Bahnfahring. Thomas C. BreuerЧитать онлайн книгу.
Was macht die Bahn stattdessen? Deklariert die Route zur Nostalgiestrecke. Konsequenterweise hätten sie dann den Bahnhof Boppard mit Thonetstühlen bestücken müssen. Das Bähnlein besteht aus einer Diesellok und zwei reichlich unromantischen Waggons, und was das Tempo angeht, so unterschreiten sie sicher die Werte der Zahnradbahn, die 1908 hier verkehrte.
Selbst auf diesen doch eher beschaulichen 15 Meilen das Mühltal hinan bringt die Bahn eine Verspätung von fünf Minuten zuwege. Das Schienennetz ist marode, weswegen die Deutsche Bahn, so habe ich der Presse entnehmen dürfen, immer mehr sog. Langsamfahrstellen einführen muss, die der Bahnler „La“ nennt. Boppard nach Emmelshausen: Lalalalalalalalalaa. Das ganze Land ist eine Langsamfahrstelle. Die Fahrt selbst ist eher profan. Was habe ich erwartet? Dass Edgar Reitz die Karten kontrolliert? Also bitte, der Mann ist über 70. Gut, wer Oregon mag, sollte sich das mal gönnen: Wald, Wald, Wald, minus die Rodungsflächen. Millionen von Zecken, die nur darauf warten, sich auf einen neuen Wirt zu schwingen. Die Romantik findet ihr jähes Ende, wenn der Zug die Autobahn überquert. So viel zum Thema Abgeschiedenheit. Buchholz bietet als Haltepunkt einen knallroten Kubus, der auch nicht eben nostalgisch anmutet. Übersehen wird ihn der Lokführer sicher nicht.
Bereits im Dezember 2011 erhielt der neue Streckenbetreiber eine uneingeschränkte Zulassung für einen der drei Triebwagen. Zwei mussten noch zum Knochenflicker, aber ab Januar 2012 ging’s richtig los. Nur mich haben sie halt nicht dabei haben wollen.
Stadt-Express SE 23034
Mannheim. Ludwigshafen-Stadt. Ludwigshafen Hauptbahnhof. Ludwigshafen-Mundenheim. Ludwigshafen-Rheingönheim. Limburgerhof. Schifferstadt. Böhl-Iggelheim. Haßloch. Neustadt/Wstr.-Böbig. Neustadt/Wstr., Lambrecht. Neidenfels. Weidenthal. Frankenstein. Hochspeyer. Kaiserslautern Hauptbahnhof. Kaiserslautern-Kennelgarten. Kaiserslautern-Vogelweh. Einsiedlerhof. Kindsbach. Landstuhl. Hauptstuhl. Bruchmühlbach-Miesau. (Homburg. Limbach. Kirkel. Rohrbach. St. Ingbert. Scheidt. Saarbrücken-Ost. Saarbrücken Hauptbahnhof. Völklingen. Bous. Saarlouis. Dillingen. Beckingen. Merzig. Mettlach.) Saarburg. Konz. Trier Hauptbahnhof. DB-Fahrplan
Vom Stadt-Express hieß es weiland im Fahrplan mit dem prosaischen Namen „Städteverbindungen“, er schaffe „schnelle Direktverbindungen in die Zentren. Außerhalb von S-Bahnen hält der SE an allen, innerhalb von S-Bahn Netzen nur an ausgewählten Stationen.“ Auf der Anzeigetafel las sich das wie folgt: „Hält nicht an allen Stationen.“ Die Wahrheit ist, dass zwischen Ludwigshafen Hbf und Trier maximal zwei ausgelassen werden, eine davon im Saarland. Oftmals tönt es aus den Lautsprechern: „Mit Halt auf allen Unterwegsbahnhöfen“ – was die Frage aufwirft, ob es wohl auch andere gibt, also solche, die nicht unterwegs zu finden sind. Der Stadt-Express ist längst Geschichte. Wikipedia schreibt dazu: „Die Deutsche Bahn hat die Produktkennung SE bzw. CB vom Markt genommen. Die Leistungen werden seitdem durch Regionalbahn- oder Regional-Express-Verkehre erbracht. Einige dieser Linien setzen das Konzept des Stadt-Express heute noch um.“ Vielen Dank fürs Erste. Höchste Zeit für einen Nachruf.
Wir schreiben das Jahr 2001. Der Startbahnhof ist Mannheim, wo auch der DB-Zug „Notfalltechnik“ daheim ist: Spreizen, Schneiden, Werkzeug, steht auf einem signalroten Waggon. Aktuell verdeckt er den schwer demolierten IC, der am 4. August 2014 von einem Güterzug aus dem Gleis gekickt worden ist. Da hatten die Notfalltechniker sozusagen ein Heimspiel. Mannheim ist nicht eben für seine vornehme Zurückhaltung bekannt. Deshalb passt der folgende Dialog zweier Streckenarbeiter sehr gut. In der Schließfächerhalle (Umkleiden haben sie anscheinend keine) ziehen sich die beiden nach getaner Arbeit um. Nach der Durchsage „Dieser Zug hat 70 Minuten Verspätung!“ meint der eine: „Clever. Personenschaden am Gleis, das erspart ihnen die Entschädigung!“ Sagt der andere: „Hat sich wieder einer geopfert.“ Der Rekord für Nachzahlgebühren bei den Schließfächern am Mannheimer Hauptbahnhof liegt übrigens bei 90 Euro Nachzahlgebühr. Welche Geschichten sich da wohl hinter verbergen?
