Liebe auf den zweiten Blick. Doris LottЧитать онлайн книгу.
den Mund aufmachte, obwohl ich vorher so aufgeregt war, dass ich die roten Flecken an meinen Beinen unter einer schwarzen Strumpfhose verbergen musste.
Nicht vergesen will ich das Stadtinszenierungsprojekt in der Südstadt „Le Città invisibile“ an ungewöhnlichen Orten, wie zum Beispiel dem Automuseum in der Werderstraße. Ich dachte mir in meiner alten Isetta spannende Mafia-Geschichten aus, flocht italienische Schlager ein und immer mehr Menschen blieben stehen und ließen sich mitreißen.
Im alltäglichen Leben Lösungen zu suchen, nicht aufzugeben, neue Ziele zu setzen – dafür habe ich in meiner buddhistischen Praxis und Philosophie eine wunderbare Basis.
Einer meiner Lieblingssätze ist z. B. danach zu streben, Meister seines Herzens zu werden und sich nicht von seinem Herzen „meistern“ zu lassen.
Was für ein Geschenk, dass mir mit 6o Jahren nochmals ein Neuanfang angeboten wurde! Ich habe meine Karlsruher Wohnung zum Teil an Holger aus dem Bioladen am Werderplatz vermietet. Ich werde sie nicht aufgeben, denn ich will zurück in die mir so lieb gewordene Südstadt. Zu meinem inzwischen „geliebten“ Karlsruhe gehören natürlich besonders meine Freunde und das buddhistische Netzwerk mit vielen einzigartigen Menschen, die sich wie ich für den Frieden einsetzen.
Übrigens, auch der Blick aus meinem Küchenfenster in den Hof in der Schützenstraße gehört zu meinem Heimatgefühl. Und der Karlsruher Himmel. Ich fühle mich geborgen in dieser Stadt. Schon jetzt habe ich Heimweh nach meiner Südstadt, wenn ich in der Schweiz bin.
„St. Gallen“, hat mir eine Freundin erklärt, „das ist nur ein dreijähriger Ausflug für dich.“ Das tröstet mich. In Karlsruhe möchte ich nämlich lieber alt werden!
„True love“
Günther und Georg
Im Theaterfoyer strömt mir eine heiter gestimmte Menschenmenge entgegen, festlich gekleidet und in anregendem Gespräch vertieft. Händel-Festspiele 2016. Die Frau an der Garderobe im Kleinen Haus klärt mich auf: „Teseo“, sagt sie und lächelt. „Die sind alle ganz begeistert.“
Ich bin auf dem Weg zu einem französischen Gastspiel und gönne mir noch vor der Vorstellung ein Gläschen Sekt. Plötzlich steht Georg neben mir. Er sieht erschöpft aus.
„Wo ist Ihr Freund?“, frage ich und habe das Gefühl, dass irgendetwas anders ist als sonst.
Georg und Günther sind ein theaterbegeistertes Paar. Keine Premiere im Kleinen oder Großen Haus, ohne die beiden Freunde. Wo der eine ist, findet man auch den anderen.
„Was ist passiert?“
„Mein Freund ist am 11. November verstorben“, sagt Georg. „Ich wollte noch so viel für ihn tun. Er wünschte sich z. B., dass das Schränkchen, in dem er viele kleine Dinge seit seiner Kindheit aufbewahrte, aus dem Keller wieder in die Wohnung zurückkommt. Ich hätte es ihm hochtragen sollen. Und dann seine Autogrammsammlung, auf die er so stolz war, die auch noch im Keller lagert. Hätte ich ihm die kleinen Wünsche nicht noch erfüllen können?“
„Jeder Tod hinterlässt Vorwürfe“, sage ich.
Hat Georg nicht alles getan, was man für einen Freund, mit dem man 31 Jahre lang zusammengelebt hat, tun kann?
Mir fällt die erste Begegnung mit seinem Partner Günther ein, als ich in der Markgrafenschule vor einer Klasse mit Ausländerkindern aus meinem Buch „Anton, der Eisbär“ vorlas. Günther J. wie er geschrieben werden wollte (mit „J“ für seinen Opa Johann), betreute die Kinder und wir alle ließen uns begeistern von dem kleinen Anton aus dem Karlsruher Stadtgarten. Wie gut der Lehrer doch mit seinen Schülern umging.
Seit dieser ersten, näheren Begegnung wechselten wir manchmal, wenn wir uns im Theater trafen, ein paar Worte miteinander. Günther sparte nicht mit Kritik, aber manchmal war auch seine Begeisterung für die Aufführung einer Oper, eines Balletts oder Schauspiels mitreißend. Georg, der junge Freund, hielt sich bei solchen Gesprächen meist zurück, auch dann, wenn die beiden umringt waren von ihren Freunden.
„Manchmal musste ich ihm aber auch widersprechen, ganz einfach, um ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen“, schmunzelt Georg.
