gaben sie sich alle hier zufrieden, zu protestieren und nur zu protestieren?

      Sie hätten die Stärkeren sein können. Und waren es nicht... Es war eine große Leere und Kälte in ihm nach der auflodernden Leidenschaft. Es war ihm, als schwebe er in einer eisigen Luftewigkeit ohne Raum und Grenze und Versuche, in der Angst des Todes sich an dem Haltlosen zu halten. –

      Der alte Herr, welcher neben ihm saß, sah in diesem Augenblick in Aubans Gesicht. Es war aschgrau, und in seinen Augen loderte ein zusammensinkendes Feuer.

      Auf der Empore trat unterdessen unermüdlich ein Redner nach dem andern auf. Die Erregung schien noch im Wachsen zu sein, obwohl gewiß in dem ganzen weiten Saale nicht einer war, der nicht von ihr bereits ergriffen war, mit Ausnahme jener Reporter vielleicht, die geschäftsmäßig ihre Blätter mit Notizen füllten.

      Auban hörte nichts mehr. Einmal hatte er sich halb erhoben, als habe er sich entschlossen zu sprechen. Aber er hatte gesehen, daß die Reihe der Sprecher noch nicht erschöpft war, und er gab es auf, jenes Wort zu sagen, welches heute abend nicht gesagt werden sollte. -

      Nur einmal noch in der folgenden letzten Stunde schaute er auf. Der Name eines Mannes war genannt worden, den England in die Geschichte seiner Dichtkunst des neunzehnten Jahrhunderts längst neben die glänzendsten unverwischbar eingetragen hatte; den das Kunstgewerbe einen seiner Erneuerer und tätigsten Förderer nannte; und der endlich einer der gründlichsten Kenner und hervorragendsten Vertreter des englischen Sozialismus war. Dieser merkwürdige und einzige Mann - Dichter, Maler und Sozialist in einer Person und Meister in allen - hatte trotz seiner weißen Haare die Lebendigkeit und Frische eines Jünglings. Unvergeßlich war noch immer für Auban einer seiner zahllosen Vorträge, die er heute in irgendeinem der kleinen Klubsäle der Socialist-League-Gruppen in London vor Hunderten und morgen in Edinburgh oder Glasgow auf öffentlichen Versammlungen vor Tausenden hielt, geblieben: »The Coming Society«. Und nie hatte sich vor Aubans Augen verlockender und begehrlich-täuschender das Bild der »freien Gesellschaft« hingestellt als unter dem Banne dieser Worte, denen der Dichter Zauber und Schönheit, der Künstler Plastik und Fülle, der Denker Beweiskraft und Überzeugung zu leihen suchte.


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