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Frühlingsfahrt. Johannes HuckeЧитать онлайн книгу.

Frühlingsfahrt - Johannes Hucke


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und niemals, wenn nur Nikolaus zugegen war. Annedore nötigte Nikolaus, Platz zu nehmen. Erwartungsvoll kam er der Aufforderung nach. Erwartungsvoll? Wahrhaftig! Nikolaus wartete immer noch. Seit vierzehn Jahren war er der Auffassung, Annedore würde doch einmal erkennen, dass er der Richtige für sie sei – auch wenn während dieser knapp anderthalb Jahrzehnte wenig, nein, so gut wie nichts davon zu spüren gewesen war. Sie setzte sich ihm gegenüber und begann zu sprechen. Auch das war selten: Annedore begann selten Gespräche. Wenigstens nicht mit Nikolaus – es sei denn, es handelte sich um Dienstleistungen wie Renovierungsaufträge, Fahrten zum Baumarkt oder den täglichen Transportservice für Valentin, den dreizehnjährigen Sohn.

      „Du hast’s uns aber hübsch gemacht“, begann Nikolaus in seiner schüchternen Weise; aufgrund verschiedentlicher herber Erfahrungen traute er sich nicht einmal mehr, Komplimente auszusprechen.

      „Hör mal zu“, schnitt ihm Annedore das Wort ab und goss sich einen Schafgarbentee ein. „Ich wollt dir was sagen.“

      „Da bin ich aber gespannt.“

      Ein knapper, gewohnt sauertöpfischer Blick traf ihn. Dennoch, wie gesagt, er hoffte noch. Wie ungeschickt von ihm ...

      „Ich hab heut auf dem Markt mein’ schpirituelle Lebenspartner kenneg’lernt.“

      Eigentlich sagte sie „Lääbnspattna“, denn kaum dass die Ehe seinerzeit geschlossen worden war, verfiel sie dauerhaft in das Idiom der Gegend, wo sie aufgewachsen war: Oberschwaben. Vorher, in der Zeit des Kennenlernens, hatte Annedore nur hochdeutsch gesprochen; zumindest vermeinte sich Nikolaus daran erinnern zu können, wie fein und bedacht diese Stimme geklungen hatte, niemals plump oder motzig oder gar aggressiv. Das hatte sich dann rasch geändert. Nun aber saß er ihr gegenüber und lächelte. Hatte er nicht richtig zugehört? Beinahe. Nach wie vor in der trügerischen Überzeugung befangen, nur ihm allein stehe die Etikettierung „Lebenspartner“ zu, hatte er das hingeschnodderte „auf dem Markt“ („auf’m Maekt“) schlicht überhört. Erst als Annedore präzisierte „Er heißt Ramon“, begann Nikolaus zu begreifen.

      Nun verhielt es sich ja so, dass Nikolaus’ Gattin seit langem gewissen mysteriösen Tätigkeiten oblag, die man gemeinhin der Sphäre der Esoterik zurechnet. Nikolaus konnte mit solchen Dingen nichts anfangen, sah jedoch keinerlei Gefahr darin. In seiner Betrachtungsweise war Annedores Schwärmerei für alles Indische, aber auch Indianische, bald Ostasiatische, bald Zentralafrikanische ein Hobby wie Turmspringen oder Rollhockey. Sicher, es füllte sich das gemeinsame Häuschen nach und nach mit allerlei Zierrat, dem er selbst wenig abgewinnen mochte – überall schummerten Salzlampen, blinkten Energiesteine, baumelten Traumfänger, worin er sich meistens verfing, von der Decke herab – , doch hatte er ohnehin nach wenigen Wochen des Zusammenlebens registriert, dass er sich auf dem Gebiete der Inneneinrichtung wohl komplett werde anpassen müssen.

      Hatte Annedore (zu Nikolaus’ Befremden) schon kurz nach der Hochzeit ihr soziales Leben weitgehend eingestellt, den Kontakt zu all den Freundinnen und vor allem Freunden, die sie noch zu WG-Zeiten in großer Zahl besucht hatten, abgebrochen, so begann sie nach und nach, immer mehr „Seminare“ mit schwer ergründlicher Thematik zu besuchen. „Sei dir selbst eine Insel“, so lautete der Titel jener ersten Wochenendveranstaltung, von der Annedore sogar ein wenig erzählte. Danach erzählte sie nichts mehr.

      „Was meinst du denn?“, fragte Nikolaus leise. Und Annedore rollte die Augen. Seine Begriffsstutzigkeit war für sie schon immer Anlass für Spott und Zurückweisungen gewesen. Gemäß einer verachtungsvollen Gewohnheit rollte sie also ihre Augen, zog die Stirne kraus und erläuterte unmissverständlich, dass sie sich scheiden lassen wolle, übrigens so schnell als möglich. Ein gemeinsames Leben, es sei ja ohnehin recht fade gewesen, komme für sie nicht länger in Frage. Sohn Valentin bleibe selbstverständlich bei ihr. Der Kontakt zum Erzeuger (damit meinte sie Nikolaus) werde selbstredend fair geregelt, sie denke an eine Zweidrittel-Eindrittel-Aufteilung. Schon morgen solle sich Nikolaus auf Suche nach einer geeigneten Wohnung für ihn selbst begeben, bitteschön weit genug entfernt, aber nicht zu weit, der Kindsbetreuung wegen, die gerade auch nachts zu erfolgen habe. Die monatlich zu entrichtende Unterstützungssumme belaufe sich auf 664,42 Euro; sie habe sich erlaubt, den Betrag schon einmal zu berechnen.