Oft ergab sich daraus ein munteres Hin und Her, was dann für alle Zuhörer eine riesen Gaudi war.
„Der Günther wollte immer das letzte Wort haben. Der konnte reden ohne Ende, und er war ja auch gescheit und gebildet, hat in Heidelberg und Wien an der Universität studiert, u. a. bei dem Mediavistik-Papst Wapnewski, und konnte stundenlang über das mittelhochdeutsche Nibelungenlied sprechen und daraus auch rezitieren.
Für mich war er ein Sprachgenie mit seinem „Queens Englisch“, wie er das nannte, denn er hat längere Zeit in London gelebt und dort auch am Opernhaus „Covent Garden“ hospitiert. Er sprach gut Französisch und dank seiner Lateinkenntnisse ganz passabel Italienisch. Ja, die Italiener, die standen seinem Herzen ganz nahe. Italien über alles. Sogar die Eier waren dort besser als in Deutschland, nicht nur die Tenöre und die großen Sängerinnen. Wir haben sie fast alle in Natura gehört. Aber die Griechin Maria Callas, die Callas, war seine große Liebe, er bewunderte sie unendlich. Er war darin einem Freund aus Heidelberger Tagen, dem vor einigen Jahren verstorbenen Filmemacher Werner Schroeter, eng verbunden.
Die Italiener mochten ihn, wenn er mit seinem Veroneser Akzent ihr Loblied sang. „Mio passoporto e tedesco, ma mio cuore e italiano!“
„Mein Pass ist deutsch, aber mein Herz ist italienisch!“, pflegte er dann voller Begeisterung zu sagen, wenn wir in der Mailänder Scala oder bei den Festspielen in Verona waren.
Der Günther war ein richtiger ‚Menschenfischer‘. Wenn er jemanden mochte, hat er ihn sich gleich einverleibt und wo Günther auftauchte, eroberte er die Herzen der Menschen. Meistens suchte er um jeden Preis den Kontakt mit den Künstlern und wollte unbedingt einen Blick hinter die Kulissen werfen.
„Das war ziemlich anstrengend für mich, auch schon vor vielen Jahren, als er zeitweise mit dem grauen Star zu kämpfen hatte. Ich musste ihn damals auf jede auch noch so kleine Unebenheit aufmerksam machen und reichte ihm den Arm. Später, nach einer nicht ganz erfolgreich verlaufenen Hüftgelenksoperation, musste er am Stock gehen. Da ging schon nicht mehr alles von alleine. Als der Stock nicht mehr ausreichte, ging Günther, der immer Schmerzen hatte, am Rollator und das ganz langsam. Darauf folgte der Rollstuhl, den er selbst praktisch nicht bewegen konnte, da er die Kraft nicht mehr dazu hatte. Ich schob ihn darin überall hin. Zu den Ärzten, auch in unseren heiß geliebten zoologischen Stadtgarten und natürlich ins Theater. Endlich konnte ich das Tempo wieder einmal bestimmen! Deshalb schaffte ich auch eine Klingel an, um die trödelnden Leute zu verscheuchen, die so einem Rollstuhl ja immer im Wege sind.
Als es schlimmer wurde mit der nachlassenden Gesundheit und ich am Rande meiner Kräfte war, begann der Marathon durch die Karlsruher Heime. Zunächst mehrmals auf der Suche nach einem Kurzzeitpflegeplatz. Und nach einem langen Krankenhausaufenthalt ging es nicht mehr zu Hause. Zunächst im ‚Haus Karlsruher Weg‘ und dann, nur wenige Minuten von unserer Wohnung entfernt, im ‚Friedensheim‘, wurde er liebevoll aufgenommen. Das war auch nicht leicht. Jeden Abend besuchte ich ihn dort. Am Wochenende holte ich ihn zum Kaffeetrinken und Abendessen nach Hause. Und wenn die anderen Heimbewohner für die Nacht fertig gemacht wurden, dann fuhr ich mit Günther ins Theater. Von der Stadt gab es zum Glück freie Taxifahrten. Für die vielen Transporte vom ‚Karlsruher Weg‘ ins Theater waren uns Herr Ayanoglu und seine Mitarbeiter eine sehr zuverlässige und vertrauensvolle Hilfe. Um dem Heimpersonal etwas behilflich sein zu können, lernte ich, Günther vom Rollstuhl ins Bett zu bringen.“
Der etwas zurückhaltende, zwanzig Jahre jüngere Georg, der nicht so gerne im Mittelpunkt stand und dem es peinlich war, wenn sein Freund, als er noch gesund war, im Theater mit erhobenem Haupt und selbstbewusst einen der Plätze in den vorderen Reihen einnahm, lernte für seinen Freund zu kämpfen.
„Der Günther stand gern im Mittelpunkt. Damals, als er im Theater immer nach vorn ging, ließ ich mich auch mitziehen. Eines Tages gab’s dann mal einen Brief vom Verwaltungsdirektor, der uns darüber aufklärte, dass nur die gekauften