Da Freitag ist, habe ich mich für die Erste Klasse entschieden, um den Kontakt zur kämpfenden Truppe auf ein Minimum zu reduzieren. Reine Notwehr. Autoren, die sich in ihren Werken mit der Eisenbahn beschäftigt haben, wie Tim Parks oder Peter Bichsel, schwören auf die 2. Klasse, weil es da angeblich mehr zu beobachten gibt. Ich teile diese Auffassung nur bedingt, denn dank Bonusmeilen und Sparpreisen entbehrt die 1. Klasse längst jeglicher Exklusivität. Sie ist nur etwas weniger voll. Ich brauche die Nähe zum sog. „einfachen Volk“ nicht unbedingt im Zugabteil. Zudem beflügelt die Fahrtzeit von knapp dreieinhalb Stunden den Wunsch nach etwas mehr Komfort. So man denn von solchem sprechen kann: Der SE kommt weitgehend ohne aus, ohne Speisewagen, ohne Kaffeeküch‘, ohne Minibar, ohne Tischchen, ohne Fußkussservice. Immerhin hat man sich inzwischen dazu durchringen können, den Umgangston geringfügig freundlicher zu gestalten. Nachdem ich mich mit meinem Gepäck durch die Tür zur 1. Klasse gezwängt habe, was nicht ungefährlich ist, pflegen diese doch zuzuschnappen wie Alligatoren, lasse ich mich auf einem blassblauen, leidlich bequemen Sitz nieder. In eine Art Naturholz hat man mittels einer Art innovativer Laubsägearbeit eine Art Flaschenhalter eingelassen, der allerdings verschwindet, wenn man die Armlehne herunterkippt.
Schon in Mannheim ist das Luxemburger Ehepaar eingestiegen. Er passiert zügig das Raucherabteil, das aus einem Glaskasten mit vier Sitzen besteht und mich an den gläsernen Pranger am Flughafen in Salt Lake City erinnert, wo armselige Raucher den spöttischen Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben werden, mit freundlicher Unterstützung von Reynolds Tobacco. Seine Frau folgt ihm nur bis zur Schiebetür desselben und biegt dann ab. Er schaut reichlich verdutzt und dreht sich dann zu ihr um und nickt ihr dann zu: „Ah, do kanns do fümme!“ Sie setzt sich hin und fümmt sogleich. Soeben bestätigt sich, was ich jüngst in einem SAT-1-Bericht über die Letzebuerger erfahren durfte: „An ihrer Muttersprache halten die Einheimischen fest.“
Im Ludwigshafener Hauptbahnhof hat man das ewig Provisorische kultiviert, nervöses Baustellenambiente, die Anlage ist diffus, die schnörkellosen Geraden sollen wohl so etwas wie einen Orientierungsrahmen bieten, verlieren sich aber eher im – ja, wo genau eigentlich? Um nicht vollends abzuheben, haben sich viele Menschen hier ein ordentliches Polster angefressen. Auch möglich, dass die Amerikaner in paarundfünfzig Jahren Besatzung ihr Schönheitsideal am Markt durchgesetzt haben. Draußen ein Bunker. Dann Kastenbauten. Ludwigshafen ist die Vollendung der Gradlinigkeit. Mehr Kästen, mehr Bunker. Wer die Stadt kennt, weiß, dass sie damals Letztere dringend benötigt hat. Nur: Warum flattern nach dem Abzug der GIs noch so viele „Stars & Stripes“ in den Schrebergärten?
Der Zugbegleiter krempelt sich zunächst gewissenhaft die Ärmel hoch und verspricht: „Isch kumm nochher nomma!“ Was sich als leere Drohung erweist. „Ich muss ...“, sagt er noch – und verstummt. Ein Beamter des Bundesgrenzschutzes entert das Abteil, incl. Reizgas am Gürtel. Wieso dürfen die eigentlich immer 1. Klasse reisen, erwarten den Reisenden dort besondere Fährnisse, in Mundenheim womöglich? Grautöne, wieder Bunker, Graffiti, das Ruhrgebiet im 1:1-Nachbau, und zwar schäbbich, wie man dort sagt. Nach einer solchen Prüfung kommt einem alles andere als Idylle vor. In Rheingönheim wirbt ein Plakat: „One Night For The Blues“. Mit einer Nacht werden sie wohl nicht auskommen. Limburgerhof grüßt per Graffito: „He mein Babe, gib mir noch eine Chance, ich liebe dich.“ Wer mit Babe gemeint ist, ob Svenja, Sven oder vielleicht Florian Gerster, entbirgt sich leider nicht. Das Elend setzt sich fort, so dass einem der Golfplatz vor Schifferstadt fast schon zynisch vorkommt.
Der Bahnmann läuft unmotiviert die Gänge auf und ab, als müsste er sich sein Revier gehend erschließen. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass die anderen Züge so sehr anders gestaltet sind. Noch mehr Grenzschutz. Muss ich Angst haben? Wovor? „Hier spricht der Zugführer. Sollte ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG im Zug sein, bitte beim Zugführer melden. Besten Dank!“ Die Luxemburger Lady fümmt ungerührt weiter. Wenn der Zugführer noch Zeit findet, seinen Dank auszudrücken, kann es so schlimm nicht sein, versuche ich mich zu trösten. Mittlerweile guckt er ungelogen circa alle 17 Sekunden auf seine Uhr, ich habe ihn im Blick, da ich im ersten Wagen vorne sitze. Immerhin scheint er redselig, spricht jedenfalls unablässig mit sich selbst.
Gerne würde ich nun hinter das Geheimnis kommen, warum sich acht Gleise auf den Bahnhof Schifferstadt zu bewegen, während die 700.000 Einwohner zählende Stadt Valencia mit deren sechs auskommt? Allerdings bin ich mal von einer Lesung nach 23 Uhr in die