      Nikolaus glotzte von einer Kerzenflamme zur anderen, räusperte sich mehrmals und brachte nur ein piepsendes „Aber warum denn?“ heraus.

      Annedore war sein Schicksal ... wenngleich in ganz anderer Hinsicht als er sich dies einst ausgemalt hatte. Durch eine Kommilitonin hatte er sie kennengelernt. Annedore machte damals in zweiter Ausbildung eine Lehre als medizinisch-technische Assistentin. Schon ihr Äußeres erschien ihm über alle Maßen auffällig und liebenswert: ihre langen, hellbraunen Haare, die grazile Gestalt, das feingeschnittene Gesicht – und dann dieses Lächeln! Jenes allen irdischen Gram vergessen machende Lächeln ... Was Nikolaus aber am meisten wunderte, war Annedores Freundlichkeit. Wie konnte das zusammengehen: Solche Schönheit und solch bescheidenes, empfindsames, teilnahmsvolles Benehmen? Nikolaus war ganz verstört, als er sie zum ersten Mal persönlich sprach; eine derartige Sanftheit und Würde und Gewandtheit war ihm nie zuvor untergekommen – mehr noch, er hätte glatt geleugnet, dass dergleichen überhaupt irgendwo existieren könne! Ausgestattet mit eher wenig Selbstbewusstsein, erlebte er Annedores Aufgeschlossenheit, ihr Interesse an seinen Gedanken und Hoffnungen, als beständige Ermunterung. Jana gegenüber, der Vertrauten seines Herzens, einer Kameradin aus frühesten Kindertagen, eröffnete er alsbald seine Absicht, Annedore für sich zu gewinnen. Gelegentlich einer Geburtstagsfeier stellte er die beiden einander vor – und Jana riet dem Seelenfreund zu. Ja, diese zarte Annedore, die musste die Richtige für ihn sein, eigens geschaffen, um Nikolaus glücklich zu machen!

      Zu seiner größten Überraschung schien Annedore einer Verbindung nicht abgeneigt. Es keimte zunächst wohl nicht die allergrößte Leidenschaft in ihr, doch bezeigte sie stete Zuneigung, ging bereitwillig auf allerlei Vorschläge ein, verabredete sich gern mit ihm. Man schlenderte durch Heidelbergs Wälder, es war ein beständiges Lächeln und Erzählen und Herumschäkern.

      Mit dem ersten Kuss freilich begann eine Verfinsterung, die kein Außenstehender hätte erwarten können, Nikolaus am allerwenigsten. Es stellte sich heraus, dass Annedores sprichwörtliche Sanftheit immer nur für diejenigen reserviert blieb, die sie flüchtig kannte, die Nachbarn, die Bekannten, die Geschäftskollegen, die Liebhaber, aber auch für Passanten, die nach dem Weg fragten, für Kinder oder auch für Kunden des Ausbildungslabors, wo sie bald eine Festanstellung fand. Nie aber, unter keinen Umständen schenkte Annedore ein wenig von ihrer Huld denjenigen, die sie als zu ihr gehörig empfand, als Familie. „Hausteufel und Straßenengel“, dieser alte Spruch von tiefer systemischer Weisheit, traf derart vollständig auf Nikolaus’ Erwählte zu, dass man hätte meinen können, es handle sich um eine private Parodie.

      Zunächst reagierte Nikolaus mit Bitten und Flehen, sodann mit Tränen und Zornesausbrüchen. Annedore blickte vorwurfsvoll, denn sie war schwanger und schalt Nikolaus ob seiner Selbstverliebtheit. Das war natürlich etwas ganz anderes! Der junge Mann entschuldigte sich tagelang, so etwas habe er ja nicht ahnen können, was da vorging ... und versprach, Annedore fürderhin in allem beizustehen, was sie von ihm verlangte. – Je mehr die beiden eine Hausgemeinschaft bildeten, in Erwartung eines dritten Mitbewohners, desto klarer trat ein weiterer Wesenszug Annedores hervor, welcher für den werdenden Vater eine Serie zusätzlicher Zurücksetzungen bedeutete. In keinem einzigen Fall zeigte sich Annedore kompromissbereit: Das Häuschen wurde nach ihren Vorstellungen eingerichtet, der Tageslauf hatte ihren Vorlieben zu entsprechen. Dabei bewies sie einen Nikolaus fremden Sinn für Reinlichkeit, besser: für Sterilität, der Nikolaus so seltsam vorkam, dass er all das Gewische und Gesauge für eine vorübergehende Manie hielt. Er selbst durfte weder saugen noch wischen; er machte es nicht gut genug. Als einmal beim Duschen zwei Wassertropfen auf die Waschmaschine hinübergespritzt waren, kam Annedore herbeigestürzt, rollte die Augen und wischte die Tröpfchen seufzend weg. Nikolaus wollte lachen – Wassertropfen im Bad, das musste doch erlaubt sein! Wie sehr er sich täuschen sollte.

      Man hätte nun erwarten können, dass sich eine gewisse Zufriedenheit bei Annedore einstellte, da doch alles, was geschah, vollständig nach ihrem Willen verlief. Weit gefehlt: Kaum waren sie eingezogen in das antiseptisch funkelnde


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